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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 511 / 17.11.2006

Die Rückkehr der Lumpen

Das Bürgertum entdeckt die Unterschicht

Im Februar/März 2006 sind 3.000 wahlberechtigte Deutsche über 18 Jahren von der TNS Infratest Sozialforschung Berlin zu den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre befragt worden. Auftraggeber war die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die sich Aufschlüsse über die zukünftigen Wahlchancen der SPD erhofft hatte. Ende des Jahres sollte diese Befragung als Studie veröffentlicht werden, doch Anfang Oktober kam alles anders als geplant.

Es war SPD-Chef Kurt Beck, der in einem Interview das erste Mal von einem "Unterschichten-Problem" gesprochen hatte. Dieses bestehe darin, dass es am "unteren Ende der Gesellschaft" keinen Aufstiegswillen gebe. Die Unterschichten richteten sich in der sozialen Hängematte ein und verabscheuten einen "positiven Leistungsbegriff". Inhaltlich ist an der Beck'schen Klage wenig Neues. Der Abschied von der Verteilungsgerechtigkeit hin zur Leistungsgerechtigkeit mit ihren "produktiven Ungleichheiten" wird in der SPD seit mittlerweile sechs Jahren eingeläutet. (ak 476) Und Beck selbst ist in dieser Hinsicht nicht das erste Mal auffällig geworden. Wenige Monate zuvor hatte er ALG-II-BezieherInnen noch öffentlich für ihre angebliche Mitnahmementalität kritisiert und lautstark aufgefordert, sich mehr in Bescheidenheit zu üben. Man müsse nicht alles beantragen, was eineR zustehe. Was also ist an dem jüngsten Lamento so besonders, dass es die Unterschicht - zumindest für einige Zeit - in die Schlagzeilen der bürgerlichen Presse schafft?

Zunächst einmal ist es der Begriff selbst. "Unterschicht" klingt irgendwie anrüchig, nach oben und unten, nach Klassengesellschaft, nach Polarisierung. Sowohl Angela Merkel als auch ihr Vize Franz Müntefering haben denn auch eilfertig die Stirne in Falten gelegt und davor gewarnt, gesellschaftliche Spaltungen herbeizureden - als gebe es diese nicht bereits seit langem: Natürlich gibt es eine tiefe soziale Spaltung der Gesellschaft. Natürlich gibt es massive materielle Armut. Natürlich sind die Zugänge zu gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten in aller Regel an die Größe des Portemonnaies gekoppelt und entsprechend ungleich verteilt. Und natürlich werden durch die verschiedenen Spielarten der Aktivierungspolitik Menschen drangsaliert, fertig gemacht, ausgegrenzt.

Die neue Furcht vor den "gefährlichen Klassen"

Zum zweiten hatte sich Beck eben auf die eingangs erwähnte Studie der FES bezogen. Die hatte sich - wie lückenhaft und methodisch zweifelhaft auch immer - damit beschäftigt, was die Menschen eigentlich von dieser Gesellschaft und der Politik halten. Und die Ergebnisse sind für die politische Klasse in manchen Teilen in der Tat erschreckend: 15 Prozent fühlen sich generell verunsichert. 44 Prozent fühlen sich vom Staat allein gelassen, 46 Prozent empfinden ihr Leben als ständigen Kampf, und 63 Prozent machen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst. Über die Hälfte macht sich auf Grund finanzieller Einschränkungen Sorgen um die Zukunft. 61 Prozent sind der Meinung, es gebe keine gesellschaftliche Mitte mehr, sondern nur noch oben und unten. 39 Prozent befürchten, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, und 14 Prozent sehen sich ins gesellschaftliche Abseits geschoben.

In Bezug auf die politischen Orientierungen nimmt die Parteienbindung kontinuierlich ab, von 85 Prozent im Jahr 1976 auf 53 Prozent im Jahr 2006. JedeR Fünfte hat eine große Distanz zu allen Parteien. 56 Prozent meinen, "egal welche Partei man wählt, ändern tut sich doch nichts." 68 Prozent sind der Auffassung, "Politiker kümmern sich zu wenig um die Sorgen der Bürger." Dabei interessieren sich durchaus 51 Prozent für Politik. Bei der politischen Typisierung identifiziert die FES ein "abgehängtes Prekariat" von acht Prozent der Bevölkerung, das von Abstiegs- und Ausschlusserfahrungen geprägt und in höchstem Maße mit der Großen Koalition unzufrieden sei. Hier sind NichtwählerInnen genauso überproportional vertreten wie WählerInnen der Linkspartei und rechtsextremer Parteien.

Das Erstaunliche und Brisante an der FES-Studie ist also, dass sie eben keine Armutsstudie im Sinne eines Armuts- oder Lebenslagenberichts ist, sondern dass sie, wie verquer auch immer, versucht hat, Armut bzw. Teile des Proletariats und der Unterklassen als (politische) Subjekte wahrzunehmen, mit dem Resultat, dass sich die autoritär-neoliberalen Integrationsversprechen über Aktivierung und "Fordern und Fördern" in Schall und Rauch aufgelöst haben. Die materielle soziale Zerklüftung der Gesellschaft findet ihren Ausdruck im Bewusstsein der Betroffenen, ein Umstand, der die politische Klasse offensichtlich verstört.

In der momentanen Unterschichtsdiskussion erleben wir eine ganz neue Variante der Debatte um Integration und Parallelgesellschaft, wie sie PolitikerInnen, Medien und SozialwissenschaftlerInnen bisher eher in Bezug auf MigrantInnen gepflegt haben. Genau wie in jenem Diskurs auch werden dabei vor allem soziale Verhältnisse und materielle Ungleichheiten, Diskriminierung, Stigmatisierung, Unterdrückung und Ausbeutung kulturalisiert.

Bildungsfern und disziplinlos - die neuen Armen

"Sie gelten als Totalverweigerer", so der Berliner Tagesspiegel (6.11.06) über Jugendliche, die sich nicht in die Hartz IV und Ein-Euro-Mühle pressen lassen wollen. Alarmierend seien die Zahlen, 10 bis 15 Prozent, teilweise gar 20 Prozent der Jugendlichen lehnen die amtlichen Jobangebote ab. Von 284 Jugendlichen, die zur Teilnahme an einem Qualifizierungsprogramm aufgefordert worden waren, sind 160 nicht erschienen. "Diese Jugendlichen wollen sich in keiner Weise unterordnen", so ein Neuköllner Jugendamtsleiter. Es gebe eben diese Jugendlichen, die nicht gerne aufstehen. "An die heranzukommen, ist sehr schwierig." Dabei ist das, was hier beunruhigt-empört als Verweigerung wahrgenommen wird, letztlich nur Ausdruck eines ausgeprägten Realitätssinns: Die Jugendlichen glauben den Versprechungen von Chancen und Integration durch Hartz IV einfach nicht, und das völlig zu recht. Dass sie sinn- und perspektivlosen Zwangsmaßnahmen fernbleiben, zeigt, dass sie klüger sind, als die bürgerliche Aufregung wahrhaben will.

In den 1980er und 1990er Jahren war in der anglo-amerikanischen sozialwissenschaftlichen Diskussion der Begriff der "(urban) underclass" schwer in Mode als Beschreibung eines städtischen Subproletariats, das sich in den Transferzahlungen des Wohlfahrtsstaates eingerichtet habe und in dem Armut über Generationen hinweg vererbt würde. Diesen Menschen fehle es nicht an Geld, sondern an Motivation und Eigenverantwortlichkeit, so die Übersetzung in die Politikberatung. Mit gut zehnjähriger Verspätung tauchen diese ideologischen Versatzstücke nunmehr in der deutschen Unterschichtsdiskussion wieder auf. Nicht nur die Reichen, auch die Armen in Deutschland werden immer reicher, so Walter Wüllenweber vor zwei Jahren im Stern. (Stern, 52/2004) Die reale Spaltung verlaufe hier zu Lande nicht entlang wirtschaftlicher Linien, sondern "ist eine kulturelle Spaltung." Die Unterschicht, so Wüllenweber, "verliert die Kontrolle, beim Geld, beim Essen, beim Rauchen." Nicht etwa Armut macht krank: "Der schlechte Gesundheitszustand der Unterschicht ist keine Folge des Geldmangels, sondern des Mangels an Disziplin. Disziplinlosigkeit ist eines der Merkmale der neuen Unterschichtskultur."

Die Klagen über die Unkultur der Unterschicht repräsentieren auch den ewig gleichen überheblich-furchtsamen Blick des Bürgers auf das Proletariat, der Ober- auf die Unterstadt und die Schmuddelkinder. Während die alte Arbeiterklasse sich an den bürgerlichen Werten orientierte und Goethe für den Inbegriff der Hochkultur gehalten habe, sei die heutige Unterschicht "bildungsfern". Sie setzt ihre Kinder vor die Glotze, liest nur noch Comics, spielt Gameboy und Video-Spiele und ernährt sich von Pommes, Hamburgern und Alkohol. Das alte Proletariat habe wenigstens noch Fußball gespielt, während heute nur noch abgehangen wird. Dabei hat sich auch die Freizeitgestaltung in den gediegenen Villenvierteln und schicken Eigentumswohnungen längst vom bürgerlichen Bildungsideal verabschiedet, mal abgesehen von der peinlichen Wiederkehr eines strunzspießigen Kulturbegriffs.

Von Kultur sprechen und von Geld schweigen

"Lassen Sie uns nicht über Kinderarmut, sondern lieber über die Erziehungsunfähigkeit der Eltern sprechen" - so lautete im Juni dieses Jahres der Ratschlag von Barbara Szabados, Bürgermeisterin in Halle, vorgetragen auf einer Konferenz zum Thema "Soziale Integration in Deutschland". Sie beschreibt damit den unmittelbaren Nutzen einer kulturalistischen Armutsdiskussion: Wenn das fehlende Geld nicht das Problem ist, dann ist damit der gesellschaftliche Skandal von materieller sozialer Ungleichheit genauso entsorgt wie die leidige Frage nach Verteilungsgerechtigkeit. Viele lästige Fragen haben sich damit erledigt: Wie teuer ist eigentlich ausreichender, gesunder Wohnraum? Wie teuer sind Bücher oder gesundes Essen? Wie teuer ist ein Platz in der Kita, und haben erwerbslose Eltern überhaupt einen Zugang? Welche Spiel- und Tobemöglichkeiten gibt es in den urbanen Armutsvierteln? Wie sieht dort das kulturelle Angebot aus? Wie teuer sind Kino, Konzerte, Theater?

Wenn "Disziplinlosigkeit" das Problem ist, dann muss der Unterschicht eben Disziplin beigebracht werden - durch Fördern und Fordern, durch Kontrollen, Eingliederungsvereinbarungen, Case Management und andere paternalistische Formen einer aktivierenden Sozialpolitik. Der Berliner Historiker Paul Nolte etwa fordert entsprechend ein "Ende der fürsorglichen Vernachlässigung". (Kommune, 18.8.03) Soziale Ausgleichzahlungen mit dem Ziel, bestimmten Gruppen eine ausreichende Fähigkeit zur Teilhabe am Konsum zu ermöglichen, seien "unzureichend". Notwendig sei eine "investive Sozialpolitik", die "kulturelle Aspekte" verfolge. Die Unterschicht müsse umerzogen werden, und Konsumverzicht sei dazu der erste Weg. Dabei beweist der bürgerliche Blick einen sehr feinsinnigen Klasseninstinkt: Dem Wirtschaftswissenschaftler nämlich, "den unberatene Immobilienkäufe arm gemacht haben", dem würde "ein Lottogewinn durchaus helfen". Nicht aber "Patrick, der von zu Hause und aus Therapien abhaute, der wegen Drogenhandels im Gefängnis saß". Dem "hilft vor allem seine bewundernswerte Selbstdisziplin - und sein Platz in der 'Tages- und Abendschule Köln'". An dieser Stelle sei die kühne These gewagt, dass ein satter Sechser im Lotto dem Patrick auf jeden Fall nicht schaden würde. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 1.10.06)

Ein solch bürgerlicher Blick auf die Unterschicht ist bis weit in die Wohlfahrtsverbände und Kirchen hineinen verbreitet. Das bürgerliche Individuum, so eine Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands zur "Armut in Deutschland", beruhe auf Bildung, auf Ansprüchen und "Zielperspektiven" für die eigene Person, auf einer "beständigen, sich selbst beherrschenden, selbstreflexiven und zielorientierten Persönlichkeitsform." Diese "inneren Kompetenzen" fehlen dem "Milieu der Armut" in überdurchschnittlichem Maße. Doch Trost ist in Sicht, denn "die Armen" haben auch Stärken: "Diese Stärken bestehen z.B. in der Spontaneität, der Fähigkeit zu Überleben, im Humor und in durchaus lustbetonten Gemeinschaftsformen. Erfahrungen gemeinsamen Feierns sind ganz wesentliche Punkte des Kontakts zu Armen und ihrer Anerkennung und Aktivierung." (1) So ähnlich haben weiße Kolonisatoren über "wilde Naturvölker" gesprochen, bevor sie sie getauft, "zivilisiert" und/oder ausgerottet haben.

Elmar Borg

Anmerkung:

1) Rat der EKD: Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Gütersloh 2006