Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 518 / 22.6.2007

Neurologische Vielfalt

Die Entdeckung des "Autistic Pride"

Als "autistisch" bezeichnete die Grünen-Chefin Claudia Roth unlängst die Wirtschaftspolitik von Michael Glos. Im bayerischen Landtag nannte ihre Parteifreundin Christine Stahl den CSU-Abgeordneten König einen "Autisten". Der Beispiele wären noch etliche zu nennen, wo das Wort "autistisch" im politischen und journalistischen Sprachgebrauch als Synonym für selbstbezügliche Realitätsblindheit und Unfähigkeit zur Kommunikation verwendet wird. Dass dem komplexen neurologisch-psychologischen Phänomen des Autismus ein Schimpfwort entlehnt wird, stimmt bedenklich. Aber auch autistische Menschen können sich wehren. Am 18. Juni feierten sie auch dieses Jahr wieder ihren "Autistic Pride Day".

Mit "Autismus" assoziiert man meistens geistig behinderte Kinder, die nicht sprechen und sich störrisch und unzugänglich verhalten. Gelegentlich werden in Fernsehshows auch AutistInnen vorgeführt, die rechnen können wie ein Computer oder Telefonbücher auswendig aufsagen. Im alten Russland galten Menschen mit Autismus als Boten Gottes - der naive Volksglaube hat sie bemerkenswert gerecht behandelt. In der Medizin und Psychologie wird dem Thema Autismus in den letzten Jahren wachsende Aufmerksamkeit geschenkt.

Mit der Erforschung der als "Autismus" bezeichneten Wahrnehmungs- und Verhaltensanomalien begannen in den 1930er Jahren unabhängig voneinander die beiden österreichischen Psychiater Leo Kanner (1896-1981) und Hans Asperger (1906-1980). Kanner, der seit 1924 in den USA lebte, beschäftigte sich mit einer schweren Entwicklungsstörung, die in den ersten Lebensjahren in Erscheinung tritt: Die betroffenen Kinder fallen durch repetitive und stereotype Verhaltensmuster auf und lernen spät, schlecht oder gar nicht sprechen. Ihre allgemeine Intelligenz ist meistens eher niedrig, aber mitunter liegen erstaunliche Spezialbegabungen vor, so etwa außergewöhnliche Rechen- oder Gedächtnisleistungen.

Bei dieser Form des frühkindlichen Autismus tritt gelegentlich auch ein "hochfunktionaler" Typus mit gehobener Intelligenz auf. Die gegenwärtig vielleicht prominenteste Autistin, die US-Amerikanerin Temple Grandin, hat die englische Muttersprache mühsam wie eine Fremdsprache erlernt. Nach dem Besuch von Förderschulen konnte sie Psychologie studieren und hat bahnbrechende Leistungen auf dem Gebiet der Tierpsychologie erbracht, weil sie über ein phänomenales Verständnis der sprachlosen Welt der Tiere verfügt.

Hans Asperger stieß in einer Kinderklinik in Österreich auf ein etwas anders geartetes Phänomen, für das er die Bezeichnung "autistische Psychopathie" verwendete. Ihm fielen Kinder auf, die frühzeitig sehr "erwachsen" sprechen, sich mit intensivem Forscherdrang speziellen Interessengebieten widmen, aber Schwierigkeiten in der Alltagskommunikation und im Sozialverhalten haben. Seine Aufmerksamkeit für die "kleinen Professoren" rührte zweifellos daher, dass er selbst als hochbegabter Sonderling aufwuchs. Nach der Annexion Österreichs durch Nazideutschland war seine Arbeit den schwierigsten politischen Umständen ausgesetzt. Um seine PatientInnen vor den Massenmordprogrammen gegen Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen zu schützen, argumentierte Asperger, diese "Psychopathen" seien nicht "minderwertig", sondern einfach anders begabt und bedürften der Förderung.

Probleme mit der Alltagskommunikation

Einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurden Aspergers Arbeiten erst nach seinem Tod in den 1980er Jahren bekannt, als die britische Psychologin Lorna Wing sie in englischer Übersetzung herausgab. Sie führte seine Arbeit fort und prägte die Bezeichnung "Asperger-Syndrom". Dieses ist seit 1992 durch die Weltgesundheitsorganisation anerkannt. Gemeinsam mit dem von Kanner beschriebenen Autismus-Typ wird es dem "autistischen Spektrum" zugerechnet, wobei die Frage der Klassifizierung noch in vieler Hinsicht umstritten ist.

Während bei Kindern, die Schwierigkeiten mit der Sprache haben, offenkundig ein ernstes Problem vorliegt, sind bei Asperger-Kindern die Symptome meist nicht so dramatisch: Die "kleinen ProfessorInnen" fallen im Vorschulalter durch ein brennendes Interesse an abseitig anmutenden Gegenständen wie etwa Toiletten, Gullideckeln oder Waschmaschinen auf, sind wenig spontan, neigen stattdessen zu Stereotypien und Ritualen, sie sind oft motorisch ungeschickt (z.B. extrem unsportlich), sensorisch überempfindlich (z.B. Abneigung gegen Körperkontakt oder gegen bestimmte Textilien, Hellhörigkeit, sehr ausgeprägter Geruchs- oder Geschmackssinn usw.), und sie haben Probleme im Sozialverhalten, können sich nicht in Gruppen eingliedern, wirken emotional teilnahmslos, meiden Blickkontakte, verstehen nonverbale Signale nicht. Sie sprechen meist brillant, sind dabei aber auf den wortwörtlichen semantischen Gehalt der Rede fixiert, während ihnen die pragmatische Mehrdeutigkeit, der Hintersinn und implizite situative Gehalt von Sprechakten verborgen bleibt - weshalb sie beispielsweise simple Fragen oder Anweisungen oft missverstehen. Ihr Verhalten erscheint rätselhaft und oft brüsk, verletzend und taktlos. Es gibt eine große Bandbreite individueller Varianten - manche Asperger-Kinder haben erhebliche Schwierigkeiten, andere vermögen sich einigermaßen anzupassen und ihre Defizite durch Intelligenz zu kompensieren.

AutistInnen sind nicht krank, sondern anders

Schätzungen über die Häufigkeit des Asperger-Syndroms in den westlichen Industrieländern schwanken von 0,3 bis hin zu 2 Prozent der Bevölkerung. Betroffen sind vorwiegend Männer, wobei allerdings bei Frauen von einer höheren Dunkelziffer auszugehen ist, weil bei Mädchen ein stilles, introvertiertes Verhalten eher durch klassische Rollenbilder gedeckt ist. In den USA erregte das gehäufte Auftreten von Asperger-Autismus in den Hochburgen der IT-Branche Aufsehen. Schnell ist hier das Klischee von den "Freaks" und "Nerds" bei der Hand, die Tag und Nacht programmieren und soziale Kontakte höchstens innerhalb ihrer "Szene" pflegen.

Zu den als verschrobene Charaktere bekannten historischen Persönlichkeiten, bei denen heute ein Asperger-Syndrom gemutmaßt wird, gehören neben Naturwissenschaftlern wie Isaac Newton oder Albert Einstein aber auch Philosophen wie Immanuel Kant oder Ludwig Wittgenstein, Maler wie Michelangelo oder Wassili Kandinsky, Musiker wie Béla Bartók oder Glenn Gould, Schriftsteller wie James Joyce oder Franz Kafka. Hans Asperger äußerte die Vermutung, dass intellektuelle Höchstleistungen ein gewisses Maß an Autismus voraussetzen.

In der Erforschung der Ursachen von Autismus existieren verschiedene Ansätze; alle sind kontrovers. Um 1960 dominierten psychoanalytische Erklärungsmuster, die für den Autismus der Kinder letztlich das Verhalten der Eltern verantwortlich machten. Heute wird überwiegend von einer genetischen Bedingtheit ausgegangen, die durch Umwelteinflüsse verstärkt werden kann. Daneben werden toxikologische Thesen vertreten, die eine Verursachung von Autismus durch die Einwirkung von Schwermetallen nachweisen wollen - was allerdings zweifelhaft bleibt.

Mit modernen Tomographie-Verfahren lässt sich feststellen, dass in autistischen Gehirnen die Informationsverarbeitung vom "neurologisch typischen" Standard abweicht. Der britische Psychologe Simon Baron-Cohen hat die Hypothese aufgestellt, dass bei AutistInnen die "männlichen", logisch-systematischen Gehirnfunktionen stark gegenüber den "weiblichen", emotional-empathischen überwiegen. Neuere Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die Frage der Empathie der Differenzierung bedarf: AutistInnen haben zwar Schwierigkeiten, die Gemütszustände von Menschen spontan zu erkennen, aber sie haben nichtsdestotrotz eine mitunter sogar sehr starke Empathie, die nicht wenige Menschen mit Asperger-Syndrom sogar zu energischem sozialen Engagement motiviert. Eine andere, plausible Hypothese besagt, dass im autistischen Gehirn die Fähigkeit zum "Multitasking" wenig entwickelt ist: In ihm läuft immer ein Task auf Hochtouren, während das Umschalten auf andere Gedanken schwierig ist. Deshalb werden etwa komplexe Gesprächssituationen in Gruppen als starker Stress empfunden.

Generell spielt sich im Bereich Autismus wieder einmal das ab, was Michel Foucault in seinen Untersuchungen zur Geschichte der Humanwissenschaften herausgearbeitet hat: Eine Gruppe von Menschen, die bislang im Verborgenen existierte, wird durch einen wissenschaftlichen Diskurs sichtbar, aber dadurch auch observierbar und kontrollierbar gemacht. Die "Biomacht" schlägt zu in Gestalt von MedizinerInnen, PsychologInnen und PädagogInnen, die ihre Vorstellungen dazu vortragen, wie mit diesen "kranken", "behinderten" und "gestörten" Menschen zu verfahren sei.

Es ist wahr, dass Menschen mit Kanner-Autismus in der Regel kein selbstständiges Leben führen können und auf Betreuung und Fürsorge angewiesen sind; neue Verfahren computergestützter Kommunikation sollen ihnen helfen, sich mitzuteilen, jedoch sind auch diese Methoden umstritten. Aber sind AutistInnen "krank" - oder nicht einfach nur anders? Unter den Asperger-AutistInnen finden sich viele ausgesprochen intelligente und gebildete Menschen, die sich trotz aller Mühen, die der "normale" Alltag ihnen bereitet, nicht bevormunden lassen. Das Internet hat wesentlich zur Entstehung einer "Aspie"-Community beigetragen. Die "Aspies" wollen nicht "therapiert" und "geheilt", sondern in ihrer Eigenart respektiert werden. Ihr Autistic Pride beinhaltet die politische Forderung nach Anerkennung der "neurologischen Vielfalt" von Menschen mit unterschiedlichen Veranlagungen. (1)

"Zahlengenies" als profitables "Humankapital"?

Einen starken Verbündeten haben sie in dem australischen Psychologen Tony Attwood, der den kühnen Vorschlag formuliert hat, die "Diagnose" des Asperger-"Syndroms" als einer durch Defizite bestimmten Störung durch die "Entdeckung" des "Aspie"-Charakters zu ersetzen, der sich durch positive Eigenschaften auszeichnet. Als profunder Kenner des Asperger-Syndroms hat Attwood nämlich festgestellt, dass unter Asperger-AutistInnen mit hoher Regelmäßigkeit Eigenschaften wie Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit, Vorurteilsfreiheit, Gerechtigkeitssinn, Sorgfalt und Beharrlichkeit anzutreffen sind.

Auf dem Arbeitsmarkt wird im postfordistischen Kapitalismus großer Wert auf soziale Qualifikationen wie "Teamfähigkeit", "Flexibilität" und "Kommunikationsstärke" gelegt. Menschen mit Autismus haben diese Eigenschaften nicht. Auch die Begabtesten unter ihnen haben deshalb Schwierigkeiten. In Dänemark gründete ein Unternehmer, der ein autistisches Kind hat, die Zeitarbeitsfirma Specialisterner, die AutistInnen in Bereichen einsetzt, wo Konzentration und Präzision verlangt wird. Ungeachtet grundsätzlicher Bedenken gegen Leiharbeit ist das Unternehmen als seriös einzuschätzen, zumal es großen Wert auf angemessene Bezahlung legt.

Zu befürchten steht allerdings, dass damit ein neuer Trend zur Verwurstung von AutistInnen als Humankapital in Gang gesetzt wird. Viele (nicht alle) Menschen mit Autismus verfügen über ausgeprägte Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen- und Datenmaterial. Man bietet ihnen daher gerne Arbeiten wie Datenbankpflege, das Zuordnen von PIN-Nummern in Mobiltelefonfirmen usw. an, bei denen das "normale" (neurologisch typische) Gehirn schnell durchdreht. Das Klischee von den "Zahlengenies" (die dann als willfährige Spezialdeppen für Zahlensalatverwaltung dienen sollen) reduziert AutistInnen auf das, was an ihnen kapitalistisch verwertbar ist, und verfehlt die Breite ihrer Fähigkeiten und Charakterzüge.

Karl Marx nannte den Menschen das "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Der autistische Mensch ist das nur eingeschränkt: In ihm existiert ein unzugänglicher Abgrund. Dem verdankt der autistische Mensch seine Fähigkeiten. Eine Gesellschaft, die AutistInnen "normalisieren" wollte, würde ein großes Potenzial zerstören.

Henning Böke

Anmerkung:

1) In Deutschland engagiert sich dafür besonders der in Berlin ansässige Verein Aspies e.V., der zum Autistic Pride Day ein Sommercamp in Kassel veranstaltete:

http://www.aspies.de

Lesenswert:

http://de.wikipedia.org/wiki/Autismus

http://en.wikipedia.org/wiki/

Autism_rights_movement