Aufgeblättert
(Zeit-)Geschichtsforschung
Dass das Deutsche Kaiserreich Mitwisser des Völkermordes an den Armeniern war, ist mittlerweile unbestritten. Im aktuellen Heft der Sozial.Geschichte wird am Beispiel des preußischen Generalfeldmarschalls Colmar Freiherr von der Goltz nachgewiesen, dass deutsche Militärs vom Völkermord nicht nur wussten, sondern das Vorgehen ihrer türkischen Bündnispartner auch akzeptierten. So billigte Goltz den Deportationsbefehl vom Frühjahr 1915, weil er in den Armeniern eine militärische Bedrohung sah. Auch nachdem er Augenzeuge von Massakern geworden war, änderte er diese Position nicht. Auf Carl Alexander Krethlows Aufsatz über Goltz, einem von drei Beiträgen in der Rubrik "Forschung", folgt unter "Zeitgeschehen" ein Text von Georg Fülberth "Zu Wolfgang Abendroths angeblichen DDR-Kontakten". Fülberths widerlegt ein zur gezielten Falsch-Behauptung mutiertes Gerücht: Abendroth, Vordenker und Bezugspunkt der 68er Revolte, hätte "innerhalb der westdeutschen Linken auf der Grundlage konkreter Absprachen mit dem SED-Politbüro" agiert. Diese Behauptung des FAZ-Autors Jochen Staadt sei genauso haltlos wie die These von der "barbarischen und gar nicht schönen Infiltration der Studentenbewegung durch die Organe der Staatssicherheit", so wörtlich Wolfgang Kraushaar, ebenfalls in der FAZ.
Js.
Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 3/2006, Verlag Peter Lang, Bern, 118 Seiten, 13,30 EUR, www.peterlang.net
Migrantinnen
In der Migrationsforschung wurden Flüchtlinge lange Zeit als genuin männlich gedacht, Migrantinnen kamen als selbstständige Subjekte von Migration nicht vor. Dies hat sich in den letzten Jahren zwar geändert, wie beispielsweise die Diskussion um die "Feminisierung von Migration" zeigt. Nach wie vor werden jedoch geschlechtsspezifische Voraussetzungen und Folgen von Migration nicht ausreichend analysiert und Frauen ausschließlich als Opfer von Frauenhandel und Zwangsprostitution gesehen. Demgegenüber setzt die neue Frauen-Projektredaktion der Zeitschrift Argument mit ihrem Themenheft "Migrantinnen, Grenzen überschreitend" auf das Sichtbarmachen individueller weiblicher Migrationsbiografien und betont, dass Migration zunächst immer auch ein selbstbewusster Akt ist. Eine Stärke des Heftes ist es, dass hier Texte zusammengestellt wurden, die die Ambivalenz der Debatte um Geschlecht und Migration zeigen. So widmet sich ein Kapitel der Diskussion um den "Fall" Necla Kelek, der auch im Redaktionsumfeld für Kontroversen gesorgt hat. Im Februar 2006 veröffentlichte Die Zeit den Aufruf "Gerechtigkeit für die Muslime" von Mark Terkessidis und Yasemin Karakasoglu, der von ca. 60 SozialwissenschaftlerInnen unterstützt wurde. Der Aufruf richtet sich gegen die kulturalistische und vorurteilsbeladene Art und Weise, wie in Deutschland Kritik an den frauenverachtenden Praxen in islamischen Gesellschaften geäußert wird. Anlass war u.a. die Rezeption des Bestsellers "Die fremde Braut" von Necla Kelek, der nicht nur im Feuilleton bejubelt wurde, sondern der Autorin auch den Geschwister-Scholl-Preis einbrachte. María Castro Varela und Nikita Dhawan kritisieren nun diese Petition selbst als eine die herrschende Logik verstärkende Intervention und bemängeln, dass im Aufruf in essentialistischer Weise von dem Islam und den muslimischen EinwanderInnen gesprochen werde. Beide Argumentationen - die der PetitionsbefürworterInnen und ihrer GegnerInnen - sind nachvollziehbar. Deutlich wird, wie wichtig der jeweilige Kontext und die Sprechposition sind. So gleicht der Fall Kelek - so das Redaktionskollektiv - einem "politischen Lehrstück, in dem es darum geht, mit Widersprüchen umgehen zu lernen". In diesem Sinne ist das Argument-Heft im produktiven Sinne "Grenzen überschreitend".
Nicole Vrenegor
Das Argument 266: Migrantinnen, Grenzen überschreitend, 48 Jahrgang, Heft 3/2006, Argument-Verlag Berlin 2006, 11 EUR, www.argument.de
Vom Kalten Krieg zum Neoliberalismus
Frank Deppe hat den dritten Band seiner 1999 begonnenen Reihe "Politisches Denken" vorgelegt. Dieser hat die Zeit des Kalten Kriegs bzw. des Fordismus und seines Niedergangs zum Gegenstand. Deppe bricht mit einem Strukturprinzip der bisherigen Bände, nämlich der verknüpfenden Darstellung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen und politischen Denkens. Er begründet das mit dem Umfang des zu bearbeitenden Stoffs, der Zeitspanne zwischen Kriegsende und Zusammenbruch des Realsozialismus. In wie weit die Trennung sinnvoll ist, lässt sich wohl erst mit dem zweiten Teilband beurteilen, in welchem u.a. Arendt, de Beauvoir (die ersten Frauen nach fast 1.000 Seiten!), Sartre, Abendroth, Galbraith und Ché Guevara verhandelt werden sollen. Wie Deppe diese Auswahl begründet, bleibt ebenfalls offen. Die Ausbreitung des Fordismus nach dem Ende des Faschismus zeigt Deppe vor dem Hintergrund einer allgemeinen Überlagerung gesellschaftlicher Konflikte mit dem Ost-West-Gegensatz, der für ihn die "höchste Form der Zuspitzung einer antagonistischen Freund-Feind-Konstellation" darstellt. Dieses "dominante Konfliktmuster" sei Grundlage einer ideologischen Mobilisierung gewesen, die es linker Theorie schwer machte und zugleich ein Ausdruck der "Macht des liberalen Denkens" war. Vor allem mit diesen Aussagen legt Deppe wohl die Parameter für den zweiten Teilband. Das vorliegende Buch ist ein hervorragender Beitrag zur Kapitalismusanalyse. Überzeugend ist Deppes Darstellung vor allem deshalb, weil sie im Gegensatz zu vielen anderen die realexistierenden Sozialismen und die sog. Dritte Welt nicht ausblendet, sondern als Teil der Weltordnung und nicht einfach als "Peripherie" begreift. Noch eine weitere Stärke gilt es zu betonen: Während in den letzten Jahren die Durchsetzung des Neoliberalismus vor allem als ideologisches Projekt erörtert wurde, analysiert Deppe diese vor allem als Resultat einer tief greifenden ökonomischen Krise. Die LeserInnen des Buches entlässt Deppe in freudiger Erwartung des vierten und wohl letzten Bandes.
Ingo Stützle
Frank Deppe: Politisches Denken im Kalten Krieg. Teil 1: Die Konfrontation der Systeme. VSA Verlag, Hamburg 2006, 332 Seiten, 24,80 EUR, www.vsa-verlag.de
Aufstieg und Fall der IG Farben
Die IG Farben nutzte beide Weltkriege zum Aufbau eines Chemiemonopols. Carl Duisberg, der wichtigste Mann im deutschen Chemiekartell, gehörte zu den Pionieren der Rekrutierung ausländischer Zwangsarbeiter in Deutschland. Schon während des Ersten Weltkriegs setzte er belgische Zwangsarbeiter ein. Über den "Keppler-Kreis" gehörte die IG Farben zu Hitlers Wegbereitern. Sie unterstützte die NSDAP-Auslandsorganisation und stellte ihre Auslandsniederlassungen für Parteiarbeit und Spionage zur Verfügung. Früh zeigte ihre Leitung ein Interesse an den Rohstoffen und Arbeitskräften Südosteuropas. Nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich bereitete sie subversiv die Ausbeutung dieser Region vor. Auch für den Fall der Eroberung Englands durch Deutschland hatte die IG Farben Pläne in den Schubladen. Während des Zweiten Weltkriegs betrieb sie einen Dreieckshandel mit kriegswichtigen Gütern. Ihre direkte Teilnahme an Verbrechen gegen die Menschlichkeit weist Janis Schmelzer nach "anhand des Sklavenarbeitsprogramms, der medizinischen Experimente an Menschen, der Errichtung firmeneigener KZs, der Produktion von Gift-Gasen für den Fronteinsatz und Zyklon B zur Vernichtung von Häftlingen" (Einleitung). Das Buch ist gut recherchiert. Es mischt Firmensoziologie und einen geschichtsmaterialistischen Ansatz, bei dem auch die Arbeiterbewegung in den Betrieben der IG Farben thematisiert wird. Formulierungen wie "heldenhafte Kämpfe" der Chemiearbeiter sollte man dem Autor nachsehen.
Friedrich Paul Heller
Janis Schmelzer: IG Farben : Vom "Rat der Götter": Aufstieg und Fall. Schmetterling-Verlag Stuttgart 2006, 199 Seiten, 14,80 EUR, www.schmetterling-verlag.de