Titelseite ak
Linksnet.de
ak und Fantômas sind Partner von Linksnet.de

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 519 / 17.8.2007

Der schreckliche Sieg

Israels "Demokratie-GmbH" 40 Jahre nach dem Juni-Krieg von 1967

Der 40. Jahrestag des Juni-Krieges von 1967 war ein mediales Großereignis, in Europa mehr noch als in Israel. Anders als zu ähnlich runden Jahrestagen des Beginns der Militärbesatzung in Westbank und Gazastreifen vor 15 oder 20 Jahren, blieb es auf den Straßen Tel Avivs und Jerusalems gespenstisch still. Während wackere ZionistInnen und ihre SympathisantInnen in Deutschland den Juni-Krieg als heroischen Sieg des kleinen David im Existenzkampf gegen feindliche Nachbarn stilisieren, sprechen nachdenklichere Stimmen eher von einem "schrecklichen Sieg" und verweisen auf den hohen Preis, den Israel für die Aufrechterhaltung der Besatzung zahle.

Nur wenige Stimmen sind zu hören, unter ihnen die Ha'aretz-JournalistInnen Gideon Levy und Amira Hass, die weiterhin von der Brutalität und Bösartigkeit des Besatzungsalltags schreiben und auf die damit einhergehende Selbstzerstörung der israelischen Gesellschaft und Politik hinweisen. Die meisten Israelis versuchen, die Existenz von Palästinensern einfach zu ignorieren. Aufgrund der räumlichen Trennung zwischen beiden Bevölkerungsgruppen fällt ihnen dies einigermaßen leicht.

Die drei Kreise des israelischen Kontrollsystems

Die Bevölkerung der "einzigen Demokratie des Nahen Ostens" ist seit 1967 in drei konzentrischen Kreisen um das politische Zentrum herum angesiedelt, das den Zugang zu politischer Macht, ökonomischen Ressourcen und symbolischer Repräsentation regelt. Im inneren Kreis dieses von dem kürzlich verstorbenen Soziologen Baruch Kimmerling so bezeichneten "israelischen Kontrollsystems" befinden sich die jüdischen Israelis, ca. fünf Millionen Menschen. Sie genießen volle demokratische Rechte. Im mittleren Kreis sind die palästinensischen StaatsbürgerInnen Israels angesiedelt, etwas mehr als eine Million Menschen, die zwar formal gleichberechtigt sind, aber faktisch marginalisiert werden. Im äußeren Kreis befindet sich die palästinensische Bevölkerung der Westbank und des Gazastreifens, ca. drei Millionen Menschen, die unter direkter oder indirekter israelischer Herrschaft leben, ohne aber an demokratischen Rechten und Wohlstand zu partizipieren.

Diese "Demokratie-GmbH" produziert strukturelle Widersprüche, die nur schwer kontrollierbar sind. Am deutlichsten werden diese im Zusammenprall zwischen der messianisch verbrämten faschistoiden Siedlerbewegung und der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Das Motiv für die Räumung des Gazastreifens durch den damaligen Premier Ariel Sharon im Sommer 2005 war es, die Reibungspunkte zwischen dem inneren und dem äußeren Ring des Kontrollsystems auf ein leichter handhabbares Maß zu verringern. Seitdem wurde diese Enklave zu dem am dichtesten besiedelten und größten Freiluftgefängnis der Welt. Auch der Bau von Mauern und Sperranlagen um und innerhalb der Westbank folgt dieser Logik - das Kontrollsystem wird zementiert, die verschiedenen Bevölkerungsgruppen getrennt.

Die meisten jüdischen Israelis haben sich trotz etwaiger moralischer Bedenken mit der sicherheitspolitischen Notwendigkeit dieser Politik abgefunden; nicht wenige halten sie schlicht für den Normalzustand. Der daraus zwingend folgende Konflikt mit den entrechteten und enteigneten BewohnerInnen des äußeren Rings wird in technokratischer Überheblichkeit als ein für die hochgerüstete israelische Armee und global vernetzte Wirtschaft quasi endlos verlängerbarer asymmetrischer Krieg abgetan. Solch Fatalismus ist Ausdruck politischer Ratlosigkeit.

Dies war nicht immer so: Der Oslo-Prozess der 1990er Jahre war immerhin der Versuch einer Reform, wenn auch nicht der Abschaffung, des israelischen Kontrollsystems. Die erste Intifada (1988 bis 1991) hatte Zweifel bei den israelischen Eliten hinsichtlich der politischen wie finanziellen Kosten der Besatzung genährt. Zudem drängten die USA ihren Juniorpartner unter Androhung von finanziellen Sanktionen, eine politische Lösung des Nahostkonflikts anzugehen. Dies führte zur Madrid-Konferenz von 1991 und gipfelte in dem berühmten Handschlag zwischen Rabin und Arafat auf dem Rasen des Weißen Hauses im Sommer 1993. Träume von einer mittelöstlichen Freihandelszone unter israelischer Beteiligung nach Beilegung des Konflikts begeisterten die israelische Mittel- und Oberschicht. Für dieses im Kern wirtschaftsliberale Ziel war eine knappe Mehrheit der jüdischen Israelis anfangs zur symbolischen Anerkennung palästinensischer nationaler Ambitionen sowie zu begrenzten Umverteilungen von Macht und Ressourcen bereit. Der Status der palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) als Hilfssheriff Israels in Westbank und Gazastreifen bildete die Machtverhältnisse zwischen Israelis und Palästinensern durchaus angemessen ab.

Oslo war dennoch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt: Die PNA verhielt sich in etwa wie eine Gewerkschaft, die einen besseren Deal für ihre Klientel mittels eines "sozialpartnerschaftlich verantwortungsbewussten Verhaltens" zu erreichen sucht. Die Akzeptanz eines solchen Vorgehens seitens der Belegschaft hängt davon ab, ob ihre Interessen dabei in erträglichem Maße berücksichtigt werden. Aber genau an diesem Punkt versagte Arafat. Um im Bild zu bleiben: Über Vorstandsposten für Gewerkschaftsbosse hinaus waren von Arbeitgeberseite keine realen Verbesserungen für die Belegschaft vorgesehen. Deren Lebensbedingungen wurden im Gegenteil immer schlechter: Seit 1993 ist der israelische Arbeitsmarkt für palästinensische ArbeitnehmerInnen aus Westbank und Gazastreifen weitgehend geschlossen. Anstatt wie vereinbart den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten einzufrieren und eventuell zurückzufahren, expandierten die jüdischen Siedlungen in den 1990er Jahren wie nie zuvor. Dies ging notwendigerweise mit einer forcierten Enteignung palästinensischen Bodens einher.

Rabin scheute den Konflikt mit fanatischen Siedlern

Die Siedlungen expandieren bis heute. Diverse Vereinbarungen über die Rückgabe israelisch kontrollierten Landes und einen Rückzug der israelischen Armee wurden entweder nie umgesetzt oder bei erster sich bietender Gelegenheit von Israel widerrufen. Im Armeejargon handelte es sich dabei auch lediglich um "Umgruppierungen", welche die täglichen Reibungspunkte zwischen israelischem Militär und der palästinensischen Bevölkerung minimieren sollten, ohne die Kontrolle über das Terrain aufzugeben. Der spätere Rückzug aus dem Gazastreifen folgte genau der selben Logik.

Während alle Welt vom Friedensprozess in Israel/Palästina schwadronierte, entstand das System der nach ethnischen Kriterien getrennten Straßen; zahllose Checkpoints, Zäune und Militärverordnungen beschränken seitdem die Freizügigkeit für PalästinenserInnen. Die besetzten Gebiete wurden in eine Ansammlung von Kaninchenkäfigen verwandelt, die jederzeit von Israel verriegelt oder wiedererobert werden können. Der Güterverkehr zwischen Westbank und Gaza sowie innerhalb der beiden Teilgebiete blieb zahlreichen und unplanbaren Beschränkungen unterworfen. In der Folge sank der Lebensstandard in Westbank und Gaza dramatisch. Lediglich durch Verbindungen zur PNA, also durch Wohlverhalten gegenüber den israelischen Vorstandsvorsitzenden, war es möglich, zu Wohlstand zu gelangen. Die Korrumpierbarkeit und politische Schwäche der PNA gegenüber Israel sowie ihr autokratischer Führungsstil innerhalb ihres Einflussbereichs waren schnell sprichwörtlich und trugen zu ihrer Erosion maßgeblich bei.

Bleibt die Frage, wieso die mit dem Oslo-Prozess identifizierten sozialdemokratisch geführten israelischen Regierungen der 1990er Jahre, insbesondere diejenige unter Premierminister Yitzhak Rabin, sich der simplen Einsicht verschlossen, dass man den Esel füttern muss, der den Karren ziehen soll. Immerhin handelte man dabei gegen die eigenen strategischen Interessen, die eine Integration Israels als regionale Führungsmacht im Mittleren Osten infolge einer nachhaltigen De-Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts vorsahen. Vor allem innenpolitische Widersprüche scheinen für dieses Scheitern verantwortlich gewesen zu sein: Rabin wagte es nicht, entschieden gegen die Siedlerlobby vorzugehen, obwohl er nach dem Massaker von Baruch Goldstein (übrigens auch ein Arzt, wie so viele Selbstmordattentäter in letzter Zeit) an betenden Palästinensern in der Abrahams-Moschee von Hebron/al-Khalil im Jahr 1994 innenpolitisch die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Goldstein wie auch der spätere Mörder Rabins, Yigal Amir, gehörten zu jenen Kreisen fanatisierter Siedler, für die selbst eine symbolische Anerkennung palästinensischer Rechte eine Blasphemie bedeutet.

Rabins Zögern gehört im Rückblick sicher zu seinen folgenschwersten Versäumnissen. Aus seiner Perspektive aber war der Rückhalt in der jüdisch-israelischen Bevölkerung für eine Politik des Ausgleichs mit den PalästinenserInnen offenbar zu wackelig, als dass er es auf eine Konfrontation mit den Siedlern ankommen lassen wollte.

Und im nächsten Jahr: 40. Jahrestag der Staatsgründung

Die mangelnde Akzeptanz des Oslo-Prozesses unter den Angehörigen des inneren Rings der Macht in Israel/Palästina aber war neben ideologischen oder religiösen Motiven nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass "Oslo" Teil einer neoliberalen Umstrukturierung der gesamten Region war, die auch in Israel selbst starke Verwerfungen produzierte und den Lebensstandard breiter jüdisch-israelischer Wählerschichten real bedrohte, während die den politischen Prozess tragenden Eliten sich von dieser Variante der Globalisierung kräftige Gewinne versprechen durften.

Es gibt immer mal wieder Stimmen, die behaupten, die Arbeitspartei könne ihre Mehrheitsfähigkeit und politische Handlungsspielräume wiedergewinnen, indem sie sich auf ihre sozialdemokratischen Wurzeln besinne. Anstatt derlei Zusammenhänge ernsthaft ins Auge zu fassen, lamentieren die (ehemals) sozialdemokratischen, liberalen und säkularen israelischen Eliten jedoch lieber über die ideologisch dem Likud nahestehenden und mehr oder weniger stark religiös geprägten Unterschichten, die in den "Osloer Jahren" weitergehende Zugeständnisse an palästinensische Forderungen ablehnten. Im Interesse des eigenen Machterhalts wollte man diese Wählerschichten nicht völlig vergraulen und verwässerte so die gegenüber der PNA eingegangenen Verpflichtungen zusehends.

Als im Sommer 2000 die frustrierte und um die Stabilität ihres eigenen Ladens zu Recht fürchtende PNA die Notbremse zog, Yassir Arafat das ach so großzügige Angebot Ehud Baraks in Camp David ablehnte und auf substanziellen Zugeständnissen Israels beharrte, brach die ganze Konstruktion in sich zusammen. Seitdem gefallen sich jüdisch-israelische frühere Oslo-Fans in Opferposen, stilisieren sich als aufrechte und gutmeinende Liberale, die von ihren eigenen Leuten, besonders aber von den undankbaren und fanatisierten PalästinenserInnen betrogen wurden, weshalb letztere nun zum legitimen Hassobjekt avancieren. In der politischen Klasse Israels findet sich heute niemand, die/der ernsthaft für eine Verhandlungslösung mit der palästinensischen Seite eintritt, schon gar nicht seit dem Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr und seit der Machtübernahme der Organisation im Gazastreifen im Juni dieses Jahres. Gefragt sind lediglich Rezepte, wie der Konflikt gemanagt werden kann. Wenn militärisch geprägte Technokraten die Politik eines Landes bestimmen, ist vielleicht auch nicht mehr zu erwarten. Eine politische Strategie, die mehr ist als das Beharren auf dem Recht des Stärkeren, sucht man vergebens.

Währenddessen tickt die "demographische Uhr". Aufgrund ihrer höheren Geburtenrate werden PalästinenserInnen in sehr absehbarer Zeit eine Bevölkerungsmehrheit in Israel/Palästina bilden. Hinter den mit dem Chiffre 1967 verbundenen Fragen wartet die noch weit existentiellere Auseinandersetzung mit den Folgen des Krieges von 1948. In Erinnerung daran feiert Israel im kommenden Jahr den 60. Jahrestag der Staatsgründung. PalästinenserInnen gedenken derweil der Katastrophe, die jener Krieg für sie bedeutete. Die grundlegende Problematik des Zusammenlebens zweier Nationen auf dem selben Stück Land wird auch im kommenden Jahr ungelöst bleiben.

Achim Rohde