Tödliche Kluft zwischen Realität und Rhetorik
Die G8, Pharmapatente und der Kampf gegen AIDS
Wenn sich im nächsten Jahr die Regierungschefs der G8 an der Ostseeküste treffen, wird nach aktuellen Planungen der gastgebenden Bundesregierung neben den harten Politikthemen Sicherheit, Terrorismus und Wirtschaftsentwicklung auch die AIDS-Epidemie auf der Tagesordnung stehen. "Soft issues", also eher sozial- und gesundheitspolitische Themen, sind seit einiger Zeit bei den G8-Gipfeln in Mode gekommen. Angesichts der zunehmenden Kritik an der sozialen Unverantwortlichkeit einer neoliberal ausgerichteten Weltpolitik will die G8 so eine gewisse Verantwortlichkeit für die Schattenseiten der allseits gepriesenen Globalisierung zur Schau stellen.
Die Immunschwäche AIDS ist - je nachdem, ob es Zugang zu Behandlung gibt oder nicht - für die einen eine behandelbare, für die anderen eine fatale Infektionskrankheit mit globaler Bedeutung. Kein Wunder also, dass das Thema AIDS-Behandlung inzwischen zu einem Terrain der Auseinandersetzung geworden ist zwischen einer neoliberal ausgerichteten Verteidigung der privaten Aneignung und Monopolisierung von Wissen mittels eines möglichst umfassend geltenden Patentschutzes und einer Politik, die zumindest einen Kernbestand des öffentlichen Interesses und öffentlicher Zuständigkeiten bei der Sicherung des Zugangs zu existenziellen Diensten wie Bildung und Gesundheitsversorgung anerkennt. Im Zentrum steht dabei der lebensrettende Charakter jener für eine antiretrovirale Therapie benötigten kleinen Pillen, der sie aus dem Reich der Konsumgüter in das der notwendigerweise öffentlichen Güter hebt, will man das "Recht auf Zugang zu Gesundheitsversorgung" nicht vollständig einem konsumorientierten "Gesundheitsmarkt" überlassen, in dem Arme ohne Kaufkraft nur noch auf karitative Hilfe hoffen können.
Das erste Mal standen die drei Infektionskrankheiten AIDS, Tuberkulose und Malaria im Juli 2000 in Okinawa, Japan auf der Agenda eines G8-Gipfels, wobei dem Thema AIDS eine besondere Rolle zukam. Diese Themensetzung erfolgte unter dem Eindruck nicht nur der UN-Millenniumskonferenz, auf der mit den "Millenniums Development Goals" (1) für diese drei Krankheiten explizite Zielvorgaben gemacht worden waren, sondern auch der unmittelbar vorangegangenen 13. Internationalen AIDS-Konferenz in Durban, Südafrika, die das erste Mal den Weg in ein Land des globalen Südens gefunden hatte.
In Durban war der sich schon seit Mitte der 1990er Jahre verstärkende Skandal der teuren Arzneimittel zur Behandlung der Immunschwäche durch die gemeinsame Anstrengung lokaler und internationaler AktivistInnen, NGOs und CampainerInnen mediengerecht eskaliert. Es gelang ihnen, die unnachgiebige Politik der multinationalen Pharmakonzern bei der Verteidigung ihrer patentgeschützten Preispolitik zu skandalisieren, denn die teuren Behandlungsmittel markierten nachdrücklich die Kluft zwischen einer behandelbaren Krankheit für Betroffene in den reichen Ländern und einem sicheren Todesurteil von Erkrankten in den armen.
Gesundheitsversorgung versus Gesundheitsmarkt
Die sonst eher ExpertInnen vorbehaltenen Handelsvereinbarungen im Rahmen der WTO, in deren Rahmen die Industriestaaten ein weltweit harmonisiertes Patentrecht zum Schutz des "Intellektuellen Eigentums" ihrer führenden Industrien durchgesetzt hatten (2), und dessen Aufnahme in diese Verhandlungen besonders von den multinationalen Pharmaunternehmen unterstützt worden war, wurden damit einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Nicht zufällig gewann eine Artikel-Serie über AIDS von Mark Schoof in der New Yorker Village Voice in diesem Jahr den Pulitzerpreis.
Auch die gewissermaßen in letzter Sekunde vor der AIDS-Konferenz noch vom UN-Generalsekretär Kofi Annan vermittelte Vereinbarung der Pharma-Multis, ihre Medikamente zu günstigeren Preisen für Behandlungsprogramme in den Entwicklungsländern zur Verfügung zu stellen, konnte die Welle der Empörung über diese offenkundigen tödlichen Folgen der globalen Handelsabkommen nicht mehr bremsen. Zumal die Angebote produktidentischer Kopien der Markenpräparate (Generika) von indischen Herstellern die freiwilligen Preisnachlässe der Multis für die lebensrettenden Medikamenten deutlich unterboten. Der Preis für die Jahreskosten der Standardkombinationen zur AIDS-Behandlung fiel von über 10.000 US-Dollar (Preise der Multis) auf 300 (Preis indischer Konkurrenten) für staatliche Behandlungsprogramme. Inzwischen sind die Preise durch die Ausweitung der Produktion und der steigenden Zahl der behandelten Patienten auf ca. 150 US-Dollar gefallen.
Die extreme Ungleichheit der Lebensperspektiven von Menschen im vermeintlichen "global village" fand hier einen anschaulichen Ausdruck, der auch noch durch das Thema des Schutzes der Intellektuellen Eigentumsrechte (in Form von Patenten) direkt zu den Auseinandersetzungen bei den WTO-Verhandlungen führte.
AIDS war zu einem der globalen Themen der Jahrtausendwende geworden. Im Sicherheitsrat wurde darüber debattiert und zum ersten Mal eine Infektionskrankheit zu einem globalen Sicherheitsproblem erklärt. Im Jahr 2001 wurde als Novum in der Geschichte der UN eine Sondervollversammlung zu einem Gesundheitsthema einberufen, auf der Strategien für die Bewältigung der großen Infektionskrankheiten, insbesondere von AIDS, debattiert und der "Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria" als neue Finanzierungsstruktur besonders für Behandlungsprogramme dieser drei Krankheiten ins Leben gerufen wurde.
Bis dahin galt für AIDS in der Dritten Welt die konventionelle Weisheit der Entwicklungshilfe und von GesundheitsexpertInnen: Angesichts einer extrem teuren, komplizierten und auch noch lebenslangen Behandlung der Immunschwäche mit der seit Mitte der 1990er Jahren erfolgreich eingesetzten Kombinationstherapie von mindestens drei so genannten Antiretroviralen Medikamenten (ARV) seien die Optionen für die ärmeren Länder auf Prävention, Fürsorge für die Sterbenden und eventuell Behandlung von Begleiterkrankungen beschränkt. Mit Unterstützung international agierender Selbsthilfegruppen wie Act Up-Paris und großer internationaler Organisationen wie Oxfam und Ärzte ohne Grenzen ließen sich allerdings die Betroffenen nicht länger als bedauerliche Opfer der Verhältnisse abschreiben. Behandlungsoptionen rückten durch Preisreduktion und vereinfachte Therapieschemata in greifbare Nähe, engagierte Gesundheitsprogramme von NGOs führten in Modellprojekten in Südafrika und Haiti den Nachweis, dass Behandlung mit ARV auch in Armutsverhältnissen durchführbar war.
An der AIDS-Krise entzündete sich ein neuer Aktivismus für das Recht auf Gesundheit und Zugang zu Gesundheitsversorgung. Dabei spielte nicht nur die Frage nach den finanziellen Ressourcen, die offensichtlich nicht allein von den hauptbetroffenen Ländern, vor allem in der Region südlich der Sahara, aufgebracht werden konnten, sondern auch die Frage der Preisgestaltung und Monopolbildung durch Patentschutz eine Rolle, womit ein Kernthema der ökonomischen Globalisierung berührt war.
Es ging also nicht länger allein um die nie eingelöste Selbstverpflichtung des industrialisierten Nordens, 0,7% des Bruttosozialprodukts als Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen. Und auch die heiß umkämpfte Frage, ob die mangelnden Ressourcen besser mit "corporate charity" wie der Bill & Melinda Gates Stiftung oder innovativen globalen "Fundraisinginstrumenten" wie die Tobin-Tax auf Finanztransaktionen oder einer Abgabe auf Flugtickets eingeworben werden sollten, erklärt nicht die überraschende Renaissance einer Debatte um die richtige Strategie zur Bekämpfung von Gesundheitsproblemen auf der Agenda der G8-Gipfel, sondern es war die Frage eines weltweit harmonisierten Patentrechts im Zusammenhang mit den Verhandlungen über das "Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum" (TRIPS).
Preisgestaltung und Monopolbildung durch Patentschutz
Die Abschlusserklärung des G8-Gipfels in Okinawa 2000 umging noch die explizite Erwähnung dieser zentralen Kontroverse und sprach unverbindlich von der gemeinsamen Verantwortung und Anstrengung bei der Lösung der Gesundheitsprobleme, die Hindernisse auf dem Weg zu allgemeinem Wachstum und Wohlstand seien. Der Diskurs von "Investitionen in Gesundheit", den die Commission for Macroeconomics and Health der Weltgesundheitsorganisation WHO (3) unter Leitung des US-Ökonomen Jeffry Sachs favorisierte und mit dem Ausgaben für die Aufrechterhaltung von Gesundheitssystemen dem neoliberalen Mainstream bei G8, Weltbank, IWF und WTO schmackhaft gemacht werden sollte, hatte sich bereits erfolgreich verselbstständigt. Gleichzeitig wurden substanzielle zusätzliche Mittel für die Bekämpfung dieser Krankheiten in Aussicht gestellt (Die dann auf einem Folgetreffen im Herbst zu 1,3 Mrd. US-Dollar konkretisiert wurden, und die die Grundlage für den erwähnten Global Fund bildeten, der 2001 gebildet wurde). Die Frage der Patentregeln wurde allerdings nur indirekt und verklausuliert angesprochen: "Um diese anspruchsvollen Zielsetzungen zu verwirklichen, müssen wir Folgendes anstreben: (...) Behandlung der komplexen Frage des Zugangs zu Medikamenten in Entwicklungsländern und Bewertung der Hindernisse, vor denen die Entwicklungsländer in diesem Zusammenhang stehen." (4)
Im folgenden Jahr in Genua war dann explizit die Debatte um das "Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum" (TRIPS) Bestandteil der Abschlusserklärung. Die G8 stellte die Verteidigung dieser grundlegenden Vereinbarung unmissverständlich fest, so wie sie in den folgenden Jahren in den Verhandlungen in der WTO zum Dogma der Verhandlungsführer der Industriestaaten werden sollten: "Wir erkennen die Angemessenheit der Nutzung der durch dieses Übereinkommen (TRIPS, ak) gewährten Flexibilität durch die betroffenen Länder an, die dadurch sicherstellen, dass notwendige Arzneien für ihre Bürger verfügbar sind, besonders für diejenigen, die außer Stande sind, elementare ärztliche Behandlung zu gewähren. Zur gleichen Zeit versichern wir nochmals unser Engagement für einen starken und wirksamen Rechtsschutz des geistigen Eigentums als einem notwendigen Anreiz für die Forschung und Entwicklung von lebensrettenden Arzneien." (5)
G8 ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung
Der Kampf um Ausnahmeregelungen (vor allem die Zwangslizenzierung zur lokalen Produktion patentgeschützter Medikamente) im zähen Ringen mit den Interessen der Patent haltenden Pharma-Multis und ihrer politischen UnterstützerInnen in den Industrieländern bestimmte die folgenden Jahre und spiegelte sich auch auf den folgenden G8-Konferenzen wieder, wie z.B. in Evian, Frankreich 2003. (6)
Die bürokratischen Regelungen, die dabei als Kompromisse entstanden, um besonders Ländern ohne eigene Pharmaproduktion Zugang zu Importen kostengünstiger Generika zu ermöglichen, haben sich in der Praxis eher als erfolgreiche Verhinderung denn als Hilfe erwiesen. Die bisherigen Versuche ihrer Anwendung wurden auf der diesjährigen Internationalen AIDS-Konferenz von den anwesenden BehandlungsaktivistInnen fast einhellig als gescheitert erklärt. Eine stärkere Radikalisierung in der Auseinandersetzung mit den Patentrechten steht deshalb gerade jetzt wieder auf der Agenda und bietet einen guten Ansatzpunkt, diese Regeln als Teil der systematischen Verteidigung der ökonomischen Interessen der multinationalen Konzerne hervorzuheben und anzugreifen. In diesem Sinn trifft es sich gut, das in Heiligendamm auch das Thema AIDS wieder auf der Tagesordnung steht.
Andreas Wulf, medico international
Anmerkungen:
1) www.un.org/millenniumgoals/
2) Das "Agreement on Trade Related Intellectual Property Rights", TRIPS; www.wto.org/english/tratop_e/trips_e/trips_e.htm
3) www.who.int/macrohealth/en/
4) Abschlusserklärung des G8-Gipfels in Okinawa 2000, Punkt 30.6;
www.g7.utoronto.ca/deutsch/2000okinawa/communique.html
5) Abschlusserklärung des G8-Gipfels in Genua 2001,
Punkt 17;
www.g8.utoronto.ca/summit/2001genoa/finalcommunique.html
6) Health, a G8 Action Plan, Punkt 3.3; www.g8.utoronto.ca/summit/2003evian/health_en.html