G8 als Kristallisationspunkt globaler Herrschaft
Was bedeutet das für Widerstand und emanzipatorische Alternativen?
Der Prozess, der auf die Mobilisierungen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm hinführt und über sie hinausweist, ist genauso wichtig wie die Mobilisierungen selbst. Es sollte einer "Show-down"-Mentalität begegnet werden, der zufolge es etwa im kommenden Juni wirklich darum gegen könnte, das G8-Treffen zu verhindern. In einem solchen Verständnis könnte der G8-Prozess wichtig werden: damit sich ein breites emanzipatorisches Spektrum um einen gemeinsamen Bezugspunkt herum verständigt und weitere Perspektiven entwickelt sowie gesellschaftliche Kritik und Alternativen zu den aktuellen Entwicklungen sichtbar macht.
Gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni gibt es bereits seit zwei Jahren Überlegungen zu Mobilisierungen um das Treffen herum: von traditionellen linken Gruppen, attac, dem autonomen dissent!-Spektrum, dem Bündnis der Interventionistischen Linken, das die vielbeachtete Flugschrift G8Xtra produziert, der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO), die an Ostern 2007 in Leipzig ihren Jahreskongress dazu veranstalten wird, der Friedens- und der Umweltbewegung sowie von entwicklungs- und umweltpolitischen NGOs. Letztere koordinieren sich in einer G8-Plattform. Es gab im März und im November 2006 in Rostock zwei Aktionskonferenzen.
Offen ist noch, wie sich die Gewerkschaften und die Linkspartei in den Prozess einbringen. Durch die Beteiligung der Gewerkschaften würde das Thema Arbeit eine große Aufwertung erfahren. Ein wichtiges Bindeglied zwischen verschiedenen Spektren könnte die DGB-Jugend darstellen. Eine Beteiligung der Linkspartei wird durchaus begrüßt, wirft jedoch die Frage des Verhältnisses von Parteien und Bewegungen/NGO auf.
Die "Gruppe der 8" ist ein Symbol neoliberal-imperialer Globalisierung. Sie ist aber nicht deren Zentrum, denn sie hat keine Entscheidungsgewalt. Aber die Absprachen wirken auf die Regierungsagenden und in die internationalen Organisationen ein. Die "Empfehlungen" und konkreten Forderungen sind durchaus wirkungsmächtig.
Ultra-Imperialismus für die Ausplünderung der Welt
Dabei hat sich die G8 zu einem zentralen Forum entwickelt, um Probleme zwischen den dominanten Regierungen zu bearbeiten. Man könnte den Begriff des "Ultra-Imperialismus" (Karl Kautsky) verwenden: Die politisch und ökonomisch herrschenden Länder koordinieren sich zur Ausplünderung der Welt. Dies wurde besonders deutlich während der Verschuldungskrise in den 1980er Jahren und heute bei Energiefragen. Auch Währungsfragen und mögliche Krisen stehen auf der Agenda ganz oben. Durch ihren machtvollen, aber informellen Charakter trägt die G8 entscheidend zur Ent-Demokratisierung von Politik bei. Die Regierungschefs schaffen bei bestimmten Themen "Sachzwänge", die dann innenpolitisch nicht mehr demokratisch verhandelt werden können.
Gleichwohl kann die G8 nicht einfach das neoliberal-imperiale Normalprogramm durchziehen. Das neoliberale Gesellschafts- und Politikmodell verliert seit Jahren an Zustimmung, und hinsichtlich der imperialen Weltordnung gerät das Bild der "ordnenden Hand" (der USA bzw. NATO) dramatisch ins Wanken.
Dieser Legitimationsverlust, der sich nicht zuletzt in den Protesten gegen die G8 und einer zunehmenden Politisierung der Treffen äußert, erzeugt zuvorderst die Kritik von Regierungen des Globalen Südens. Daher werden seit einigen Jahren nicht nur VertreterInnen von UNO-Organisationen, sondern auch die Regierungen Indiens, Mexikos, Brasiliens und einiger anderer Länder hinzugeladen. Zudem mussten in den letzten Jahren verstärkt legitimierbare Themen auf die Tagesordnung. Und was liegt da näher, als die drängenden Themen Armut und Fehlentwicklungen in vielen Ländern des Globalen Südens für den dringend notwendigen Prestigegewinn zu wählen. Durch die Einbindung von Popstars seitens der G8 möchte man vor allem im Globalen Norden verloren gegangenes Terrain wiedergewinnen.
Die Tagesordnung der jeweiligen Treffen wird von der gastgebenden Regierung mitbestimmt. Das Mitte Oktober beschlossene Motto der Bundesregierung lautet "Wachstum und Verantwortung". Das übergeordnete Ziel lautet: "Die deutsche Agenda wird der besonderen Verantwortung der G8 für verlässliche und tragfähige Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft gerecht. Außerdem stärkt sie das Engagement der G8 für die benachteiligten Teile der Weltbevölkerung." Abbau von Ungleichheit, stabile Finanzmärkte, Investitionsfreiheit, Kampf gegen Produkt- und Markenpiraterie sowie nachhaltige Ressourcennutzung, Energieeffizienz und Klimaschutz sind die benannten Schwerpunkte. Dazu liegt ein regionaler Fokus auf Afrika. Dort sollen Reformen, Wirtschaftswachstum und das Gesundheitssystem gestärkt werden.
Erfolgreiche Mobilisierungen bedeuten eine Demo mit mehr als 50.000 Teilnehmenden am Wochenende vor dem G8-Treffen in Rostock, dezentrale Aktionen in vielen Städten und Regionen, ein oder mehrere große Camps "vor Ort" und ein großer und spannender Gegenkongress mit mehr als 1.000 Menschen. Das sind wichtige Kriterien. Doch sie sind nicht die einzigen, und dem "sichtbaren" Mobilisierungserfolg darf nicht instrumentell ein breiterer und längerfristiger Prozess gesellschaftlicher Politisierung, Selbstverständigung und Organisierung untergeordnet werden.
Unter Mobilisierung sollte daher mehr verstanden werden: Ein gesellschaftlicher Prozess, der die Gesellschaft bzw. wachsende Teile von ihr "bewegt", indem vermeintliche Sachzwänge aufgebrochen werden und Politisierungen entstehen, indem Menschen sich aufeinander beziehen, sich aufklären über die Verhältnisse und sich an verschiedenen Orten organisieren, d.h. am Arbeitsplatz, in den Schulen und Hochschulen, in politischen und kulturellen Vereinen und vieles mehr. Das kann in Vernetzung und (Selbst-) Organisierung münden.
Insofern sind die G8 nicht nur selbst ein Kristallisationspunkt für die weltweit herrschenden staatlichen Kräfte, sondern der breite Prozess der Mobilisierungen ist eine Art Kristallisation bestehender und Katalysator wachsender Proteste und der Entstehung von Alternativen.
Organisierte Sachzwänge zur Ent-Demokratisierung
Eine andere Gesellschaft entsteht nicht über die großen öffentlichen Auseinandersetzungen - und schon gar nicht gegen einen polizeilich abgeschotteten Regierungsauflauf -, sondern auch und gerade im Alltag, der natürlich nicht losgelöst ist von den umfassenderen politischen Entwicklungen, wie schon bei der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik deutlich wird. Dann können Lernprozesse angestoßen und gesellschaftliche Räume noch weiter als bisher geöffnet werden, um Gesellschaft zu verändern.
Wenn diese Perspektive eingenommen wird, dann kann die Freude und Energie der direkten Mobilisierungen in weiterführende Prozesse münden - und Frust nach dem Ereignis, dass vieles so weitergeht wie bisher, vermieden werden.
Ob die Proteste und Alternativen "hörbar" werden, ist daher nicht nur eine Frage kluger Bündnis- und origineller Medienstrategien, sondern Teil von alltäglicher politischer "Kleinarbeit". So sind einzelne Gruppen möglicherweise im Zuge der G8-Vorbereitungen stärker in der Lage, die Kritik an der neoliberalimperialen Globalisierung zu äußern. Oder die vielen Vorschläge für eine "solidarische Ökonomie" werden in einem anderen Licht betrachtet. Insofern ist es wichtig, eine eigene "Agenda" zu setzen, die Ausdruck breiter Konsense ist. Die Diskussionen um "globale soziale Rechte" oder "internationale Demokratie" (inklusive der Verfasstheit der EU) könnten hier eine zentrale Rolle spielen.
Eine wichtige Erfahrung erfolgreicher Mobilisierungen besteht darin, dass möglichst breite und plurale Bündnisse entstehen, die auch auf Außenwirkung zielen. Für diese Außenwirkung ist eine gewisse thematische Bündelung notwendig. Allerdings zeigt der Vorbereitungsprozess bislang, dass breite Bündnisse nicht zu einem Selbstzweck werden dürfen. Der vielfach konstatierte Pluralismus führt teilweise dazu, dass bislang eher wenig über die "eigenen" Spektren hinaus um politische Einschätzungen und Strategien gerungen wird. Es gibt beispielsweise viele BefürworterInnen einer G8-Reform, oder neben kapitalismuskritischen auch keynesianische Positionen. Dazu kommen strategische Differenzen im Umgang mit staatlichen Akteuren oder Parteien. Dies wird bislang wenig diskutiert. Das Thema Migration wird zwar von allen für wichtig erachtet, aber einen politisch hohen Stellenwert wollen ihm nur radikalere Gruppen einräumen. Das NGO-Spektrum und attac halten das Thema offenbar für zu weit weg von der wirklich als wichtig erachteten politischen Agenda.
Die wichtigste Aufgabe besteht m.E. darin, zum einen stabile Bündnisse zu schaffen und sie auszuweiten. Insbesondere die Gewerkschaften und die Linkspartei bzw. Teile von ihnen sind - ohne Anspruch, den Prozess dominieren oder instrumentalisieren zu wollen - hier wichtig. Es sollten aber auch stärker die Möglichkeiten internationaler Kooperation ins Auge gefasst werden. Die Bewegungen für eine andere Mobilisierung sind weiterhin stark auf die jeweiligen Nationalstaaten bezogen, in denen sie agieren.
Zweitens gilt es unbedingt, die Spaltungsfalle zu umgehen. Es ist absehbar, dass die herrschenden politischen Kräfte und die Medien ab Frühjahr die "good guys/bad guys"-Karte spielen werden. Insbesondere am Thema der "Gewaltbereitschaft", wozu auch Aktionen des zivilen Ungehorsams zählen werden, soll das Protest-Spektrum gespalten werden. Den Versuch der Delegitimierung des Protestes wird es zudem geben, da auch rechte und rechtsradikale Gruppen gegen G8 mobilisieren werden. In der Öffentlichkeit könnte dann das emanzipatorische Spektrum als "nationalistisch" denunziert werden.
Die Spaltungsversuche könnten einhergehen mit einem "Spielwiesen-Szenario". Der Begriff wurde von den OrganisatorInnen des Weltwirtschaftsforums in Davos angesichts der zunehmenden Proteste geprägt. Er meint, dass den gemäßigten Kräften Räume bereitgestellt werden, in denen sie ihre Anliegen formulieren können und die sich auf diese Art ernst genommen fühlen. Kritik und Protest soll so kanalisiert werden, ohne dass die Anliegen der KritikerInnen ernsthaft berücksichtigt würden.
Spaltungs- und Spielwiesen-Szenario
Drittens sollte bewusst sein, dass es in diesem Land eine entwickelte Protestkultur nicht (mehr) gibt. Diese muss wieder entstehen, wozu der G8-Gipfel ein guter Anlass ist. Praktisch bedeutet das etwa, Ängste von vielen bei Demonstrationen ernst zu nehmen und diese abzubauen.
Viertens, auch das wird immer wieder bei den vorbereitenden Diskussionen angesprochen, sollte bei aller Freude über breite Bündnisse nicht vergessen werden, dass es gesellschaftliche Gruppen gibt, die sich nur schwer organisieren können und entsprechend kaum in Bündnissen repräsentiert sind. Wie können aber diese Kämpfe und Forderungen, etwa von illegalisierten MigrantInnen, berücksichtigt werden?
Fünftens, das ergibt sich aus dem Gesagten, sollte in die hoffentlich dynamische Mobilisierung bereits die Perspektive eingehen, wie nach Juni 2007 die Erfahrungen reflektiert werden können.
Sechstens sollten inhaltliche und organisatorische Verknüpfungen mit der bundesdeutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 geschaffen werden.
Und schließlich: Der G8-Prozess 2007 könnte zu einer innenpolitischen Auseinandersetzung mit der Großen Koalition werden. Damit dies eintritt, ist aber ein Sachverhalt von zentraler Bedeutung: Die international verabredeten Politiken müssen mit den nationalen und lokalen Politiken in einen Zusammenhang gebracht werden. Was haben die Privatisierung der kommunalen Wasserbetriebe oder Hartz IV mit der Agenda und den kooperativ verabredeten Politiken der G8 zu tun? Wenn es gelingt, diese Zusammenhänge aufzuzeigen, könnte der Mobilisierungsprozess eine enorme Dynamik entwickeln. Und dann könnten ein dynamischer Vorbereitungsprozess wie auch kraft- und lustvolle Tage im Juni 2007 in der Tat eine katalytische Wirkung auf weitere Prozesse haben.
Karl List
Eine Langfassung des Artikels erschien in Peripherie 104.