Aufgeblättert
Politik, Religion und Gewalt
Der Zusammenhang zwischen Politik, Religion und Gewalt im Nahen und Mittleren Osten ist Thema zahlreicher Publikationen, insbesondere in den letzten Jahrzehnten. Es überwiegen dabei kulturkämpferische und eurozentristische Ansätze. Bekannt sind etwa die Autoren Samuel Huntington und Bernard Lewis, die in unterschiedlichen Varianten den Islam als die Ursache für Unterentwicklung, Gewalt und fehlende Demokratisierung ausmachen. Insofern fällt die Studie von Jochen Hippler positiv aus diesem Rahmen. Durch die Auswahl der Autoren und die Dreisprachigkeit der Publikation wird die Wichtigkeit einer internationalen Debatte betont. Im Gegensatz zu Huntington und Lewis wird zudem eine vergleichende Analyse der Gewalt im "Westen" und in der "islamischen Welt" erstellt. In Bezug auf Europa weist der Autor darauf hin, dass die einfache These von der Gewaltminderung durch die Ausdehnung der Staatlichkeit so nicht stimmt; er zeigt vielmehr, dass die Gewaltminderung im privaten Rahmen durchaus mit staatlicher Gewalttätigkeit, etwa in den Welt- und Kolonialkriegen, einherging. Des Weiteren wird auf den Zusammenhang von Modernisierung, Aufstieg der Nationalstaaten und genozidaler Politik hingewiesen. Stellvertretend für die Gewalt in "muslimischen Gesellschaften" werden mehrere Fallbeispiele untersucht: der Völkermord an den ArmenierInnen 1915, die von Massakern begleitete Spaltung Pakistans, die Massaker an Mitgliedern der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) 1965 mit bis zu einer Million Opfern und die Gewaltherrschaft Saddam Husseins im Irak 1979-2003. Hippler interpretiert die Beispiele dahingehend, dass in der "islamischen Welt" ebenso wie in Europa Massaker zur "Durchsetzung, Konzentration und Monopolisierung zentraler staatlicher Macht dienten". Schon allein diese implizite Kritik der Staatsapologetik macht die Publikation lesenswert.
Ismail Küpeli
Jochen Hippler, Nasr Hamid Abu Zaid, Amr Hamzawy: Krieg,
Repression, Terrorismus. Politische Gewalt und Zivilisation in
westlichen und muslimischen Gesellschaften. ifa, Stuttgart
2006. Deutsch, englisch, arabisch: 509 Seiten. Die deutsche Ausgabe
umfasst 184 Seiten und kann heruntergeladen werden bei
www.cms.ifa.de.
Popmoderne und Protest
Das im Herbst 2006 erschienene Forschungsjournal der Gruppe "Neue Soziale Bewegung" beschäftigt sich mit Pop und Musik. Neben Buchbesprechungen und Literaturtipps findet sich in dem Reader eine Vielzahl von Aufsätzen zum Thema. In der Einleitung konstatieren die HerausgeberInnen einen Bedeutungswandel von Pop: Galt Pop in den 1970er und 1980er Jahren noch als eindeutig politisch, ist heutzutage politische Musik nicht mehr so leicht zu bestimmen. Das Aufkommen der Cultural Studies hat zu neuen Analysen geführt. Kultur steht nicht mehr außerhalb der kapitalistischen Produktion, sondern ist in ihr verfangen. In dem Heft geht es auch um eine Bestimmung dessen, was Mainstream und Gegenkultur ist, wie Subkultur vereinnahmt wird und wie eine Aneignung von Kulturproduktion aussehen kann. Die ak-Autorin Susann Witt-Stahl beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit dem Verhältnis von Krieg und Pop und vertritt dabei die These, dass Pop die "Tonspur für den Krieg" liefert. Sie zeigt auf, wie in den USA nach dem 11. September 2001 Pop zur Mobilisierung für eine Kriegszustimmung genutzt wurde, wie Musikstars wie Jennifer Lopez, Mariah Carey und Coolio für US-Soldaten aufspielten und bei MTV-Veranstaltungen unter dem Titel "For the Troops" auftraten. Sie lässt in ihrer Analyse kein gutes Haar an Pop, denn Pop als Protesthaltung komme "selten über niveauvollen Kitsch hinaus". Stephanie Schmoliner setzt sich in ihrem Text mit der Riot-Grrrl-Bewegung auseinander (vgl. ak 466), die - so ihr Fazit, "aus ihrem subkulturellen Milieu nicht entfliehen konnte", jedoch zeigte, dass eine eigene "girl culture" möglich ist. In weiteren Texten beschäftigen sich u.a. Gabriele Rohmann mit mexikanischen Jugendkulturen und Christian Dornbusch und Jan Raabe mit Rechtsrock. Hannes Loh, bis 1998 Mitglied der Hip-Hop-Gruppe Anarchist Academy, und Murat Güngor sprechen in einem Interview über Hip-Hop zwischen Mainstream und Underground. Hannes Loh stellt dabei einmal mehr die These auf, dass Hip-Hop schon immer "einen Teil vom Kuchen haben" wollte und es ein linkes Missverständnis sei, Hip-Hop per se als Widerstand zu sehen. Durch gesellschaftliche Verfallsprozesse erklärt sich für ihn, wie reaktionäre Inhalte im Hip-Hop Einzug halten können. In dem Band finden sich viele interessante Anstöße für eine Debatte über die "Popmoderne", die jedoch wenig Hoffnung für eine widerständige Protestkultur bietet.
jf
Neue Soziale Bewegung (Hg.): Popmoderne und Protest. Musik zwischen Subversion und Aneignung. Forschungsjournal Heft 3/06. Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2006, 112 Seiten, 14 EUR
Lenin, dokumentiert und kommentiert
Es ist schon ein paar Jahre her, dass in ak 446 Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, als "Visionär und Pragmatiker" gewürdigt wurde. Das ist fast dasselbe wie "Träumer und Realist" - so der Titel von Stefan Bollingers im Wiener Promedia-Verlag erschienenen Büchlein. In der Einleitung weist er die unsäglichen Versuche des konvertierten Sowjetideologen Alexander Jakowlew zurück, "Lenin, Stalin und Hitler" unterschiedslos als die drei "Hauptverbrecher des Jahrhunderts" zu brandmarken. Dass er dem Zerrbild eine Lobpreisung gegenüberstellt, gibt Anlass zum Schmunzeln. Für Bollinger ist Lenin "ein einfacher Mensch, ein Genius, eine Verkörperung des modernen Heldentums". Zum Glück hält sich Bollinger mit derlei Gesängen nicht lange auf, sondern widmet sich Lenins Werk. In insgesamt neun Abschnitten dokumentiert er Auszüge daraus, u.a. zu den Themen Kapitalismus in Russland, Parteiaufbau, Krieg und Imperialismus, revolutionäre Strategie, sozialistische Wirtschaftspolitik. Bollingers Einleitungen zu diesen Abschnitten sind kurz und weitgehend unkritisch. Vergeblich sucht man etwa in Kapitel 2.7. "Staat und Revolution" einen Hinweis, dass Lenins Staatsverständnis von Gramsci, Althusser und Poulantzas kritisch aufgegriffen und produktiv weiter entwickelt wurde. Aber vielleicht ist Bollinger auch der Ansicht, dass mit Lenins "Standardwerk" über marxistische Staatstheorie schon alles Wesentliche gesagt ist? Wie auch immer - sein Buch ist als Einstieg in Lenins Schriften, die viele jüngere Linke heute nur noch vom Hörensagen kennen, durchaus geeignet.
Js.
Stefan Bollinger (Hg.): Lenin. Träumer und Realist. Promedia Verlag, Wien 2006. 174 Seiten, 12,90 EUR