Aufgeblättert
Grundeinkommen und solidarische Ökonomie
Der Russlandexperte Kai Ehlers bereichert die deutsche Grundeinkommensdebatte um einen völlig neuen Aspekt. Er verweist auf die Geschichte der russischen Bauerngemeinde, der Obschtschina. Diese hatte schon in zaristischer Zeit eine doppelte Funktion; einerseits war sie Basis des wirtschaftlichen Überlebens der Landbevölkerung und andererseits Instrument für staatliche Kontrolle und Einfluss. Das blieb so in der Sowjetunion, wo die Staatsbetriebe und Kooperativen eine "an die betriebliche Produktion gebundene Vergütung, also die bargeldlose - agrarische wie auch industrielle - Grundversorgung aus dem Betriebsfonds" sicherten. Diese Strukturen existieren in weiten Teilen auch heute noch. Hieraus zieht Ehlers zwei bemerkenswerte Schlüsse. Zum einen sagt er, dass heute schon in relativ großer Dimension eine Ökonomie praktiziert wird, die nicht auf Ware-Geld-Beziehungen beruht, in der nicht produziert wird, weil die Wirtschaft wachsen und das Kapital vermehrt werden muss. Zum anderen versucht er diese Erfahrung für die Grundeinkommensdebatte zu verallgemeinern. Über die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens hinaus fordert er "die Nutzung der frei werdenden Arbeitskapazitäten für die Entwicklung einer dezentralen Eigenversorgung durch selbstgewählte Gemeinschaften" - auf strikt freiwilliger Basis. Er nennt zahlreiche Beispiele für solche Gemeinschaften, von der biodynamischen Landwirtschaft über Tauschringe bis zum Netzwerk, von Ökodörfern und Kommunen. Zusätzlich zu Grundeinkommen und Selbstversorgung fordert Ehlers die "persönliche Freiheit, zusätzlich Tätigkeiten durchzuführen, die über die Versorgung durch ein monetäres Grundeinkommen und die daneben bestehende gemeinschaftliche soziale Grundversorgung hinausgehen." In diesen Bereich gehört die bezahlte Erwerbsarbeit, aber auch die Entdeckung der Tätigkeiten, die wir "wirklich, wirklich wollen" (Frithjof Bergmann). Ehlers ist zu Recht davon überzeugt, dass er Entwicklungen analysiert, die schon tagtäglich stattfinden. Sein Buch ist ein Beitrag zur weltweiten Debatte um eine bedingungslose materielle Absicherung der Menschen als Antwort auf das Ende bisheriger Vorstellungen von sozialer Sicherheit. Ob es diesem Anliegen dienlich ist, dass er seine Beispiele sehr häufig unter Rückgriff auf Rudolf Steiner oder Silvio Gesell wählt, mögen die LeserInnen entscheiden.
Werner Rätz
Kai Ehlers: Grundeinkommen für alle. Sprungbrett in eine integrierte Gesellschaft. Pforte Verlag, Dornach 2006, 218 Seiten, 14 EUR
Streitschrift gegen Antisemitismus
Eine Streitschrift nennt Wolfgang Frindte, Professor am Institut für Psychologie der Universität Jena, sein Buch "Inszenierter Antisemitismus". Laut Verlag wendet er sich damit an WissenschaftlerInnen, aber auch an "interessierte LeserInnen". Frindtes Message, als "Ceterum censeo" jedem Kapitel angehängt, lautet: "Der Antisemitismus muss vernichtet werden." Denn: "Der Antisemitismus" - hier zitiert der Autor Hannah Arendt - "ist genau das, was er zu sein vorgibt: eine tödliche Gefahr für die Juden und sonst nichts". Wer wollte da widersprechen? Weniger einleuchtend ist, warum Frindte zur Untermauerung dieser Erkenntnis mehr als 300 Seiten schreiben musste. Denn auch interessierten Laien dürfte vieles bekannt sein, was hier zusammengetragen wird: zur Geschichte des Antisemitismus, zum Verhältnis von Antisemitismus und Nationalismus, über Marx und den Antisemitismus, über linken Antizionismus. Bei Frindtes Auflistung diverser empirischer Untersuchungen verliert man dagegen leicht den Überblick. Nicht sehr erhellend ist auch die thesenförmig formulierte "theoretische Annäherung", die mit den inhaltsarmen Sätzen endet: "Der Antisemitismus ist die kalkulierte Inszenierung der Vernichtung der Juden als Juden. Er richtet sich gegen die Freiheit, die Toleranz und die Verschiedenheit der Menschen und sozialen Gemeinschaften. Deshalb ist er nicht nur banal, sondern auch böse und gefährlich." Vergleichsweise originell ist die vom Autor moderierte fiktive Talkshow am Schluss des Buches. Zusammengestellt wurde sie aus Zitaten von Hannah Arendt, Zygmunt Baumann, Ignatz Bubis, Friedrich Engels, Heinrich Heine, Stefan Heym, Jacob Katz, Leo Löwenthal, Karl Marx und Hans Mayer. Als Anregung zum Weiter- bzw. Wiederlesen ist diese Zusammenstellung gelungen. Ein Ärgernis, das nicht verschwiegen werden darf, sind die zahlreichen, zum Teil sinnentstellenden Fehler. Da wird das bei Jürgen Kuczynski fehlende S Paul Merker angehängt, oder es wird behauptet, "verordneter Antisemitismus" hätte nach 1945 den Umgang der Alliierten mit der deutschen Bevölkerung bestimmt. Ein derart schlampiges Lektorat ist bei einem Buch dieser Preisklasse absolut inakzeptabel.
Js.
Wolfgang Frindte: Inszenierter Antisemitismus. Eine Streitschrift. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, 321 Seiten, 29,90 EUR
Prostitution und Frauenhandel
"Prostitution = Frauenhandel = Zwangsprostitution" - dieser Dreiklang ist oft zu hören. Was die Boulevardpresse und viele PolitikerInnen in einen Topf werfen, wurde auf der Konferenz "Prostitution und Frauenhandel in Europa" differenziert und parteilich thematisiert. Die internationale Tagung fand im Dezember 2005 in Berlin statt; ausgerichtet wurde sie von ver.di und der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Fokus der nun als Buch erschienenen Konferenz-Dokumentation steht das neue Prostitutionsgesetz, das in Deutschland seit Januar 2002 in Kraft ist. In der dokumentierten Podiumsdiskussion ziehen die TeilnehmerInnen verschiedener Parteien, der Polizei, der Gewerkschaft und der Hurenbewegung Bilanz. Die Wissenschaftlerin Emilia Mitrovic konstatiert, dass das Gesetz mehr Rechte gebracht hat, es aber für migrantische Sexarbeiterinnen unwirksam ist. Außerdem sei Prostitution immer noch ein Tabuthema. Bigotterie und Doppelmoral stellt sie nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft fest. Dort werde das Thema entweder ignoriert oder als deviantes (von der Norm abweichendes) Handeln der Frauen behandelt. Karl Hermann Tjadens eher essayistisch gehaltener Beitrag "In der Verachtung, die der Prostituierten entgegengebracht wird, spiegelt sich die gesellschaftliche Verachtung gegenüber der Frau im Allgemeinen" sticht insofern auch in diesem Buch hervor - als der einzige, der das Thema jenseits von Empirie und Politikmaßnahmen unter die Lupe nimmt. Interessant an dem Buch ist der europäische Blick. Beleuchtet wird der Menschenhandel in Europa und die Situation von Prostituierten in sechs europäischen Ländern (u.a. Serbien, Polen, Großbritannien, Italien). Die Dokumentation bietet kurze, oft komprimierte Statements zum Thema , u.a. auch zur Rolle der Gewerkschaften; im Anhang finden sich einige mehr oder weniger wichtige Manifeste und Deklarationen.
Anke Schwarzer
Emilija Mitrovic (Hrsg.): Prostitution und Frauenhandel. Die Rechte von Sexarbeiterinnen stärken! Ausbeutung und Gewalt in Europa bekämpfen! VSA-Verlag, Hamburg, 2006, 160 Seiten, 12,80 EUR