Jahre der Vernichtung
Saul Friedländers Gesamtdarstellung der Shoah
Acht Jahre sind vergangen, seit Saul Friedländer sein hoch gelobtes Buch "Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939" veröffentlicht hat. (vgl. ak 423) Nun liegt der zweite Band seiner Untersuchung vor, betitelt "Die Jahre der Vernichtung". Auch dieser enthält weder sensationelle Entdeckungen noch eine Neuinterpretation der Shoah, des Mordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Ein Meisterwerk ist das Buch dennoch: Durch die Zusammenstellung unterschiedlichster Aspekte erschließt es einen umfassenden Blick auf den Völkermord.
Saul Friedländer wurde 1932 in Prag geboren. Seine Eltern beschreibt er als "typische Vertreter des assimilierten jüdischen Bürgertums Mitteleuropas". (1) Sie wurden in Auschwitz ermordet, während er, versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich, die Shoah überlebte. Heute lehrt und forscht Saul Friedländer als Professor für Neuere Geschichte an den Universitäten von Tel Aviv und Los Angeles.
Sein neues Buch verlangt den LeserInnen einiges ab. Auf fast 700 Seiten Text (plus gut 100 Seiten Anmerkungen) wird die mörderische Entwicklung vom Kriegsbeginn bis zur deutschen Kapitulation in drei Teile gefasst: Der erste Teil, der den Zeitraum zwischen Herbst 1939 und Sommer 1941 umfasst, ist überschrieben mit "Terror", der zweite mit "Massenmord" (Sommer 1941 bis Sommer 1942), der dritte schließlich trägt den Titel "Shoah" und beschreibt die Zeit von Sommer 1942 bis Mai 1945. Diese Einteilung kann nicht restlos überzeugen - selbstverständlich sind auch die in den ersten Kriegsjahren ermordeten Jüdinnen und Juden Opfer der Shoah, definiert als die "präzedenzlose Katastrophe" (Yehuda Bauer) des jüdischen Volkes.
Die drei Teile des Buches sind wiederum in mehrere Zeitabschnitte unterteilt. Innerhalb der so entstandenen insgesamt zehn Kapitel verwendet Friedländer eine Erzähltechnik, die an einen Film erinnert: Mit einer Reihe - allerdings langsamer - Schnitte schildert er den jeweiligen Zeitabschnitt aus unterschiedlicher Perspektive. So stellt er neben die Schilderung der Fakten immer wieder die Eindrücke jüdischer ChronistInnen, wie sie vor allem in Tagebüchern und Briefen festgehalten wurden. Direkt daneben stehen Zitate der Mörder, Auszüge aus Reden Hitlers und Himmlers, Aufzeichnungen von Goebbels. Die Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung - das weitgehende Einverständnis, verbunden mit Kritik an Einzelaspekten der nazistischen "Judenpolitik" - werden u.a. an Hand der Stimmungsberichte des SD gezeigt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Verfolgung werden deutlich, indem Friedländer nacheinander die Situation in den von Deutschland besetzten Ländern darstellt.
Auf Tiraden von Goebbels folgen Berichte der Opfer
Als Beispiel für diese Erzähltechnik muss hier ein Blick auf das vierte Kapitel genügen, das den Zeitraum zwischen Juni und September 1941, unmittelbar nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, zum Gegenstand hat. Zwischen den Abschnitten X und XII, in denen es um die Situation der Juden in der Sowjetunion bzw. in Frankreich und Belgien geht, behandelt der Autor auf wenigen Seiten die Einführung des Gelben Sterns im Deutschen Reich. Auf Initiative von Goebbels erließ das Innenministerium am 1. September 1941 eine Verordnung, nach der alle Jüdinnen und Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet hatten, einen sechszackigen gelben Stern mit der Aufschrift "Jude" zu tragen haben. Das erlaubte, so Friedländer, "die totale Kontrolle über die Juden, sobald sie ihre Wohnung verlassen hatten". Die Betroffenen mussten sich fügen - wie Victor Klemperer, aus dessen berühmten Aufzeichnungen "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" (Berlin 1995) in dem Buch immer wieder zitiert wird: Klemperer will zunächst zu Hause abwarten, "wie es wirkt", zugleich schämt er sich und wirft sich Feigheit vor, weil er seine leicht erkrankte nichtjüdische Frau den Einkauf machen lässt.
Die "arische" Mehrheit begrüßte den Stern, einige kritisierten Ausnahmen, die etwa für jüdische Ehefrauen von "Ariern" gemacht wurden. Eine verschwindende Minderheit zeigte abweichendes Verhalten, so etwa eine "Gruppe, die den Judenstern grüßt" - auch wenn deren TrägerInnen ihnen unbekannt waren. Friedländers Fazit über die Reaktionen auf einen für die spätere Deportation in die Vernichtungslager entscheidenden Schritt: "Tatsächlich scheinen alle Interpretationen zu bestätigen, dass die negativen Reaktionen auf die Einführung des Sterns in Teilen der deutschen Bevölkerung vorübergehender Natur waren und nichts an genereller Hinnahme und Passivität änderten."
"Täter, Opfer, Zuschauer" unterscheidet Raul Hilberg in seinem gleichnamigen Buch (New York, 1992). Friedländer lässt Protagonisten aus diesen Kategorien ausführlich zu Wort kommen, nicht zuletzt die Täter: Nazi-Größen, KZ-Kommandanten, Bürokraten des Völkermordes, Rassehygieniker. Aus Feldpostbriefen von Wehrmachtsangehörigen wird deutlich, dass nur wenige mit den Opfern mitfühlten, viele aber die an Wehrlosen verübten Massaker, die sie als Augenzeugen erlebten, mit Genugtuung aufnahmen. Breiten Raum widmet Friedländer auch dem Versagen der christlichen Kirchen, deren allermeiste Vertreter es vorzogen zu schweigen. Daneben stehen die Berichte jüdischer Überlebender wie Ruth Klüger und Primo Levi, aber auch die Aufzeichnungen von Ghetto-BewohnerInnen, die noch kurz vor ihrem Tod die Ereignisse für die Nachwelt festhielten. Zurückhaltend und differenziert beurteilt Friedländer die Tätigkeit der Judenräte und der Sonderkommandos. Dass der jüdische Widerstand auch in diesem Buch zu kurz kommt, hat Arno Lustiger in seiner ansonsten positiven Besprechung mit einigem Recht angemerkt. (Rheinischer Merkur, 2.11.06)
In der chronologischen Darstellung werden auch wissenschaftlich und/oder geschichtspolitisch umstrittene Grundfragen beantwortet, von denen zwei besonders wichtige - die Entschlussbildung zum Völkermord und die Motive der Mörder - hier gestreift werden sollen. Dass der Entschluss zur Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden letztlich auf Hitler zurückgeht, ist in der Geschichtswissenschaft heute weitgehend unumstritten. Das war nicht immer so. 1984 wurde auf dem hochkarätig besetzten Stuttgarter Kongress "Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg" noch kontrovers über die Frage diskutiert, ob der Völkermord "auf eine Initiative Hitlers zurückging oder sich aus den antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten in einer Akkumulation ergab."
In diesem Streit der "Intentionalisten" und der "Funktionalisten" hatte Friedländer schon damals eine Synthese beider Positionen vorgeschlagen: "Die Funktionalisten können zu Recht beanspruchen, dass ihre Position eine sehr viel breitere Verantwortlichkeit für die begangenen Verbrechen impliziert, als dies bei der entgegengesetzten Position der Fall ist, die Hitler als den Hauptverursacher und die einzige Befehlsgewalt ansieht. Andererseits beinhaltet die Position der Intentionalisten das Schlüsselelement der Vorsätzlichkeit. Planung und Vorsatz an der Spitze führen zwangsläufig zu Planung und Vorsatz auf verschiedenen Ebenen der Hierarchie und zu keiner geringeren Bewusstheit der Ereignisse innerhalb der verschiedenen damit befassten Stellen, als dies in der funktionalistischen Position impliziert ist." (2)
In seinem neuen Buch geht Friedländer auch auf den Zeitpunkt der Entschlussbildung ein. Einige Historiker haben diesen auf den 17. September 1941 terminiert; als Beweis nennen sie einen an diesem Tag geschriebenen Brief Himmlers an Arthur Greiser, den Reichsstatthalter im Warthegau. Aus diesem Brief zitiert auch Friedländer: "Der Führer wünscht, dass möglichst bald das Altreich und das Protektorat vom Westen nach dem Osten von Juden geleert und befreit werden." Gleichwohl sieht Friedländer nicht diesen einen Tag, sondern den Zeitraum zwischen September und Dezember 1941 als entscheidend an. Hierfür sprechen eine Reihe von Indizien, darunter auch Hitlers öffentliche Reden. Im Herbst fand seine "rhetorische Zurückhaltung beim Thema Juden ... nach längerer Zeit ein abruptes Ende", schreibt Friedländer. Fünf Mal in zwei Monaten wiederholte Hitler seine Drohung vom 30. Januar 1939, die "jüdische Rasse in Europa" werde im Falle eines Weltkriegs vernichtet werden.
Einigende Weltanschauung "Erlösungsantisemitismus"
Angesichts des bevorstehenden Kriegseintritts der USA, der dann am 8. Dezember 1941 vollzogen wurde, kombinierte Hitler in seinen Vernichtungsdrohungen antisemitischen Wahn mit realpolitischen Überlegungen, wie Friedländer zeigt: "Entweder würde das Schicksal, das den Juden drohte, Roosevelt schließlich (infolge jüdischen Drucks) zum Einlenken zwingen, oder - wenn Roosevelt und die Juden auf einen Krieg mit dem Reich versessen waren - der gefährlichste innere Feind wäre bereits von deutschem Boden vertrieben."
Nach Abwägung aller Umstände kommt Friedländer zu dem Schluss, dass die Entscheidung für den Völkermord " erstmals im Oktober oder sogar noch früher erwogen worden sein" mag, dass sie aber endgültig erst gefallen sei, "als die Vereinigen Staaten in den Krieg eingetreten waren, die sowjetischen Truppen Gegenangriffe führten und der gefürchtete ,Weltkrieg`, im Osten und im Westen, Wirklichkeit wurde."
Während Friedländer sich in der Frage des Zeitpunkts der Entschlussbildung zu Recht nicht genau festlegt, lässt er in der noch umfassenderen Frage nach den Motiven des Mordprogramms keinen Zweifel. Der antijüdische Fanatismus der Nazis, der zunehmend auch die Massen der "Volksgenossen" erfasste, war kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck - eine Weltanschauung, nach der es im Weltkrieg um Sieg oder Untergang ging. Nur eine Seite konnte überleben - das deutsche Volk oder das "Weltjudentum", das in gleicher Weise den Bolschewismus und die Plutokratie zu Werkzeugen seiner Welteroberungspläne gemacht hatte. Wie sehr insbesondere Hitler an seine Wahnideen glaubte, wird an einer Episode deutlich, in der Goebbels im persönlichen Gespräch mit Hitler die Echtheit der (bekanntlich vom zaristischen Geheimdienst gefälschten) "Protokolle der Weisen von Zion" bezweifelt - im Unterschied zu seinem "Führer", der den Standpunkt vertritt, "dass die Zionistischen Protokolle absolute Echtheit beanspruchen können." Eine letztlich zweitrangige Frage - "der Führer ist der Meinung, dass die Juden gar nicht nach einem festgelegten Programm zu arbeiten brauchten; sie arbeiten nach ihrem Rasseinstinkt ..."
Beispiele für die von Goebbels koordinierte antijüdische Propaganda hat Friedländer in großer Zahl zusammengetragen. In der Einleitung referiert er auch das im ersten Band ausgearbeitete Konzept des "Erlösungsantisemitismus" noch einmal. Deren TrägerInnen teilten den "Glauben an die Reinheit der Rassengemeinschaft, an die Überwältigung von Bolschewismus und ,Plutokratie` und an die endliche Erlösung in einem Tausendjährigen Reich." Allerdings reicht diese ideologische Übereinstimmung zwischen Hitler und seinen fanatischen AnhängerInnen offensichtlich nicht aus, um die "unvermeidliche historische Frage" zu klären, "warum Millionen und Abermillionen von Deutschen ihm (Hitler) bis zum Ende blind nachfolgten, warum viele am Ende immer noch an ihn glaubten und nicht wenige auch noch danach..." Friedländer stellt diese Frage auf den letzten Seiten des abschließenden Kapitels. Seine Verweise auf Hitlers innenpolitische, diplomatische und militärische Erfolge sind weder neu noch als Antworten völlig zufrieden stellend. Das kann auch gar nicht anders sein - schon in der Einleitung schreibt Friedländer, dass er seine Untersuchung vorlegt, "ohne das anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit völlig zu beseitigen oder einzuhegen."
Dort stellt er auch klar, dass er auf eine Analyse kontroverser Deutungen der Shoah weitgehend verzichtet; lediglich Daniel Jonah Goldhagen und Götz Aly werden von ihm für ihre monokausalen Interpretationen kritisiert. "Eine Analyse dieser Deutungen würde ein anderes Buch erfordern", schreibt er und verweist in der Fußnote auf Yehuda Bauers Reflexionen "Die dunkle Seite der Geschichte" (Frankfurt am Main 2001; vgl. Rezension in ak 458). Beide Bücher zusammengenommen dürften am ehesten den heutigen Stand der Shoah-Forschung in einer Gesamtperspektive widerspiegeln. Sie zu lesen macht Mühe. Aber ohne die geht es nun mal nicht, wenn man sich über das singuläre deutsche Menschheitsverbrechen Klarheiten erarbeiten will.
Js.
Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945. C.H. Beck Verlag, München 2006, 869 Seiten, 35,90 EUR
Anmerkungen:
1) Saul Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt ... Frankfurt am Main 1991, S. 12
2) In: Eberhard Jäckel/Jürgen Rohwer: Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlussbildung und Verwirklichung. Frankfurt am Main 1987, S. 34f.