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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 513 / 19.1.2007

Aufgeblättert

Die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg

Ein "Meisterwerk über ein besonders in Deutschland kaum beachtetes Kapitel des Zweiten Weltkriegs" sei das Buch der Londoner Historikerin Catherine Merridale über das Leben des "gewöhnlichen russischen Soldaten, der selbst von den eigenen Leuten ,Iwan` genannt wurde", schreibt Jörg Baberowski, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin. Das ist denn doch ein stark übertriebenes Lob. Dem Buch fehlt fast jede Reflexion über die Motive der Rotarmisten, ihre Leidensfähigkeit und Verbissenheit im Kampf gegen die faschistische Bestie - Eigenschaften, denen die Menschheit den Sieg der Anti-Hitler-Koalition über Nazi-Deutschland vor allem verdankt. Weitgehend ignoriert wird auch der Beitrag, den die sowjetische Führung, trotz aller berechtigten Kritik an ihren Fehlentscheidungen und Versäumnissen, zum Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" geleistet hat. Wer zu diesem Thema ein "Meisterwerk" lesen will, sei auf Richard Overys Buch "Russlands Krieg 1941-1945" (Reinbek 2003; vgl. Rezension in ak 481) verwiesen. Catherine Merridales Stärke besteht in der anschaulichen Schilderung des Kriegsalltags. Sie verbirgt auch nicht ihre Sympathie für die Helden dieses Krieges, die Übermenschliches geleistet haben. Hunderte von ihnen hat sie für ihr Buch befragt. Herausgekommen ist eine Erzählung, die den Veteranen ein verdientes Denkmal setzt.

Js.

Catherine Merridale: Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939-1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, 474 Seiten, 22,90 EUR

Simone Weil als Anarchistin

Sie arbeitete als Lehrerin und Fabrikarbeiterin, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg in der Kolonne Durruti und wurde später zur christlichen Mystikerin: Simone Weil (1909-1943). Die französische Philosophin ist im deutschsprachigen Raum vor allem als Christin bekannt, in den Diskussionen der Linken hat sie daher kaum eine Rolle gespielt. Das könnte sich jetzt ändern. Der Verlag Graswurzelrevolution, ein Ableger der gleichnamigen gewaltfrei-anarchistischen Monatszeitung, setzt mit einem Sammelband zu Simone Weil seine libertär-pazifistische Geschichtsschreibung fort. Anstatt sie den Religiösen zu überlassen, arbeitet der Band eine rund zehnjährige anarchistische Phase im Leben Weils heraus, die auch durchaus atheistisch war. Durch die interessante Kombination von Zeitdokumenten - Briefen an und von Weil, Artikel von ihr und über sie - und eher wissenschaftlichen Texten, lässt sich schnell nachvollziehen, warum ihre Werke in Frankreich nach ihrem Tod von Albert Camus herausgegeben und auch in linken Kreisen diskutiert wurden. Bei einer Deutschlandreise Anfang der 1930er Jahre kritisierte sie den ultranationalistischen Kurs der deutschen KommunistInnen und deren partielle Zusammenarbeit mit den Nazis scharf. "Was soll man von einer revolutionären Partei denken", schrieb Weil über die KPD, die behauptet, "die ,Ketten von Versailles lasten täglich drückender auf den deutschen Arbeitern`?". Auch über die anarchistischen Milizen in Spanien stellte sie "Unwillkommene Betrachtungen" (1936) an, in denen sie deren Gewaltexzesse tadelte, sowie Wehr- und Arbeitspflicht kritisierte.

Jens Kastner

Charles Jacquier (Hg.): Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil und der Anarchismus. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2006, 380 Seiten, 24,80 EUR

Eine Camorra-Geschichte

Vom Aufstieg und Fall eines Camorra-Clans in der Provinz Caserta (bei Neapel) erzählt Nanni Balestrini, Autor linker Kultbücher wie "Wir wollen alles" und "Die Unsichtbaren", in seinem neuen Buch "Sandokan". 2004 im italienischen Original erschienen, liegt es nun in Max Henningers guter deutscher Übersetzung als Taschenbuch bei der Assoziation A vor. "Eine Camorra-Geschichte": In dem öden Landstrich, wo es nichts gibt - "kein Kino kein Theater keine Bibliothek keinen Park keine anständige Schule" -, erscheint vielen Jugendlichen der Weg in die organisierte Kriminalität als einziger Ausweg. Ein trügerischer Ausweg, wie der Ich-Erzähler, ein jugendlicher Einzelgänger, sehr wohl weiß. Auf zweifelhaften Ruhm und schnellen Reichtum folgt oft ein tödliches Ende - die in den vergangenen Jahren in der Region um Neapel blutig ausgetragenen Bandenkriege belegen, dass Balestrini hier kein bisschen übertreibt. Realistisch ist auch die Schilderung des Systems von Korruption und Verfilzung zwischen politischen Parteien und Clans: In dem vergleichsweise harmlosen und fast schon komischen Kapitel "Die Deponie" schildert der Erzähler die durch EU-Gelder ermöglichten Betrügereien mit landwirtschaftlicher Überproduktion - auch das ist, wie der Drogenhandel und die Schutzgelderpressung, eine Einnahmequelle für die Camorra. Politischer Widerstand erscheint aussichtslos: Wo die Clans und die von ihnen bezahlten Parteien herrschen, haben oppositionelle Bestrebungen keinerlei Entfaltungsmöglichkeit. Eine wichtige Erkenntnis für romantisch veranlagte Linke, von denen einige, zumal in Deutschland, Mafiosi immer noch als bewaffnete "Rebellen" gegen den Staatsapparat verklären. Der Anti-Held in Balestrinis Geschichte ergreift schließlich die Flucht: "ich habe mich zum Bahnhof bringen lassen und habe mir selbst wuterfüllt gesagt dass ich in meinen Ort nie wieder zurückkehren werde". Ein spannendes Buch, dessen Lektüre durch Balestrinis Marotte, auf jede Art von Satzzeichen zu verzichten, leider etwas erschwert wird.

Js.

Nanni Balestrini: Sandokan. Eine Camorra-Geschichte. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2006, 142 Seiten, 13 EUR

Revolutionssteuer und Schutzgeld

Fernando Molica, der Autor des spannenden Krimis "Krieg in Mirandao", wurde 1961 in Rio de Janeiro geboren. Dort arbeitet er als Journalist und Korrespondent für diverse Zeitungen und für einen TV-Sender. Vor diesem persönlichen Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass ein unterforderter, leicht genervter Journalist eine, wenn auch nicht entscheidende, Rolle in dieser Geschichte spielt: Fontoura sucht mal wieder eine spannende Story für die Titelseite, und er ist auch einer ebenso merkwürdigen wie gefährlichen Geschichte auf der Spur. Das organisierte Verbrechen herrscht in einer Favela, der Drogenhandel boomt, mit Bestechung der Polizei lässt sich alles regeln. Der Aussichtslosigkeit dieser Situation kann trotz engagierter Pfarrer und NGOs niemand entkommen. Da entwickelt eine Gruppe linksradikaler StudentInnen einen Plan und sucht ausgerechnet diesen Ort aus, um eine soziale Revolution zu starten. Die revolutionäre Avantgarde schreckt nicht vor einem Zweckbündnis mit dem lokalen Drogenbaron Marra zurück: Revolutionssteuer statt Schutzgelderpressung, mal was Neues. Dem Drogenboss ist es völlig egal, mit wessen Hilfe er sein kleines Imperium und damit seine Macht vergrößern kann. Doch ein paar Dinge entwickeln sich anders als geplant, denn da sitzen noch ganz andere an den Hebeln der Macht. Ein spannender Krimi, der Grenzen auslotet zwischen Moral und Korruption, zwischen persönlichem Wagnis, Engagement, Träumen und Profit, Macht und Machtzuwachs - leider ganz und gar nicht unvorstellbar, sondern ziemlich realistisch.

Raphaela Kula

Fernando Molica: Krieg in Mirandao. Krimi aus Rio. Edition Nautilus, Hamburg 2006, 187 Seiten, 13,90 EUR