Schäuble erklärt den Krieg
Der Abschuss entführter Flugzeuge soll durch eine Grundgesetzänderung ermöglicht werden
Anfang 2006 hatte das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass der Abschuss von Flugzeugen als "fliegende Bomben" nach dem Grundgesetz unzulässig ist, wenn sich Unschuldige darin befinden. Nun wartet Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit einem neuen Vorschlag auf, um für den Fall eines "terroristischen Anschlags" durch ein Flugzeug gewappnet zu sein. Seine einfache Lösung: Wenn die gegenwärtigen Verfassungsbestimmungen keine "effektive Sicherheitspolitik" ermöglichen, dann muss wohl die Verfassung geändert werden.
Nachdem im Januar 2003 ein geistig verwirrter junger Mann ein Segelflugzeug entführt hatte und längere Zeit, aber schließlich ohne Folgen, über dem Raum Frankfurt am Main geschwebt war, war endgültig klar: Ein "starker Staat" darf hier in Zukunft nicht zusehen. Schließlich sei auch in Deutschland eine Flugzeugentführung durch TerroristInnen nicht auszuschließen. Wie allerdings ließe sich ein dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center vergleichbares Szenario verhindern?
Der mehrheitlich rot-grüne Bundestag verabschiedete ungefähr zwei Jahre nach dem Vorfall in Frankfurt am Main das so genannte Luftsicherheitsgesetz. Dies sah vor, dass die Luftwaffe im Ernstfall ein entführtes Passagierflugzeug gezielt abschießen darf, wenn auf diese Weise verhindert werden kann, dass ein Flugzeug als Waffe missbraucht wird. Es wurde argumentiert, dass die unschuldigen InsassInnen des Flugzeuges in jedem Fall dem Tode geweiht seien. Demnach sei es gleichgültig, ob der Staat, sei es auch ein paar Minuten früher, das "Todesurteil vollstrecke". Das Leben derjenigen sei daneben höher einzustufen, die durch einen bevorstehenden Anschlag gefährdet seien, da in der Regel mehr Menschen auf dem Boden gefährdet seien, als sich im Flugzeug befänden.
Bundeswehr im Inneren dank Quasi-Verteidigungsfall
Zunächst war und ist tatsächlich unklar, wie in einem solchen Fall eindeutig eine Gefahrenlage festgestellt werden soll. Die Vereinigung Cockpit legt dar, dass eine solche Feststellung unter Zeitdruck allenfalls auf Verdacht, nicht aber auf Grundlage gesicherter Erkenntnisse getroffen werden könne. Nicht jedoch deshalb, sondern aus anderen Gründen erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelung später für verfassungswidrig. So sei die Bundeswehr nicht zuständig für einen derartigen Einsatz im Inneren. Das Grundgesetz verbiete zudem eine Abwägung von Menschenleben. Darüber hinaus würden die InsassInnen des Flugzeuges im Hinblick auf die Verhinderung eines bevorstehenden Anschlags zu reinen Objekten staatlichen Handelns gemacht. Dies verstieße gegen den Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Nun hat das Bundesinnenministerium einen neuen Vorschlag unterbreitet, um das Thema Luftsicherheit unter Dach und Fach zu bringen. Dafür soll die Verfassung geändert werden. Der Vorschlag enthält zwei fundamentale Neuerungen, die die Diskussion um Sicherheit und Verteidigung in Deutschland auf eine neue Stufe heben. In der Verfassung soll festgeschrieben werden, dass bei einem "elementaren Angriff auf Gemeinschaftsgüter" ein so genannter Quasi-Verteidigungsfall vorliegt. Eine Flugzeugentführung wäre nach den Vorstellungen des Ministeriums ein solch elementarer Angriff auf Gemeinschaftsgüter. Zwei Konsequenzen ergäben sich aus der Verfassungsänderung. Zum einen würde sie ermöglichen, dass die Bundeswehr für einen entsprechenden Einsatz zuständig wäre. Zum anderen stellte ein Quasi-Verteidigungsfall den Ausnahmezustand dar, während dem die Grundrechte außer Kraft gesetzt und eine Abwägung von Menschenleben zulässig wäre.
Es wird seit geraumer Zeit darüber diskutiert, ob die Bundeswehr im Inneren tätig werden darf. Nach der derzeitigen Verfassungslage darf sie dies vor allem im Verteidigungsfalle, worunter nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes allein die Abwehr eines militärischen Angriffes zu verstehen ist. Ein "terroristischer Angriff" zählt dazu nicht. Die Bundeswehr darf sonst im Inneren bisher nur in Ausnahmefällen eingreifen, etwa als Unterstützung der Polizei bei Naturkatastrophen oder einem anderen schweren Unglücksfall.
Diese begrenzte Kompetenz ist Ausdruck der bundesdeutschen Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur. Sie ist in Deutschland, im Vergleich zu anderen Staaten, stark dezentral organisiert. Man unterscheidet daher im Bereich der Verteidigung zwischen so genannter innerer Sicherheit als Zuständigkeitsbereich der Polizeibehörden und äußerer Sicherheit als Tätigkeitsfeld des Militärs. Die äußere Sicherheit beschränkt sich grundsätzlich auf den Schutz der Außengrenzen und der territorialen Integrität. Das Militär ist zugleich mit andersartigen Einsatzbestimmungen und verstärkter Waffengewalt ausgestattet. Diese dezentralen Strukturen haben historischen Ursprung und führen zu einer gewissen Gewalt- und Machtbegrenzung des Staates. Darüber hinaus birgt eine militarisierte Gefahrenbekämpfung in der Innenpolitik buchstäblich mehr Sprengstoff, da bereits die Vorgehensweise in noch erheblicherem Maße auf Konfrontation und Ausschaltung des Feindes angelegt ist. Diese Sicherheitsarchitektur wird ebenfalls an der Trennung von Geheimdiensten und Polizei deutlich.
Die Trennlinien zwischen Militär und Polizei verschwimmen zusehends, da die Aufgabenbereiche beiderseits erweitert werden. Zunächst vergrößert sich der Zuständigkeitsbereich der Polizei, vorrangig bisher auf Bundesebene. Die so genannte Bundespolizei, der frühere Bundesgrenzschutz, ist zunehmend an "Auslandsmissionen", so zum Beispiel in Bosnien und dem Kosovo beteiligt. Dies basiert auf unklarer Rechtslage und mit teils undurchsichtiger "Mission". Der Aufgabenbereich der Bundeswehr wird gleichfalls immer umfassender definiert. Zwar kommen ihr bisher noch keine vormals polizeilichen Aufgaben im Inneren des Bundesgebietes zu. Allerdings wird der Begriff der äußeren nationalen Sicherheit nicht mehr als reine Verteidigung der Außengrenzen im Falle eines militärischen Angriffs, sondern weit reichender im Sinne einer Verhütung jeglicher Konflikte sowie des Schutzes beliebiger Rechtsgüter verstanden. Die Gefahr für die nationalstaatlichen Grenzen ist mangels konventioneller Kriege kleiner geworden. Es werden indes neue Aufgaben gesucht, und angesichts neuartig entdeckter Bedrohungspotenziale auch gefunden. So wird, laut dem bekannten Zitat des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck, die Sicherheit Deutschlands mittlerweile am Hindukusch verteidigt.
Trennlinie zwischen Polizei und Militär verwischt
Begründet wird dieser Aufgabenzuwachs stets mit der Asymmetrie von Konflikten und der Entstaatlichung von Kriegen. Mit der Undurchsichtigkeit der Konflikte, die zugleich an jeder Ecke eine Gefahr für die nationale Sicherheit erwarten lässt, wird der Tätigkeitsbereich des Militärs sukzessive erweitert. Bisher zwar nur außerhalb, bald aber wahrscheinlich auch innerhalb der staatlichen Grenzen: Denn angesichts dieser Entwicklung erscheint nur konsequent, die Trennung von äußerer und innerer Sicherheit künftig gänzlich aufzugeben und im Falle einer "terroristischen Bedrohung" auch im Inneren militärisch einzugreifen. Das Trennungsgebot zwischen Geheimdiensten und Polizei wird übrigens ebenfalls, zuletzt insbesondere durch die Einrichtung der Anti-Terror-Datei, bereits zunehmend aufgeweicht. Sicherheit und Verteidigung wird zu Gunsten eines handlungsfähigeren und stärkeren Staates zentralisiert.
Der Vorschlag Schäubles öffnet dieser Entwicklung die Tür. Er bereitet damit zugleich den verfassungsrechtlichen Boden für weitergehende Regelungen, die die Innenpolitik zunehmend militarisieren werden. Diese Diskussion hat freilich nicht am 11. September 2001 begonnen. Schäuble hatte bereits 1993, damals schon einmal Innenminister, gefordert, die Bundeswehr als Unterstützung der Polizei einzusetzen, um etwa illegale Einwanderer an den Landesgrenzen aufzuhalten. Sein Argument auch zu dieser Zeit: Im Zeitalter weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalen Terrorismus würden die Grenzen zwischen äußerer und innerer Sicherheit verwischen. Nun scheint die Zeit reif: Nachdem der "Bürger in Uniform" keine Ängste mehr hervorruft und sich durch die Unterstützung bei der Bekämpfung des Oderhochwassers 1997 bevölkerungsweit Anerkennung verschafft hat, steht auch einem militärischen Einsatz im Inland nichts mehr im Wege. Der Innenminister steht dabei keineswegs allein da. Wenngleich die SPD gerne kolportiert, der Verfassungsänderung keinesfalls zustimmen zu werden, steht im zuletzt von der schwarz-roten Bundesregierung vorgestellten "Weißbuch zur Zukunft der Bundeswehr" bezugnehmend auf einen Inlandseinsatz: "Deshalb sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit einer Erweiterung des verfassungsrechtlichen Rahmens für den Einsatz der Streitkräfte." Zustimmung kommt zu guter Letzt auch vom höchsten Gericht: Der Präsident des Bundesverfassungsgericht, Papier, befürwortet ebenfalls eine Grundgesetzänderung für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren im Rahmen der Terrorbekämpfung.
Schäuble beruft sich darauf, dass im Quasi-Verteidigungsfall ein kriegsähnlicher Zustand herrsche, der die Grundrechte auch der unschuldigen InsassInnen im Flugzeug außer Kraft setze. Er geht damit einen Schritt weiter in der Diskussion um Staatsnotstand und Recht: Es geht dabei um die Frage, ob der Staat in Ausnahmesituationen rechtliche Garantien außer Kraft setzen darf.
Forderungen von und Argumente für die Konstruktion eines Ausnahmezustandes haben Konjunktur. Die Fesseln der Verfassung scheinen beizeiten lästig. Man sucht nach Rechtfertigungen zumeist naturrechtlicher Art, um die politischen Ziele zu kaschieren. Die Figur des so genannten Feindstrafrechts wird in diesem Zusammenhang präsentiert, um gefährliche Personen wie etwa Terroristen oder Sexualstraftäter von jeglichem Recht auszunehmen und als reine Gefahrenobjekte zu behandeln. Man beruft sich darauf, dass sich diese Menschen außerhalb der Rechtsordnung bewegten und demnach auch Grundrechte für sie nicht zur Anwendung kämen.
Schäuble will den enthemmten Staat
Der Vorschlag Schäubles zum Luftsicherheitsgesetz und die zu Grunde liegende Argumentation eröffnet eine weitere Dimension staatlicher Gefahrenbekämpfung, indem er auch das Töten Unschuldiger legitimiert. Nun wird also nicht mehr nur eine Person, sondern die gesamte Situation für rechtsfrei erklärt: Es herrscht Krieg, und Rechtsordnungen sind schließlich für derartige Ausnahmezustände nicht geschaffen. Und schließlich handelt der Staat im Notstand für seine BürgerInnen. Vor diesem Hintergrund scheint manch einer gar nicht auf die neue Rechtslage warten zu wollen: Kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im vergangenen Jahr äußerte der Verteidigungsminister Franz-Josef Jung, im Ernstfall ein entführtes Flugzeug auch ohne konkrete gesetzliche Grundlage abschießen zu lassen. Er berief sich auf den übergesetzlichen Notstand. Mit dieser Argumentation könnte man freilich jegliche staatliche Maßnahme - zum scheinbaren Wohl der BürgerInnen - rechtfertigen. Wie man aber auch argumentiert: Mit derartigen Denkfiguren wird die Staatsgewalt jeglicher Fesseln entbunden.
Der Gesetzesvorschlag ist zwar auch juristisch nicht unproblematisch, jedoch gewiss nicht unhaltbar schließlich bieten die wenigen Worte der Verfassung genügend Spielraum. In jedem Fall wäre eine solche Regelung ein großer Schritt auf dem Weg zu einer Militarisierung deutscher Innenpolitik und setzt neue Kräfte frei für die staatliche Repression. Nicht nur in der tatsächlichen Realisierung eines Flugzeugabschusses liegt daher das entscheidende Moment. Vielmehr symbolisiert eine derartige Regelung die enthemmte Macht des Staates. Die Argumentationsmuster können zu einem weiteren Dammbruch und Einfallstor einer zunehmend gewalttätigen Politik werden.
Matthias Lehnert