Kapitalismus und Korruption
Zur politischen Ökonomie des Schwindels
"Enrichissez vous" - Bereichert Euch! Mit dieser Parole kam das Juste Milieu des Großbürgertums, der Geldaristokratie einst in Frankreich zur Macht. Ein unschlagbares Programm von genialer Kürze. Wer sich bereichert, wie schamlos auch immer, nützt nicht nur sich selbst, sondern erweist dem Vaterland einen unschätzbaren Dienst - diese Botschaft hörten ManagerInnen und KapitaleigentümerInnen nur zu gerne.
Nur geriet die Moral ins Wanken, weil nun als sinn- und verdienstvoll galt, was immer privaten Gewinn brachte, gleich auf welche Weise. Korruption, kaufen und verkaufen, was eigentlich nicht käuflich sein soll, Betrug und Schwindel wurden zu alltäglichen Praktiken im Konkurrenzkampf der Bereicherungswütigen. Tradition, Reputation, Kaufmannsehre verloren jedes Ansehen. Bei Balzac und Flaubert kann man nachlesen, wie der Kapitalismus die bürgerliche Gesellschaft untergrub.
Korruption, Schmiergelder, schwarze Kassen, organisierter Betrug und Bilanzfälschungen sind gängige Geschäftspraktiken - nicht nur im Ausland, in Entwicklungs- und Schwellenländern, sondern auch in deutschen Großunternehmen. Gegen 18 der 30 Konzerne im Deutschen Aktienindex (Dax) wurde in den letzten zwei Jahren wegen Betrügereien und Manipulationen ermittelt. Die feinsten Adressen der deutschen Exportindustrie, Weltkonzerne wie VW, BMW und Siemens stehen im Verdacht der Korruption, ihre Manager vor Gericht.
Peter Hartz, Namens- und Ideengeber für die grandios gescheiterten "Hartz-Reformen" ist zurückgetreten - wegen dringenden Korruptionsverdachts. Er ist nur einer von vielen, die im Korruptionssumpf mitgemischt haben. Die Skandale häufen und wiederholen sich - in der Bundesrepublik wie im kapitalistischen Ausland. Es werden immer mehr, in allen Branchen, in allen Ländern. Von Einzelfällen und "schwarzen Schafen" kann keine Rede sein. Europäische Großunternehmen, darunter viele deutsche Konzerne, waren und sind eifrig in vorderster Linie dabei, wo es um Bestechung von RegierungsbeamtInnen und PolitikerInnen im Ausland geht.
Bereichert Euch! - Auf Teufel komm raus?
Nicht nur Weltkonzerne wie Henkel, DaimlerChrysler, Degussa, Siemens und Schering haben im Geschäft mit der Korruption eifrig mitgemischt; mittelständische Firmen trieben es ganz genau so. Dazu passen zwei schlichte Fakten: Zum ersten lebte und lebt eine ganze Branche professioneller VermittlerInnen von der ständig und überall praktizierten Korruption, die als VertreterInnen der deutschen Firmen im Ausland agieren und für ihre speziellen Dienste als Korruptionsvermittler saftige Provisionen kassieren. Zum zweiten waren bis vor kurzem Bestechungsgelder, die deutsche Firmen im Ausland gezahlt hatten, problemlos als Betriebsausgaben von der Körperschaftssteuer absetzbar. Dieser peinliche Zustand wurde in der Bundesrepublik 2002 (auf Druck der UNO) beendet, aber nach wie vor sind Bestechungsgelder in mehreren europäischen Ländern von der Steuer absetzbar, wird Korruption also als normale, legale Geschäftspraxis betrachtet - solange sie im Ausland geschieht.
Die gängige Linie der Verteidigung in den jüngsten Skandalen in Deutschland und anderswo war von herzerfrischender Unverschämtheit: Das tue doch jede/r, das seien allgemein übliche, gängige und alltägliche Geschäftspraktiken; wenn ihre Klienten bestraft würden, müsse man eigentlich jeden Vorstand eines Großkonzerns in Gefängnis stecken, so tönten die hoch bezahlten, auf Wirtschaftsstrafrecht spezialisierten Anwälte und Anwältinnen. Kann sein, dass diese Damen und Herren eine Wahrheit ausplaudern, die sie besser für sich behalten hätten: Wie alltäglich die Korruption, die Betrügerei mittlerweile ist, wie kriminell die ProtagonistInnen des real existierenden Kapitalismus heute überall auf der Welt agieren.
Von Anfang an war der Kapitalismus eine hoch moralische Veranstaltung; er ist es für seine Gläubigen bis heute. Die neoliberale Glaubenslehre braucht keine Religion mehr, da sie den Kapitalismus selbst zur Religion erhebt und die Imperative der kapitalistischen Ökonomie in universelle moralische Normen verwandelt. Walter Benjamin hat die Erhöhung des Kapitalismus zur universellen Kultreligion, in der das permanente Marktgeschehen die Rolle des Kults und der zur Natur verklärte homo oeconomicus die Rolle Gottes spielt, kommen sehen. (1) Moralisch gut und richtig handelt demnach, wer den Kult des Marktes tagtäglich praktiziert und sich der Konkurrenz rückhaltlos unterwirft.
Der historische Kapitalismus hat von religiösen und moralischen Ressourcen gezehrt, die der gegenwärtige Kapitalismus selbst zu zerstören scheint bzw. schon zerstört hat. Adam Smith hielt die "unsichtbare Hand" des Marktes nur so lange für wirksam, wie eine Sozialmoral, die auf Empathie und Sympathie beruhte, dafür sorgte, dass die Privatleute aufeinander Rücksicht nahmen und sich keineswegs hemmungs- und grenzenlos auf Kosten ihrer MitbürgerInnen zu bereichern suchten. Aber diese bürgerliche Sozialmoral ist schon lange nicht mehr das, was sie vielleicht einmal war.
Der laute Ruf nach einer "Wirtschaftsethik", die zum Kapitalismus als Alltagsreligion passt, kommt nicht von ungefähr. Den Mangel spüren selbst die so genannten Eliten der bürgerlichen Gesellschaft: Kapitalismus pur ist keine zureichende Grundlage für ein lebensfähiges Gemeinwesen, der Kult des abstrakten Reichtums kann Moral nicht ersetzen. Allerdings geht es dem Kapitalismus mit der Moral wie mit der Natur: wenn die Ressourcen einmal aufgezehrt sind, lassen sie sich nicht ersetzen.
Zum gegenwärtigen Kapitalismus gehört die alltägliche Korruption, der systematische Schwindel ebenso wie die international organisierte Kriminalität und der "crony capitalism", der "Kapitalismus der schmutzigen Hände". Die Freunde und Freundinnen der "reinen Theorie" mögen die Nasen rümpfen; die Kritik der politischen Ökonomie kann auf die Kritik des Schwindels und der "schwarzen" Ökonomie nicht verzichten.
Die moralische Ökonomie des modernen Kapitalismus
Für Schwindel und Korruption gab und gibt es strukturelle Ursachen, ebenso wie für ihre Blüte in jüngster Zeit. Kapitalverwertung ist ein mühsames, riskantes Geschäft; es kostet Zeit, und Mühe, kann Verluste bringen, sogar die Pleite droht. Daher waren KapitalistInnen aller Art seit jeher anfällig für die "Sucht, sich zu bereichern, nicht durch die Produktion, sondern durch die Eskamotage (Diebstahl; MK) schon vorhandenen fremden Reichtums". (MEW 7, 14f.) Der mühsame und risikoreiche Produktionsprozess erscheint den KapitalistInnen nur als "ein nothwendiges Übel zum Behuf des Geldmachens". Daher werden mit schöner Regelmäßigkeit "alle Nationen kapitalistischer Produktionsweise ... periodisch vom Schwindel ergriffen, worin sie ohne Vermittlung des Produktionprocesses das Geldmachen vollziehen wollen". (MEGA II.11, 591)
Solche Schwindelblüten erleben wir auch heute, zuletzt in den Boomjahren der "Neuen Ökonomie". Da sich der produzierende Teil der kapitalistischen Weltökonomie seit langem in einer Situation der strukturellen Überakkumulation befindet, hat der Schwindel mittlerweile auch die industrielle Produktion erfasst, er ist permanent geworden. Organisierte Korruption und Schwindel sind der Versuch, die Fallen des Marktes zu meiden, das Marktgeschehen unter Kontrolle zu bekommen - ein rationales Verhalten in einem irrationalen System der allgemeinen Konkurrenz, die immer kostspieliger wird.
In der strukturellen Überakkumulation drängt das überschüssige Kapital auf die Finanzmärkte, werden Fusionen und Übernahmen zur weitaus wichtigsten Form der "realen" (direkten) Investition. Beides verstärkt den Hang zum Schwindel, zur Manipulation. Kapitalismus ist von Anfang an eine Enteignungsökonomie. Enteignung durch Betrug, durch Schwindel, durch geschickte Finanzmanöver statt durch unverhüllte Gewaltanwendung ist heute Trumpf.
In vielen Ländern herrscht eine Form des Kapitalismus, in der Korruption, Betrug und kriminelle Machenschaften alltägliche, fest institutionalisierte und standardisierte Geschäftspraktiken geworden sind, ohne die sich nichts bewegt. Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, China, Brasilien, Mexiko, Indonesien werden für gewöhnlich als Heimstätten des "crony capitalism" genannt. Aber die USA, zumindest einige Sektoren der US-Ökonomie wie der Energiesektor, der militärisch-industrielle Komplex oder die Unterhaltungsindustrie, gehören ebenso dazu. In vielen europäischen Ländern kennen wir eine mildere Variante dieses Typs, in dem die "old-boys-networks" alle Fäden ziehen. In jedem Fall geht es um organisierte Marktmacht und um Zugriff auf die öffentliche Gewalt - den öffentlichen Reichtum nicht zu vergessen. Da es unregulierte und unorganisierte Märkte in der realen Welt des Kapitalismus nur am Rande gibt, ist Korruption ein probates Mittel, um die Regulateure und Kontrolleure der Märkte auf allen Ebenen unter Kontrolle zu bekommen. BeamtInnen und wo möglich auch GewerkschafterInnen oder NGOs zu kaufen, geht schneller und kostet weniger, als sie zu bekämpfen.
Geld machen, ohne die Gefahren der Produktion
Dank eines organisierten "Elitenwechsels", des ständigen und leichten Positionswechsels zwischen "privat" und "öffentlich", "Politik" und "Wirtschaft", wie in der russischen oder US-amerikanischen Variante des "crony capitalism" üblich, wird die Korruption zum System. Es hat Folgen: organisierter Wahlbetrug, Kauf von PolitikerInnen und Parteien, Beeinflussung der Medien, Kaufen von Zeitungen und Fernsehsendern, systematische Einschüchterung und Korruption der JournalistInnen, systematische Desinformation mit allen Mitteln und auf allen Kanälen.
Neoklassische Ökonomen halten Korruption und Schwindel für schädlich, weil sie zu "Fehlallokationen" des Kapitals führen müssten. Korruption und Schwindel sind gefährlich. Nicht nur wegen der Verluste, wegen der rasch wachsenden Zahl der Opfer der "neuen" Enteignungsökonomie. Wenn Korruption und Schwindel überall und routinemäßig stattfinden, wenn die kriminelle Ökonomie sich ausbreitet, wird auf die Dauer das Volksvorurteil untergraben, der Reichtum der oberen Klassen, der ManagerInnen und UnternehmerInnen, sei ehrlich und rechtmäßig erworben, der verdiente Lohn für ganz besondere Leistungen und Anstrengungen. Selbst das Allerheiligste, das bürgerliche Privateigentum, erscheint in einem anderen Licht, wenn jedermann weiß oder ahnt, dass es bei den ständig anschwellenden Privatvermögen nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Eigentum ist Diebstahl; diese altehrwürdige Formel des bürgerlichen Radikalismus kann wieder zu Ehren kommen. In den Ländern des "crony capitalism" wird für alle einsichtig, dass "Politik" und "Wirtschaft" keineswegs getrennte Welten sind. Also wird der Glaube an den Staat als Schutzmacht der Armen und Ausgebeuteten untergraben.
Lassen sich Korruption und Schwindel beseitigen? Ist der Kapitalismus noch zu retten, nicht vor der Empörung der Ausgebeuteten und Unterdrückten aller Länder, sondern vor der Gier und Dummheit seiner ProtagonistInnen? Ja, wenn es so etwas wie einen "ideellen Gesamtkapitalisten" noch gäbe, der diese historische Wirtschaftsordnung gegen die kurzsichtige Dummheit ihrer Profiteure verteidigen wollte. Aber der ist im Zuge der neoliberalen Revolution gründlich demontiert worden. Vorläufig scheint sich die Einsicht zu bestätigen: Der Kapitalismus geht an sich selbst, an seinen "Eliten" zu Grunde.
Michael R. Krätke
Anmerkung:
1) Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion (1921), in: GW, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1978.