Der bizarre Klang der Revolte
Ein Rückblick auf das linksradikale Zeitungsprojekt agit 883
Peter Paul Zahl nannte sie nur "die Zeitung". Das war 1979, sieben Jahre nach dem Ende der agit 883. Fast 30 Jahre später haben andere eine andere Geschichte dieses außergewöhnlichen linksradikalen Zeitungsprojekts geschrieben - weniger literarisch, aber nicht weniger lesenswert. In den Jahren 1969 bis 1972 war die agit 883 zweifellos die politisch bedeutsamste Zeitung der undogmatischen und radikalen Linken zumindest in Berlin. Zeitweise erzielte das Blatt eine wöchentliche verkaufte Auflage von 10.000 Exemplaren.
Die agit 883 erschien in einer der entscheidenden Umbruchphasen der bundesdeutschen Neuen Linken. Der studentische Protest hatte seinen Höhepunkt gerade erreicht, der Zerfallsprozess des SDS war unübersehbar, die diversen marxistisch-leninistischen Parteigründungsprojekte zeichneten sich genauso am Horizont ab wie die Hinwendung zu Formen von bewaffneter Politik und Stadtguerilla. Die Revolte von SchülerInnen und Arbeiterjugendlichen war genauso in der Politszene der Frontstadt angekommen wie das vielfältige Feld des alternativen und mehr oder weniger subversiven "Undergrounds" aus Kneipen, Buchläden, Drogen, Musik, Kommunen und anderen Kollektivexperimenten.
Die unterschiedlichen Strömungen und Szenen, die in den 1970er Jahren das Spektrum der linken und alternativen Subkultur bilden sollten, waren Ende der 1960er Jahre erkenn- und erahnbar, aber noch lange nicht scharf oder gar unversöhnlich von einander getrennt. Maoistische ParteigründerInnen diskutierten noch mit AnhängerInnen des bewaffneten Kampfes, AktivistInnen aus Betriebsbasisgruppen mit StudentInnen, politisierte Freaks mit AnarchistInnen. Hart und unerbittlich wurden die Debatten geführt, oft rechthaberisch und voller gegenseitiger Vorwürfe, immer mit der heiligen Inbrunst des revolutionären Eifers. Und dennoch haben sich zwischen 1969 und 1972 alle relevanten Strömungen der radikalen Linken auf die agit 883 als gemeinsames Forum bezogen, unabhängig davon, welche Strömung gerade die Redaktion majorisierte. Hierin lag die Stärke wie auch die politische Bedeutung des Blattes. Ihr Ende 1972 markiert somit auch den Zerfall dieser gegenseitigen Bezugnahme und die zunehmend starre Abschottung der Szenen, Milieus und politischen Diskurse.
Für viele, deren politische Sozialisation erst Mitte der 1970er Jahre begonnen hatte, war die agit 883 bereits ein Mythos, von dem man sich ehrfurchtsvoll erzählen ließ und der immer wieder als Projektionsfläche für die eigenen revolutionären Vorstellungen und Träume diente. Tatsächlich zugänglich war die Zeitung den allermeisten allerdings nicht. Weggebunkert in Privatarchiven und Bibliotheken von Forschungsinstituten hat es niemals in irgendeiner Form ein Reprint dieser Zeitung gegeben - vielleicht auch deswegen, weil die agit 883 wie kaum ein anderes Organ der Linken von der staatlichen Repressionsmaschinerie verfolgt wurde. Razzien in den Redaktionsräumen und bei RedakteurInnen, Beschlagnahmungen ganzer Auflagen bis hin zu Prozessen gegen die DruckerInnen der agit 883 haben die Zeitung von ihrem Anfang bis zum Ende begleitet.
Vergleichbar vielleicht nur mit Ton, Steine, Scherben verkörpert der Mythos der agit 883 den Zusammenhang von Jugendkultur, Revolte, Militanz, Klassenkampf, Kiffen, Musik, Umsturz und Antiautoritarismus. Angesichts einer Geschichtsschreibung, die die Große Revolte der 1960er Jahre zunehmend abwickelt, zähmt und ihre rebellischen Schmuddelkinder im Nachhinein diskreditiert, ist es ungemein sympathisch, wenn jetzt ein Buch vorgelegt wird, dem es erklärtermaßen darum geht, den fernen "Sound der Revolte" in die Gegenwart hinüberzuretten. Dabei ist "agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972" keineswegs ein Lobgesang auf vergangene, bessere Zeiten. Dazu ist nicht nur der zeitliche Abstand zu groß, sondern der Inhalt der agit 883 in vielen Fällen einfach zu krude. Nach einer sehr informativen Einleitung der Herausgeber über den politisch-subkulturellen Sumpf in Berlin Ende der 1960er Jahre, dessen schillernde Blüte die agit 883 war, setzen sich daher die meisten Beiträge in dem Sammelband kritisch bis distanziert-amüsiert mit der Art und Weise auseinander, wie die radikale Linke vor 36 Jahren z.B. Internationalismus, Rassismus, Imperialismus oder nationale Befreiungsbewegungen und bewaffneten Kampf diskutiert hat.
Aus der Fülle der thematisch wie inhaltlich sehr unterschiedlichen Beiträge ragen diejenigen von Massimo Perinelli und Peter Birke heraus. Perinelli analysiert kritisch-ironisch die Sexualitätsdiskurse in der agit 883 und kommt zu dem Schluss: "Die Verachtung des Sexuellen bedeutet das Ende der zerbrechlichen Versuche, Sexualität jenseits von harten Genossenschwänzen und bürgerlicher Sexualmoral zu erproben." Birke hingegen beschreibt den "Traum von der kämpfenden Arbeiterklasse", der angesichts von Septemberstreiks und neuer ArbeiterInnenmilitanz in der radikalen Linken geträumt wurde. Seine Analyse ist auch eine Beschreibung dessen, wie offene Suchprozesse in sozialen Bewegungen - etwa durch die Betriebsbasisgruppen - zunehmend zwischen dem Bürgerkriegsfinalismus der RAF einerseits und der blutleeren Orthodoxie der ML-Gruppen andererseits zerrieben wurde.
Das Buch wartet mit einem besonderen Leckerbissen auf: Auf einer beigelegten CD-ROM haben die HerausgeberInnen aller verfügbaren Nummern der agit 883 erfasst und der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Somit ist es endlich möglich, den Mythos agit 883 durch eigene Anschauung zu knacken: vergangenen revolutionären Zeiten und Taten nachzutrauern, sich über antisemitische Ausfälle zu empören, sich über einen verkürzten Antiimperialismus zu ärgern, sich über skurrile Sex-Kleinanzeigen zu amüsieren, sich über das herrliche Chaos von Mao, Marx, Bakunin, Che und Jimi Hendrix zu freuen, über die Entdeckung neuer revolutionärer Subjekte den Kopf zu schütteln und den - manchmal bizarren - Klang der Revolte noch einmal deutlich zu hören.
dk
Rotaprint 25 (Hrsg.): agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2006, 294 Seiten, 22 Euro