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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 514 / 16.2.2007

Im Schutze der Macht

Polizeigewalt vor der deutschen Justiz

Wenn hier zu Lande von polizeilichen Misshandlungen die Rede ist, lässt eine Metapher aus dem Tierreich selten lange auf sich warten: Stets waren "schwarze Schafe" am Werk. Die Redewendung gehört im "Handbuch für Führungskräfte der Polizei" sogar zum offiziellen Vokabular. Dort wird im Kapitel über Demonstrationen erklärt, dass "es bei tumultartigen Auseinandersetzungen in Einzelfällen auch zu Übergriffen von Polizeibeamten kommt", wobei aber "nur sehr wenige ,schwarze Schafe`" die Situationen ausnutzen würden, um sich "abzureagieren". (1) Tatsächlich gelangen Fälle von polizeilichen Misshandlungen in Deutschland noch vergleichsweise selten an die Öffentlichkeit. Einzelne Fälle werfen jedoch stets nur ein Schlaglicht auf das Problem. Dafür, dass sich Polizeigewalt in Deutschland weithin im Verborgenen abspielt, sorgen vor allem die besonders "effizienten" Strukturen der deutschen Justiz.

Wer sich ein Bild vom Ausmaß polizeilicher Misshandlungen in Deutschland machen will, tappt im Dunkeln. Bekannt ist, dass im Jahr 2005 bundesweit 2.214 Mal Strafanzeige wegen "Körperverletzung im Amt" erstattet wurde. Anwältinnen und Anwälte, die sich regelmäßig mit der Materie befassen, schätzen jedoch, dass die wirkliche Zahl der Fälle von rechtswidriger Polizeigewalt um ein Vielfaches höher liegt. Denn nur wenige Opfer zeigen Übergriffe überhaupt an. Die Hemmschwelle, zur Polizei zu gehen, um dort Polizei selbst anzuzeigen, ist hoch, und sie wird noch verstärkt durch die oft nur geringe Hoffnung, dass die TäterInnen auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden.

Zudem berichten viele Betroffene davon, dass sie kurz nach der Anzeigeerstattung eine Gegenanzeige wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte erhalten haben. (2) Rein statistisch gesehen kommen zehn solcher Anzeigen auf eine Anzeige wegen Körperverletzung im Amt. Gerade MigrantInnen zeigen illegale Übergriffe oftmals auch aus Unwissenheit über die eigenen Rechte gegenüber der Polizei nicht an. Trotz all dieser Faktoren wird immer noch jedes Jahr in Berlin jedeR 20. PolizistIn wegen Körperverletzung im Amt angezeigt, wie eine parlamentarische Anfrage ergab. (3) Die Regierungen und Behörden anderer Bundesländer sind in dieser Hinsicht im Übrigen weitaus weniger auskunftsfreudig. In amtlichen Statistiken wird die strafrechtliche Verfolgung von polizeilicher Gewalt nicht gesondert ausgewiesen, weshalb im vorliegenden Beitrag im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Berliner Erhebung zurückgegriffen wird.

Wenn ein polizeilicher Übergriff zur Anzeige gebracht worden ist, beginnen die kriminalistischen Nachforschungen - durch niemand anderen als die Polizei selbst. Zwar ist nach der Konzeption der Strafprozessordnung die Staatsanwaltschaft "Herrin des Ermittlungsverfahrens", faktisch hat jedoch die Polizei die Ermittlungen in der Hand. Sie sammelt Beweise, vernimmt ZeugInnen und gibt im Dienste der Staatsanwaltschaft eine erste Bewertung der Verdachtslage ab. Hierbei wirkt die Arbeitsweise der Polizei bereits als ein erster Filter. Denn welcher Spur sie nachgeht und wann sie ihre Suche nach Beweisen einstellt, entscheidet die Polizei selbstständig.

Im Falle von Verfahren gegen PolizeibeamtInnen werden die Ermittlungen zwar nicht von deren unmittelbaren KollegInnen durchgeführt, sondern von organisatorisch getrennten Polizeieinheiten. Diese sind zumeist nicht den Polizeipräsidien, sondern direkt den Innenministerien unterstellt. Dennoch bleibt in der Ermittlungsarbeit Raum für "Polizeisolidarität". Die Vernehmenden teilen die polizeiliche Perspektive der Vernommenen; sie kennen deren Alltagssituation und sprechen deren Sprache. Aus dem Verständnis für die Situation der KollegInnen folgt oft auch die Bereitschaft, deren Aussagen als glaubhaft einzustufen.

Polizeiübergriffe bleiben im Dunkeln

Wie tatverdächtige PolizeibeamtInnen noch auf andere Weise von ihrer Dienststellung profitieren, zeigt beispielhaft das Verfahren nach tödlichen Polizeischüssen. Die SchützInnen werden zunächst ausführlich dienstlich und psychologisch betreut, bevor sie vernommen werden. Dies gebiete die "Fürsorgepflicht" der dienstlichen Vorgesetzten, und zwar unabhängig davon, ob ein Schusswaffeneinsatz juristisch gerechtfertigt war oder sogar "versehentlich" geschossen wurde. Anders als "normale" Tatverdächtige, die nach einer Schießerei sofort festgenommen und mitunter stundenlang verhört werden, haben PolizistInnen also Zeit, in Ruhe ihre Gedanken zu sortieren und ihre Aussage vorzubereiten.

Ob die polizeilichen Ermittlungen anschließend zu einer gerichtlichen Anklage führen, entscheidet allein die Staatsanwaltschaft. Die weit verbreitete Vorstellung, eine private Strafanzeige gegen eine Person setze diese bereits juristisch unter Druck bzw. stelle ein Mittel der Geschädigten dar, unmittelbar gegen die TäterInnen vorzugehen, entspricht im deutschen Strafprozess nicht der Realität. Vielmehr bedeutet das Erstatten einer Strafanzeige nicht mehr als ein "Petzen". Man meldet einen Vorgang und hofft dann, dass Polizei und Staatsanwaltschaft aktiv werden. Ob die Staatsanwaltschaft sich aber überhaupt zu einer Anklage gegen den/die BeschuldigteN entschließt, kann man als GeschädigteR nicht beeinflussen.

Als Behörde, die täglich auf die Zusammenarbeit mit der Polizei angewiesen ist, ist die Staatsanwaltschaft gegenüber tatverdächtigen PolizeibeamtInnen alles andere als unabhängig. Vielmehr ist ein Interessenkonflikt vorprogrammiert: Einerseits koordiniert die Staatsanwaltschaft die Arbeit der Strafverfolgung und ist insofern vorgesetzte Behörde der Polizei. Andererseits nimmt sie vor Gericht die Rolle eines unabhängigen Organs der Justiz ein, das auch PolizeibeamtInnen, die einer Straftat verdächtig sind, anklagen müsste wie jedeN andereN TatverdächtigeN. Damit steht die Staatsanwaltschaft auf der Seite von Angeklagtem und Anklagender zugleich. Ein Großteil der Verfahren gegen Beschuldigte in Uniform bleibt dann auch in diesem Stadium stecken, indem die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt. In Berlin beispielsweise werden von den jährlich etwa 1.000 Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt 98% (!) eingestellt, bevor sie jemals ein Gericht erreichen.

Die Polizei ermittelt gegen sich selbst

Eigentlich sind die Staatsanwaltschaften verfassungsrechtlich verpflichtet, unterschiedslos Anklage gegen jedeN zu erheben, sobald ein "hinreichender Tatverdacht" besteht. Die Auslegung des Begriffs "hinreichender Tatverdacht" haben die Staatsanwaltschaften allerdings selbst in der Hand. Faktisch können sie dadurch entscheiden, ob es in einzelnen Fällen zu einem Prozess und einer öffentlichen Beweisaufnahme vor Gericht kommen soll. Wenn die Staatsanwaltschaften keine eigenen Bestrebungen zeigen, gegen Beschuldigte aus ihrem "eigenen Lager" vorzugehen und vor Gericht Anklage zu erheben, bleibt den Opfern von polizeilichen Misshandlungen oft nichts weiter übrig, als weiterhin als BittstellerIn an die Staatsanwaltschaften heranzutreten.

Die Opfer haben zwar theoretisch noch die Möglichkeit eines "Klageerzwingungsverfahrens", mit dem die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung gezwungen werden kann. Da die Gerichte die formellen Voraussetzungen dafür jedoch sehr eng auslegen, führt das Verfahren nur äußerst selten zum Erfolg. Bessere Chancen verspricht da das "Petzen" bei einer höheren Instanz: den Medien. In vielen Fällen bewegt erst der Druck einer kritischen Öffentlichkeit die Staatsanwaltschaften dazu, einen Fall von Polizeigewalt vor Gericht zu bringen. Selbst im "Fall Daschner", in dem ein Polizist einem inhaftierten Entführer mit Folter gedroht hatte (vgl. ak 471), nahm sich die Staatsanwaltschaft der aktenkundigen (!) Folterdrohung erst mit mehreren Monaten Verzögerung an. Ein Bericht des Berliner Tagesspiegel hatte den Vorgang öffentlich gemacht.

Vor Gericht können sich angeklagte BeamtInnen oft unter Hinweis auf die Strukturen ihrer Ausbildung herausreden, beispielsweise mit dem Hinweis, die Schusswaffenausbildung sei unzureichend gewesen oder die Schulung im Umgang mit Demonstrationsgewalt habe eher zur Gewaltanwendung ermuntert statt Deeskalationsmethoden vermittelt. Diese Missstände seien den Angeklagten nicht individuell vorzuwerfen. Die Gerichte bemühen sich teilweise ausdrücklich, die Verantwortung für strukturelle Missstände nicht beim letzten Glied einer langen Verantwortungskette abzuladen. Im Ergebnis können sich PolizeibeamtInnen auf diese Weise gelegentlich "hinter einer organisierten Verantwortungslosigkeit und dem Schutzschild der Amtsautorität zurückziehen", wie es der Polizeiforscher Falko Werkentin ausdrückt. (4)

Hinzu kommen regelmäßig Beweisprobleme. Denn die Ausübung von Gewalt ist der Polizei nicht von vornherein verboten. Zu einem illegalen Übergriff wird die Gewalt erst durch ihren Kontext, beispielsweise wenn sie sich gegen friedliche Demonstrierende richtet. Die Anklage muss also mehr beweisen können als nur die Gewaltanwendung an sich, sie muss die polizeilich-offizielle Darstellung der gesamten Umstände widerlegen können. Die Polizeiführungen können dabei die Beweisaufnahme in ihrem Sinne beeinflussen. Oft werden PolizeizeugInnen durch ihre Vorgesetzten gesperrt oder mit einer eingeschränkten Aussagegenehmigung versehen, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, welche die Polizeiführung im Sinne des "Staatswohls" für geheimhaltenswert erklärt.

Staatsanwaltschaft: Bock und Gärtner in einem

"Eine unabhängige Kontrolle der Polizei findet in der Bundesrepublik Deutschland nicht statt", resümierte der UN-Menschenrechtsausschuss bereits 1996. Das Ergebnis lässt sich an den Verurteiltenzahlen ablesen. Um beim Berliner Beispiel zu bleiben: Von insgesamt 3.926 Fällen polizeilicher Misshandlungen, die zwischen 1996 und 1999 angezeigt wurden, kam es lediglich in 19 Fällen zu einer Verurteilung - das sind 0,4%. Gute Nachrichten für prügelnde PolizistInnen.

Die deutsche Situation ist jedoch nicht alternativlos. In anderen europäischen Ländern obliegt die Ermittlung von polizeilichen Übergriffen unabhängigen Untersuchungskommissionen, so in England, Frankreich und Portugal. Die Ermittlungspersonen der englischen Kommission dürfen nach dem entsprechenden Gesetz nie im Polizeidienst gewesen sein. Amnesty international (ai) fordert seit langem die Einrichtung von unabhängigen Polizei-Untersuchungskommissionen auch in der BRD. Die Kommissionen sollen nach der Vorstellung von ai unmittelbar den Parlamenten und nicht den Innenministerien unterstellt werden. Mit diesen Kommissionen wäre das Problem der Ursachen von Polizeigewalt zwar nicht gelöst, die Vertuschung von geschehenen Misshandlungen würde aber deutlich erschwert. Eine andere, etwas grundsätzlichere Forderung könnte sich dagegen am Beispiel der USA orientieren: Dort haben Opferanwälte in Prozessen gegen PolizeibeamtInnen das Recht, selbst in die Rolle der Staatsanwaltschaft zu schlüpfen und die Staatsbediensteten anzuklagen. Mit einer solchen strukturellen Änderung wären die Opfer von Polizeigewalt nicht mehr auf das Wohlwollen der Staatsanwaltschaft angewiesen.

"Organisierte Verantwortungslosigkeit"

Die Gewerkschaft der Polizei weist erwartungsgemäß bereits die Forderung von ai nach der Schaffung von unabhängigen Ermittlungskommissionen scharf zurück. "Diese Forderung stellt die Unabhängigkeit der deutschen Justiz in Frage", erklärte ihr Vorsitzender Konrad Freiberg im März 2005 den Stuttgarter Nachrichten. Damit, das sei zugegeben, hat er absolut Recht.

Ron Steinke

Anmerkungen:

1) Michael Kniesel u.a. (Hg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei. Lübeck 1996

2) Norbert Pütter: Polizeiübergriffe: Polizeigewalt als Ausnahme und Regel, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP Nr. 67 (3/2000)

3) Senatsverwaltung für Inneres Berlin: Antwort auf die Kleine Anfrage 14/1052 vom 17.11.00

4) Zitiert nach Rolf Gössner: "Fürsorgepflicht" oder "Organisierte Verantwortungslosigkeit"?, Frankfurter Rundschau, 12.8.03