Es gibt viele Rominas
Frauenkämpfe in Argentinien
"Das sind die Frauen" erläutert unser Fahrer einigen Fahrgästen, während der Kleinbus bereits die dritte Gruppe von Tramperinnen passiert, die an der Ausfallstraße von San Salvador de Jujuy in den nördlichen Anden stehen. "Die Frauen" - damit sind die Teilnehmerinnen des 21. nationalen argentinischen Frauentreffens gemeint, das dieses Jahr vom 14. bis 16. Oktober in Jujuy, Hauptstadt der gleichnamigen Andenprovinz, stattfand, und die an diesem Dienstag nach der Konferenz die touristisch beliebte Schlucht von Humahuaca als Tagesausflüglerinnen in Beschlag nehmen.
Etwa zehntausend Frauen versammelten sich in der konservativen Universitäts- und Bischofsstadt, um in fast 50 Workshops über gleiche soziale, politische und ökonomische Rechte für Frauen wie für Männer zu diskutieren und ihre Forderungen bei der für die Konferenz traditionellen Abschlussdemonstration laut auf die Straße zu tragen. Viele Teilnehmerinnen trugen das dunkelgrüne Halstuch der Kampagne für das Recht auf Abtreibung. Kein Wunder, dass die Frauen auf Initiative des Bistums Jujuy von zahlreichen Spruchbändern in den Straßen mit Parolen wie "Das Geschenk des Lebens bewahren" empfangen wurden.
Jährlich 500 Tote bei heimlichen Abtreibungen
Das nationale argentinische Frauentreffen findet seit 1986 alljährlich in wechselnden Städten Argentiniens statt. Initiiert wurde es von einer Gruppe Feministinnen, die zwei Jahre nach dem Ende der letzten Militärdiktatur die erste UN-Frauenkonferenz 1985 in Nairobi besuchten und von dort die Idee landesweiter autonom organisierter Frauentreffen mitbrachten. Von 1.000 Teilnehmerinnen beim ersten Treffen in Buenos Aires sind die Treffen auf mittlerweile zehn- bis fünfzehntausend Teilnehmerinnen gewachsen. Sie stehen Einzelfrauen und Gruppenvertreterinnen gleichermaßen offen, vorbereitet werden sie von Organisationsteams von ca. sechzig Frauen der jeweiligen Region und des Vorjahrestreffens.
Die argentinischen Frauentreffen haben eine ausgeprägt "horizontale" Diskussionsstruktur - dies fällt gerade im Gegensatz zu den z.B. in Deutschland mittlerweile verbreiteten "professionellen" ExpertInnenkonferenzen auf. Es gibt keine Vorträge und nicht einmal Impulsreferate in den Workshops, sondern alle sind aufgefordert, ihre persönlichen Erfahrungen in die Diskussionen einzubringen. Die Arbeit der Moderatorinnen beschränkt sich auf das Führen einer Redeliste. Das Strukturieren der Workshops und die Formulierung der Stichpunkte und Forderungen, die beim Abschlussplenum als Wandzeitung ausgehängt und vorgelesen werden, liegen in der Verantwortung der Gruppe. Kontrovers geführte Diskussionen mit Mehr- und Minderheitenvoten werden als solche dargestellt. Die Treffen sind also weniger ergebnisorientierte Strategie- und Aktionskonferenzen - obwohl von ihnen immer wieder wichtige Impulse für politische Kampagnen ausgehen - sondern eher Diskussionsforen, auf denen Netzwerke entstehen und die eine breite und heterogene Bewegung widerspiegeln.
Die große Mehrzahl der teilnehmenden Frauen sind progressive Aktivistinnen aus autonomen feministischen Gruppen, Indigena-Organisationen, Gewerkschaften, Hausfrauenorganisationen, Arbeitslosengruppen, unterschiedlichen linken Parteien und Basisorganisationen. Aber auch wertkonservative Teilnehmerinnen beteiligen sich an den Treffen, wie insbesondere die Minderheitenvoten zu Sexualpädagogik, Verhütung und Abtreibung in mehreren Workshops in Jujuy zeigten. In Jujuy bemerkenswert war der Mut zum Dissens: der Vorschlag, "diesen Katholikinnen" endlich "ihren eigenen Workshop" zu geben, damit die Workshops pro Abtreibungslegalisierung gezielter arbeiten können, stieß auf Ablehnung, die gemeinsame kontroverse Diskussion unter Frauen wurde als politisch wichtig eingeschätzt.
Die Themen der 48 Workshops reichten neben Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung über Gesundheit, Umweltproblematik, Menschenrechte und Diktaturverbrechen, Sexismus am Arbeitsplatz, häusliche Gewalt, Erziehung und Ausbildung bis zu Frauen und Sport. Viele befassten sich dabei mit wirtschaftlichen Themen wie den Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeiterinnen in Landwirtschaft oder Kooperativen, von arbeitslosen Frauen, mit den Auswirkungen der argentinischen Auslandsverschuldung und der geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA.
Dieser sozioökonomische Schwerpunkt, noch mehr aber die vehementen Forderungen nach gleichen Löhnen für gleiche Arbeit, nach Mindestlöhnen, von denen frau auch etwaige Kinder versorgen kann, nach existenzsichernder staatlicher Unterstützung für arbeitslose Frauen und Rentnerinnen spiegeln die Situation der überwiegenden Mehrheit der Frauen (und EinwohnerInnen überhaupt) in Argentinien. Sie ist bestimmt von der Zerschlagung eines relativ guten Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssystems, von hoher Arbeitslosigkeit, prekären Jobs sowie Arbeitsbedingungen, bei denen auch eine Erwerbsarbeit z.B. als Lehrerin oder Krankenschwester nicht mehr den Lebensunterhalt sichert - und von den alltäglichen Kämpfen dagegen.
Landesweite Kampagne für das Recht auf Abtreibung
"Mujer y..." - stand 48 Mal im Programm. Doch wer "Frau" wie und warum definiert und ob der ausufernd benutzte Begriff rein kulturelle Definitionssache ist, wurde nur in zwei Workshops reflektiert. Beim Abschlussplenum wurde zwar einerseits der Ansatz des Workshops "Mujer y Familia", das Konzept der Familie mit Vater, Mutter und Kindern in klassischer Rollenverteilung als ahistorisch-natürlich zu biologisieren, ausgepfiffen. Andererseits war in den Diskussionen und Forderungen das vorherrschende Referenzmodell das Bild einer heterosexuell lebenden Familienmutter (ob mit oder ohne Lebenspartner), was tatsächlich mehrheitlich der argentinischen Realität entspricht. Dieses Bild wurde jedoch in seiner Ausschließlichkeit nicht weiter hinterfragt. So waren Lesben zwar als politische Aktivistinnen und Personen jenseits der Heteronormativität auf der Tagung in Jujuy sichtbar und es gab einen Workshop zu lesbischem Leben; in den Diskussionen und der Sprache der Kongressteilnehmerinnen jedoch blieben sie - bis auf ein paar provokante Parolen bei den Demonstrationen - so wenig präsent wie Trans-Menschen oder hetero- und bisexuell lebende Frauen in nicht-familiären Lebensformen.
Eindeutig im Mittelpunkt des Frauentreffens standen die Forderungen nach der Legalisierung von Abtreibungen und der Freiheit für Romina Tejerina, einer Symbolfigur in diesem Kampf. Die 17-jährige Schülerin aus einer Kleinstadt bei Jujuy wurde von einem Nachbarn vergewaltigt und dadurch schwanger. Sie sprach mit niemandem darüber, trug die Schwangerschaft heimlich aus und tötete das Kind kurz nach der Geburt. Das Strafgericht verurteilte Romina trotz breiter Proteste als Mörderin zu 14 Jahren Gefängnis. Der Vergewaltiger wurde freigesprochen. Romina Tejerina ist im Gefängnis von Jujuy inhaftiert, weshalb die Stadt als Ausdruck der Solidarität zum Ort des diesjährigen Frauentreffens gewählt wurde. Am ersten Kongressabend demonstrierten etwa fünftausend Frauen lautstark am Gefängniszaun. "Es gibt viele Rominas". Immer wieder haben die Aktivistinnen auf die strukturelle und direkte Gewalt gegen Frauen verwiesen, die sich in diesem "Fall" exemplarisch darstellt. Bereits im Mai letzten Jahres hatten 400 Organisationen und Hunderte von Einzelpersonen die "Nationale Kampagne für das Recht auf Abtreibungen - legal- sicher- gratis" ins Leben gerufen, um die jahrelangen Frauenkämpfe dafür zu bündeln. Die Kampagne fasst ihre Arbeit in drei Forderungen zusammen: "Aufklärung um zu entscheiden, Antikonzeptiva um nicht abzutreiben, legale Abtreibung um nicht zu sterben".
Das argentinische Strafgesetz erklärt zur Zeit Schwangerschaftsabbrüche im Abschnitt "Delikte gegen Personen" (!) für strafbar, wobei die Strafandrohung gegen die schwangere Frau ein bis vier Jahre Gefängnis beträgt, gegen diejenigen, die den Abbruch durchführen, ein bis zehn Jahre. Lediglich zwei Ausnahmen sind in §86 als straffrei definiert: die Gefahr für Leben und Gesundheit der Schwangeren und Schwangerschaften von "mujeres idiota o dementa", die vergewaltigt wurden. Doch selbst in letzterer, vermeintlich eindeutiger Situation müssen Frauen bzw. ihre Sorgerechtsbeauftragten ihr Recht oft erst gegenüber konservativ-katholischen ÄrztInnen durchsetzen, wie zwei spektakuläre Prozesse in den Provinzen Rosario und Buenos Aires im Sommer zeigten. In beiden Fällen mussten die Frauen ihr theoretisch existierendes Recht vor Gericht erstreiten. Im Fall der 25-jährigen Frau aus Rosario reichte die konservativ-katholische ÄrztInnenorganisation VITAM Einspruch ein, so dass die Klägerin letzten Endes nur in einer Privatklinik und mit Unterstützung der "Kampagne für das Recht auf Abtreibung" die Schwangerschaft abbrechen lassen konnte.
Der Kampf für eine laizistische Politik
Diese Prozesse wie die gesamte Kampagnenarbeit in Form von Unterschriftensammlungen, Demonstrationen und einer internationalen Fachtagung haben die Diskussion in der argentinischen Öffentlichkeit vorangetrieben. Denn während die argentinischen Feministinnen sich in ihren Forderungen für eine bedingungslose Legalisierung von Abtreibungen zumindest im Rahmen einer Fristenlösung einig sind, erfordert der Kampf für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts gesamtgesellschaftlich einen mühsamen Meinungsbildungsprozess in der zutiefst patriarchal und katholisch geprägten argentinischen Gesellschaft. Laut einer landesweiten Studie befürworten 70 Prozent der Befragten die Straffreiheit, wenn die Frau vergewaltigt wurde, jedoch nur 24 Prozent aus wirtschaftlichen Gründen und 20 Prozent, wenn die Frau kein Kind bekommen möchte. (1) So können Bilder vom Abend der Abschlussdemonstration, wo eine Kette von betenden Menschen "ihre" Kirche vor den Kongressteilnehmerinnen abschirmte, leider noch nicht als angestaubte Folklore gesehen werden.
Die Kampagnenfrauen stellen daher die unbestreitbaren Tatsachen in den Vordergrund: in Argentinien finden jährlich geschätzte 500.000 heimliche Abtreibungen statt, fünfhundert Frauen sterben dabei an den unsicheren Bedingungen, 80.000 müssen danach im Krankenhaus behandelt werden. Das Abtreibungsverbot gefährdet eindeutig arme und sehr junge Schwangere, weil sie nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, Abbrüche in Privatkliniken gegen Schmiergeldzahlungen oder im Ausland durchführen zu lassen. Die Vorschläge christlich-fundamentalistischer Gruppierungen und der katholischen Amtskirche, die die Adoptionsfreigabe ungewollter Kinder nach der Geburt als ethisch vertretbare Lösung von Schwangerschaftskonflikten in die Diskussion bringen, entlarven sie als zynische Rechtfertigung von Zwangsschwangerschaften und setzen dem die Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper als grundlegendes Menschenrecht entgegen.
Mit derartigen Diskussionsbeiträgen verspielt die Amtskirche den letzten Anspruch auf moralische Autorität, der ihr - trotz Verbot von Präservativen in den Zeiten von AIDS und ihrer Rolle während der letzten Militärdiktatur - anscheinend immer noch zugesprochen wird. Die politische Macht der Kirche ist in Argentinien nach wie vor erheblich. So entließ Staatspräsident Nestor Kirchner zwar im März 2005 vorübergehend den Militärbischof Baseotto nach Hetztiraden gegen den abtreibungsbefürwortenden Gesundheitsminister, suchte aber letzten Endes wegen seines innenpolitischen Ansehens im Vatikan nach Ausgleich. Feministinnen aus dem linksradikalen Parteienspektrum wie z.B. die Gruppe Pan y Rosas der trotzkistischen PTS werfen denn auch Kirchner Einknicken gegenüber dem Vatikan vor und kritisieren an Teilen der Pro-Abtreibungs-Kampagne zu große Regierungsnähe.
Das im September verabschiedete Gesetz für eine verbindliche schulische Sexualerziehung wird Feministinnen und anderen progressiven Gruppen schon bald ein weiteres Gebiet öffnen, auf dem der Anspruch einer laizistischen Politik gegenüber der Macht der Amtskirche - hier als Schulträger - erkämpft werden muss. Zu hoffen bleibt, dass die Demonstration zum "Interamerikanischen Aktionstag für Abtreibungsrechte in Lateinamerika und der Karibik" am 28.9.06 in Buenos Aires kein Symbol für die zukünftige Bündnisarbeit der verschiedenen linksradikalen bis reformorientierten feministischen Gruppen ist. Hier bildeten sich als Ausdruck der internen Diskussionen zwei etwa gleich große Demonstrationszüge, die völlig getrennt voneinander durch das Zentrum der Stadt liefen und erst am Platz der Abschlusskundgebung zusammenfanden.
Sabine Flohr
Anmerkung:
1) Estudio Nacional Cuantitativo: Actitudes y Expectativas acerca de Aborto en Argentina, Maria Jose Lubertino (Hg.) Buenos Aires 2004