Das letzte Tabu
In der deutschen Öffentlichkeit wird über die Beteiligung der Bundeswehr an UNIFIL, der "Friedenstruppe" für den Libanon, gestritten. Während die Regierungsparteien die vorerst letzte Grenze für militärische Auslandseinsätze überschreiten wollen, warnt die parlamentarische Opposition vor den Risiken der Operation, auch dem politisch-moralischen Schaden durch den möglichen Einsatz militärischer Gewalt deutscher Soldaten gegen Israelis. Diese Warnung ist berechtigt, aber nur ein Aspekt der Debatte. Denn unabhängig von der Frage der deutschen Beteiligung könnte die Libanon-Mission auf Dauer mehr schaden als nutzen.
Grundlage des Einsatzes ist die vom UN-Sicherheitsrat (UNSR) am 11. August 2006 beschlossene Resolution 1701. Der in scheinbar ausgewogener Diplomatensprache gehaltene Text ist alles andere als nichtssagend. So folgt etwa in der Einleitung direkt anschließend an die unzweifelhaft richtige Feststellung, "dass die Gewalt beendet werden muss", die Formulierung, "dass die Ursachen der gegenwärtigen Krise dringend angegangen werden müssen, namentlich durch die bedingungslose Freilassung der entführten israelischen Soldaten". Die Entführung der israelischen Soldaten durch die Hisbollah war allenfalls der Auslöser des beschönigend "Krise" genannten israelischen Angriffskrieges; KritikerInnen dieses Krieges sprechen mit einigem Recht von einem Vorwand. Auf die richtige Forderung nach "bedingungsloser Freilassung der entführten israelischen Soldaten" folgt der dehnbare und zu nichts verpflichtende Appell, "umgehend die Frage der in Israel inhaftierten libanesischen Gefangenen zu regeln".
Ähnlich unausgewogen fordert der UNSR "die vollständige Einstellung der Feindseligkeiten, insbesondere auf der Grundlage der sofortigen Einstellung aller Angriffe durch die Hisbollah und der sofortigen Einstellung aller offensiven (Hervorhebung ak) Militäroperationen durch Israel." Wie wir aus den einschlägigen Rechtfertigungsreden wissen, betrachten israelische Regierungspolitiker und Militärs den gesamten Feldzug als legitimen Verteidigungskrieg, nicht als "offensive Militäroperation". Auf dieser Grundlage dürften "eine ständige Waffenruhe und eine langfristige Lösung" kaum möglich sein, zumal der UNSR nach dem Ende der Kampfhandlungen schnellstmöglich zur Tagesordnung übergehen will. Zur Beseitigung der Kriegsschäden fordert er die "internationale Gemeinschaft" auf, "finanzielle und humanitäre Hilfe zu gewähren" - Israel, der Verursacher des allergrößten Teils der Schäden (die sich im Libanon nach Schätzungen der Regierung auf 3,6 Mrd. US-Dollar belaufen) wird lediglich aufgefordert, der UNO "Karten der im Libanon verlegten Landminen" zur Verfügung zu stellen.
Die UNSR-Resolution ist leider auch da, wo es um konkrete Maßnahmen geht, zweideutig und unausgewogen. Die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone im Südlibanon, bis zum Litani-Fluss, ist zwar begrüßenswert; aber schon der vorgesehene Ablauf dürfte zu neuen Feindseligkeiten führen, denn die UNIFIL-Truppen sollen an die Stelle der gleichzeitig abziehenden israelischen Truppen treten - dass sie von der Bevölkerung als neue Besatzungsmacht wahrgenommen werden, ist mehr als wahrscheinlich. Dabei sollen die bis zu 15.000 Blauhelme schier Unmögliches leisten, nämlich
- "die Einstellung der Feindseligkeiten überwachen", was ja nur heißen kann, weitergehende "Feindseligkeiten" notfalls mit Waffengewalt zu beenden;
- "die libanesischen Streitkräfte unterstützen", und das auch während des Abzugs der israelischen Streitkräfte; bei etwaigen Zusammenstöße der beiden Armeen würden die Blauhelme fast zwangsläufig zwischen die Fronten geraten;
- "den Zugang humanitärer Helfer zur Zivilbevölkerung und die freiwillige und sichere Rückkehr der Vertriebenen sicherstellen"; werden solche "Helfer" als vermeintliche Besatzer entführt oder beschossen, müssten die Blauhelme mit Waffengewalt eingreifen;
- diese Interpretation wird an anderer Stelle ausdrücklich bestätigt; dort geht es um den Schutz von "Zivilpersonen, die unmittelbar von körperlicher Gewalt bedroht sind".
So viel zu dem ziemlich umfangreichen Aufgabenkatalog der "Friedenstruppe", der aber auch noch ausgeweitet werden kann. Denn der UNSR "bekundet seine Absicht, in einer späteren Resolution zusätzliche Erweiterungen des Mandats und andere Schritte zu prüfen, um zur Verwirklichung einer ständigen Waffenruhe und einer langfristigen Lösung beizutragen." Dann würde ggf. auf das "robuste Mandat" ein noch etwas robusteres folgen.
Dass die zynische Wortschöpfung reibungslos in den medialen Sprachgebrauch eingegangen ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf das politische Klima: "Robustes Mandat", dass klingt nach beherztem Dazwischenhauen und Ordnungschaffen - gemeint ist der Einsatz tödlicher Waffen. Natürlich wissen die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien sehr wohl, was auf die Truppe im Libanon zukommen kann. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck will denn auch deutsche Soldaten nicht als "zahnlose Tiger" in die Krisenregion schicken, Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) spricht sogar offen von einem "Kampfeinsatz" und verlangt ein klares Wort: "Wir müssen klipp und klar sagen, dass das sehr ernst werden kann." Während Beck nichts dagegen hätte, die Bundespolizei an die syrisch-libanesische Grenze zu schicken, will sich die Kanzlerin auf eine "seeseitige Schutzkomponente" beschränken: Die Bundesmarine soll vor der Küste des Libanon den Waffenschmuggel unterbinden. Was sich wie ein klar definierter Auftrag anhört, ist in Wirklichkeit ziemlich brisant und kann in der Tat zum Kampfeinsatz werden: dann nämlich, wenn sich deutsche Soldaten gegen den Willen des Kapitäns Zugang zu einem mutmaßlichen Waffentransporter verschaffen. Auch bleibt offen, woran ein solcher denn zu erkennen ist. Die bekannte deutsche Gründlichkeit dürfte dazu führen, dass die derzeitige israelische Seeblockade demnächst in gleichem Umfang von der Bundesmarine aufrecht erhalten wird.
Die Militärstrategen der FAZ müssen sich um derlei Einwände nicht weiter kümmern; sie haben das große Ganze im Blick - Deutschlands "nationales Interesse", und so wird denn im Zentralorgan der Bourgeoisie die deutsche Beteiligung an der Libanon-Mission gefeiert als "ein weiterer, sogar ein großer Schritt auf dem Wege der Emanzipation von selbstauferlegten Beschränkungen des außenpolitischen Handelns". (FAZ, 15.8.06) Dass Linke und AntimilitaristInnen von derlei "Emanzipation" nichts halten, versteht sich von selbst. Dagegen wären angesichts der deutschen Geschichte "selbstauferlegte Beschränkungen" gerade geboten. Nach 1945 sah das auch die Mehrheit der Deutschen so. Dass gegen deren Willen die "Wiederbewaffnung" durchgesetzt wurde, ist eine jener vollendeten Tatsachen, mit denen wir uns auch als verschwindende Minderheit nicht abfinden sollten. Auf die "Wiederbewaffnung" folgt dann eben die "Wiederentwaffnung". (vgl. ak 493 und 495) Diese Forderung wird nicht dadurch falsch, dass sie auf absehbare Zeit nicht durchsetzbar erscheint.
Gleichwohl ist die Frage berechtigt, ob die UNIFIL-Truppe nicht doch zur Deeskalation beitragen kann. Das ist durchaus möglich, zumindest vorübergehend. Natürlich ist zu wünschen, dass der Waffenstillstand hält, aber ein Waffenstillstand kann die sich überlagernden Konflikte in der Region nicht lösen. So bleibt die Frontstellung der USA und Israels gegen den Iran und Syrien, Kriegsdrohungen eingeschlossen. Es bleibt auch die Hisbollah, die zwar militärisch geschwächt ist, aber von ihrem Nimbus als opferbereite "Verteidigerin des Libanon" auch bei bislang moderaten Kräften politisch profitiert hat. Und es bleibt der israelisch-palästinensische Konflikt, nach wie vor die zentrale Frage in der Region.
Der Israel-Palästina-Konflikt bleibt die zentrale Frage
Sie zu lösen, hieße den Islamisten, die Israels Vernichtung anstreben, eine vielleicht entscheidende Waffe aus der Hand nehmen. Die Zwei-Staaten-Lösung, sagt Moshe Zuckermann, wäre "ein gewaltiger Schritt in Richtung Befriedung der Region. Endlich würden sich ganz andere Probleme stellen. Israel wäre dann zumindest nicht mehr instrumentalisierbarer Anlass für Kriege und Gewalteskalationen. In einigen arabischen Ländern wäre es sehr viel schwieriger, sich immer wieder auf Kosten der Palästinenser und ihrer Probleme Israel vorzuknöpfen, damit die Regimes soziale Spannungen abbauen können, indem Israel zum Sündenbock abgestempelt wird." (1)
Die von beiden Konfliktparteien zu erfüllenden Bedingungen liegen seit Jahren auf dem Tisch. Die PalästinenserInnen müssen das Existenzrecht Israels anerkennen, bewaffnete Aktionen gegen dessen Bevölkerung einstellen und, zumindest mittelfristig, ein Bewusstsein für die jüdische Leidensgeschichte entwickeln. Die jüdischen Israelis müssen das den PalästinenserInnen mit der Staatsgründung Israels zugefügte Unrecht anerkennen, ihnen einen eigenen Staat zugestehen, die Besatzungstruppen zurückziehen, Siedlungen abbauen und ein Rückkehrrecht palästinensischer Flüchtlinge zumindest im Prinzip anerkennen. Jerusalem wäre die Hauptstadt beider Staaten, deren gemeinsame Grenzen durchlässig sein müssen.
Atempause vor dem nächsten Präventivkrieg
All das sind für große Teile der jüdisch-israelischen wie der palästinensischen Bevölkerung erhebliche Zumutungen. Die Mitglieder der israelisch-palästinensischen "Genfer Initiative", die sich im Dezember 2003 auf ein entsprechendes Konsenspapier einigten, werden in der eigenen Community als "Verräter" gebrandmarkt. Noch scheint es so zu sein, dass es auf beiden Seiten keine Mehrheit für diese Initiative gibt. (vgl. Freitag, 25.8.06) Der Aufmarsch von UN-Truppen wird die Bereitschaft zu Zugeständnissen auf palästinensischer Seite eher noch verringern. Denn diese Truppen werden dort als Schutzmacht Israels wahrgenommen. Natürlich gilt das auch für deutsche Soldaten, insbesondere nachdem der israelische Ministerpräsidenten Ehud Olmert diese als "Teil der Truppe, die Israel verteidigt", ausdrücklich willkommen geheißen hatte.
So wie Israel den Libanon-Krieg allem Anschein nach lange geplant hatte, liegen auch in Washington die Pläne für einen weiteren präventiven "Verteidigungskrieg" bereit - gegen den Iran. Glaubt man dem US-amerikanischen Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh, dann haben diese Ambitionen durch die unerwartete militärische Stärke der Hisbollah einen Dämpfer erhalten - allerdings nur vorübergehend. Nach Ansicht hoher US-Militärs, die Hersh zitiert, würden Rumsfeld und Cheney, "wenn sich der Rauch verzogen hat, ... von einem Erfolg sprechen und ihr Vorhaben forcieren, den Iran anzugreifen." (The New Yorker, 21.8.06; deutsch in Freitag, 25.8.06) Dass die Atempause von der internationalen Diplomatie zum Krisenmanagement genutzt wird, ist leider unwahrscheinlich.
Js.
Anmerkung:
1) Interview auf www.telepolis.de/r4/artikel/23/23402/1.html