Zäune werden durchbrochen
Wir sind überall: Ein Buch von der Bewegung für die Bewegung
Der G8-Gipfel in Heiligendamm rückt immer näher, die Vorbereitungen von AktivistInnen und Polizei laufen auf Hochtouren. Spätestens mit der Störung des WTO-Treffens in Seattle sind die Gipfel der Mächtigen zu Kristallisationspunkten des Widerstands geworden. Doch auch fernab der Treffen kam es in den letzten Jahren immer wieder zu Großdemonstrationen, Aufständen, Landbesetzungen und anderen Formen des sozialen Ungehorsams. Wie stark wird die Bewegung dieses Jahr auftreten? Wird es wie beim IWF-Gipfel 2000 in Prag noch einmal gelingen, das Treffen der Herrschenden vorzeitig zu beenden? Die Geschichte der antikapitalistischen Bewegung seit dem Aufstand der ZapatistInnen 1994 in Chiapas/Mexiko präsentiert das Buch "Wir sind überall".
"Dieses Buch handelt nicht nur von diesen Bewegungen; es wurde von ihnen selbst verfasst", schwärmt Naomi Klein in ihrem kurzen Vorwort zum Buch. Weltweit kämpfen Menschen gegen das Kommando des Kapitals. Auf über 500 Seiten, bebildert mit 130 beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotos, kommen hier fast alle zu Wort: argentinische Piqueteros, kenianische Studierende, ZapatistInnen aus Chiapas, britische AnarchistInnen, Sans Papiers aus Frankreich, palästinensische SanitäterInnen, die Landlosenbewegung in Brasilien. Das internationale Redaktionskollektiv Notes from Nowhere hat persönliche Geschichten aus der ganzen Welt zusammengetragen. Es sind kurze Geschichten von Aktionen, von Kämpfen. Es geht um die Angst, sich zur Wehr zu setzen, den Mut, die Angst zu überwinden, und das gute Gefühl nach einer gelungenen Aktion. Ohne dabei als Held in die Geschichte einzuziehen. Das ist einer der Hauptgedanken des Buches: Die Vereinzelung durchbrechen und Hilfestellung leisten. Die Bewegungen von unten beleuchten, ihnen eine Stimme geben, ohne Mystifikation, ohne einfache Lösungen. So lautet das sechste Kapitel des Buches in Anlehnung an John Holloway "Macht aufbauen, ohne sie zu ergreifen."
In sieben Kapitel ist das Buch gegliedert. Sie werden von theoretischen Grundüberlegungen des Notes-from-Nowhere-Redaktionskollektivs eingeleitet. Die anschließenden Berichte sind lesenswert und spannend geschrieben. Als "Handbuch für direkte Aktionen" entpuppt sich das Buch durch Einführungen in Direkte Aktionen: Was ist eine Bezugsgruppe, wie "torte" ich Politiker richtig, wie organisiere ich eine Reclaim-the-Streets-Party, wie kette ich mich an Gegenstände an und was mache ich als SanitäterIn? "Wir sind überall" klärt auf. So lässt sich das Buch - je nach Interesse - chronologisch, aber auch kreuz und quer lesen.
Von Netzwerken, Autonomie und Klandestinität
Begleitet werden die Geschichten von einer historischen Zeitleiste, die sich durch das gesamte Buch zieht. Notes from Nowhere lassen die Geschichte "eines unwiderstehlichen weltweiten Aufstands" mit dem Widerstand gegen das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA beginnen. Am 1. Januar 1994 begann in den Bergen von Chiapas mit dem Aufstand der ZapatistInnen ein Kampf für Selbstbestimmung, der weltweit für Aufsehen sorgte. Die Linke war vielerorts resigniert und gelähmt. Doch "der Widerstand begann sich zu beschleunigen" und erreichte seinen Höhepunkt von 1999 bis 2001. Mit der Störung des WTO-Treffens in Seattle schaffte es die Bewegung in die bürgerlichen Medien. Nur ein Jahr später musste in Prag der IWF-Gipfel vorzeitig beendet werden.
Einen grundsätzlichen Bruch in der Entwicklung der antikapitalistischen Bewegung stellt das Jahr 2001 dar, und das in zweierlei Hinsicht. Die Anschläge des 11. September und die Ereignisse in Genua machten ein "Weiter so" unmöglich. Mit dem Tod Carlo Giulianis werde deutlich, dass der Kampf gegen das Kapital nicht mit den Mitteln der Mächtigen geführt werden könne. Die Bewegung müsse nach neuen Wegen suchen. "Nur mit Fragen bewaffnet können wir die Welt verändern," schlussfolgern Notes from Nowhere.
2003 erschien das Buch auf englisch. Inzwischen gibt es das Bewegungshandbuch auf Italienisch, Französisch, Spanisch, Griechisch, Türkisch und Koreanisch. Auch wenn ein kurzer Text des Redaktionskollektivs die Entwicklungen der letzten vier Jahre nachzuzeichnen versucht, stellt dies sicherlich eine Schwachstelle des Buches dar, das auf dem Höhepunkt der Bewegung endet und so einige Erschütterungen und Ernüchterungen nicht ausreichend reflektiert. Zudem ist der schwärmerische, manchmal fast verträumte Stil irritierend: Man ist eine solch positive Lesart des Widerstands nicht gewohnt. Doch während man sich beim Lesen fragt, ob nicht etwas mehr Distanz zum Thema angebracht wäre, kommt schon das nächste Kapitel mit einer Reflexion darüber, dass sich die Bewegung der Bewegungen nicht so leicht entwickelt. "Wir sind überall" gibt nicht einfach vor, dass die Bewegung unendlich wächst und die Welt besser und gerechter wird, sondern zeigt auf, dass wir nicht alleine sind; dass es überall Menschen gibt, die gegen den Kapitalismus ankämpfen.
Das Geheimnis des Glücks liegt im Widerstand
Ein Buch, das Hoffnung und Mut macht. Und vielleicht kommt es ja wie im Aufruf der Interventionistischen Linken (ak 512). Dort zieht "ein unübersehbarer Zug von DemonstrantInnen aus der ganzen Welt ... durch die Straßen von Rostock". Der "Tagungsort Heiligendamm" wird blockiert, und im Fokus der Öffentlichkeit steht "die Vielfalt des Protestes und des Widerstands." (1) Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Jonas Füllner
Notes from Nowhere (Hg.): Wir sind überall. weltweit. unwiderstehlich. antikapitalistisch. Edition Nautilus, Hamburg 2007. 544 Seiten, mit 130 S-W-Fotos, 19,90 EUR
Anmerkung:
1) www.akweb.de/ak_s/ak512/41.htm