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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 517 / 18.5.2007

Aufgeblättert

Gegen den Mangel an Utopie

"Ou topos", der "Nicht-Ort" ist kein attraktives Reiseziel mehr. Viele machen es sich lieber auf den scheinbar fernen Bahamas - in dem in Wahrheit doch so nahen Binnenland des Bestehenden - gemütlich oder gehen auf die Pauschalreise in die kulturindustriell aufgemotzte Jungle World. Wo die Verkümmerung des ideologiekritischen Denkens so weit fortgeschritten ist, dass sich die Linke mit der Bannformel der Neokonservativen "Kapitalismus oder Barbarei" bereitwillig selbst paralysiert, dort ist kein Platz mehr für den Traum von einer wahrhaft befreiten Gesellschaft. "No-Where"-Land ist abgebrannt - kann es wieder aufgebaut werden? Nach Ansicht des israelischen Historikers Moshe Zuckermann gibt es gar keine Alternative: Weil das, was die Gesellschaft geworden sei, "unerträglich ist. Weil das Utopische ein Aufstöhnen gegen dieses Unerträgliche ist: Ein Aufschrei gegen das Bestehende." Im Herbst 2005 waren Zuckermann und rund 20 weitere WissenschaftlerInnen, darunter die Philosophen Gunzelin Schmid Noerr, der Ökonom Michael Krätke und die Soziologin Regina Becker-Schmidt, in Hannover zu einem dreitägigen Kongress zusammengekommen (vgl. ak 500), um an die geschichtlichen Möglichkeiten einer ganz anderen Welt zu erinnern. Sie suchten nach Wegen, wie es in der Einladung formuliert war, die "eklatante Armut an Utopie in sämtlichen sich eigentlich der Emanzipation verpflichtet fühlenden gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen" zu bekämpfen. Die Beiträge der kritischen TheoretikerInnen sind in einem umfangreichen Kongress-Band dokumentiert.

Susann Witt-Stahl

Marcus Hawel/Gregor Kritidis: Aufschrei der Utopie. Möglichkeiten einer anderen Welt. Offizin-Verlag, Hannover 2006, 304 Seiten, 18,80 EUR

Hanseatische Machenschaften

"Alles, was passiert, ist ausgedacht", schreibt die pensionierte Gerichtsreporterin Frauke Turm (Pseudonym) über ihren Hamburger Milieu-Krimi "Zugeschanzt". Real ist der Hintergrund, vor dem die fiktiven Personen agieren: Tatsächlich wurde der unter Denkmalschutz stehende, viele Jahre ungenutzte Wasserturm im Hamburger Sternschanzenpark einer Investorengruppe "zugeschanzt", die es zum Vier-Sterne-Hotel umbauen ließ - gegen den Widerstand vieler Menschen im Schanzenviertel, die für eine alternative Nutzung des Bauwerks eintraten. Vieles, was die Autorin sich ausgedacht hat, könnte so gewesen sein, etliches läuft definitiv so im hanseatischen Wirtschaftsleben: die extreme Ausbeutung "illegaler" Bauarbeiter, Trickserei und Korruption, und das alles flankiert und gestützt von einem Senat, der Proteste gegen seine profit- und prestigeträchtigen Projekte in der "wachsenden Stadt" niederknüppeln lässt. Das ist auch für Nicht-HamburgerInnen interessant zu lesen - trotz der Längen der Geschichte und des mitunter arg penetranten Lokalpatriotismus.

Js.

Frauke Turm: Zugeschanzt. Ariadne Krimi 1170, Argument-Verlag, Hamburg 2007, 191 Seiten, 9,90 EUR

London 1948

"Wegen der Zähne und Brillen." Das sei der Grund, weshalb so viele Farbige in dieses Land kamen, behauptet Mr. Todd. "Der Staatliche Gesundheitsdienst - der lockt die an, Mrs. Bligh. Solange wir denen auf unsere Kosten was geben, kommen die hier her zu uns", sagt er. Mrs. Bligh, genannt Queenie, ist nicht überzeugt von dem, was ihr Nachbar da erzählt. Der Zweite Weltkrieg ist gerade mal drei Jahre vorbei. Queenies Mann Bernhard ist noch nicht zurück; sie muss in einem ehemals gutbürgerlichen Londoner Stadtteil Zimmer vermieten, um zu überleben, auch an Farbige. Darüber regt sich nicht nur Mr. Todd auf. Dass ihr jamaikanischer Mieter Gilbert Robert in der Royal Air Force auf Seiten der Briten gekämpft haben, interessiert nicht. Gilbert hat beschlossen, sein Leben in Großbritannien neu zu beginnen, zusammen mit seiner jungen, gebildeten Ehefrau Hortense. Die hegt die kühnsten Träume vom "Mutterland" und ist zutiefst entsetzt angesichts der würdelosen und erbärmlichen Realität: Ein einziges schäbiges Zimmer soll ihr neues Zuhause sein? Nur eine Waschschüssel und die Toilette ganz unten im Haus? Niemand und nichts entspricht ihren Erwartungen. Andrea Levy, 1956 als Tochter jamaikanischer Einwanderer in London geboren, weiß, wovon sie schreibt. In ihrem Roman "Eine englische Art von Glück" erzählt sie die Geschichte zweier Paare, das eine weiß, das andere schwarz, aber beide fühlen sich absolut britisch. Spannungsvoll ist die Konfrontation mit der kolonialen Vergangenheit und den allgegenwärtigen Rassismen. Die Autorin moralisiert nicht, sie erzählt eine spannende, zum Teil komische Geschichte vom vermeintlichem Glanz des britischen Empire und seiner Untertanen. Jede der vier Hauptpersonen ist als eigenwillige, komplexe Figur angelegt. Levy lässt sie jeweils aus ihrer ganz persönlichen Perspektive erzählen und verwebt diese Erzählstränge zu einem fließenden Ganzen.

Raphaela Kula

Andrea Levy: Eine englische Art von Glück. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main 2007, 554 Seiten, 22,90 EUR

Handbuch Online-Aktivismus

Durch die rasante Verbreitung moderner Kommunikationstechnologien hat sich nicht nur die technische Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise verändert; auch die Formen individueller, gesellschaftlicher und politischer Kommunikation waren weitreichenden Wandlungen unterworfen. Insofern ist es kein Zufall, dass das Internet auch als Ort des Protestes und nicht nur der "Vernetzung" entdeckt wurde. Als herausragendes Beispiel für diese Entwicklung gilt für die BRD immer noch die Online-Demo gegen das Abschiebegeschäft der Lufthansa im Juni 2001. Mehr als 13.000 Menschen beteiligten sich damals am virtuellen Protest im Rahmen der Kampagne "Stop deportation.class". Trotz spezieller Sicherungsmaßnahmen war der Server der Airline während der Lufthansa-Hauptversammlung zeitweise bis zur Nichterreichbarkeit überlastet - auch Dank spezieller Protestsoftware. Das schmutzige und zum Teil tödliche Geschäft mit der Abschiebung bestimmte die Medienberichterstattung über die Lufthansa-Aktionärsversammlung an diesem Tag. Mit dem vorliegenden Handbuch präsentiert die Initiative Libertad!, die maßgeblich an der Online-Demo beteiligt war, eine umfassende Auswahl an Texten zu Hintergrund und Durchführung der Aktion - von der Einbettung des virtuellen Protests in eine breitere Kampagne bis zu technischen Aspekten und der juristischen Auseinandersetzung, an deren Ende Libertad! vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen wurde. Wem an der Weiterentwicklung des Netzaktivismus gelegen ist, kommt an dieser "Anleitung für künftiges widerständiges Denken und Handeln" nicht vorbei.

mb.

Initiative Libertad! (Hg.): go.to/online-demo. Handbuch Online-Aktivismus. Verlag edition libertad!, Frankfurt am Main 2006, 138 Seiten, 5 EUR