Heiligendammer Verdichtungen
Der präventive Sicherheitsstaat nimmt Gestalt an
Sicherheit hat Hochkonjunktur. Seien es terroristische Anschläge oder StalkerInnen, sei es die scheinbar immer gewalttätigere Jugend oder die russische Mafia; die persönliche Sicherheit scheint von allen Seiten bedroht zu werden. Die daraus entstehende allgemeine Verunsicherung in der Bevölkerung wird von der Politik gerne bedient und als Legitimation für immer weitergehende Befugnisse des Staates herangezogen. Vor allem Einzelfälle von spektakulären und/oder folgenschweren Straftaten werden immer wieder als Begründung herangezogen, um "Sicherheitslücken" zu schließen und ein konsequentes Vorgehen der Sicherheitsbehörden anzumahnen.
Damit wird einerseits der Illusion Vorschub geleistet, dass eine absolute Sicherheit vor sämtlichen Gefahren und Risiken in einer hochkomplexen Gesellschaft möglich ist. Diese werden immer weniger als Bestandteil eines allgemeinen, selbstverständlichen Lebensrisikos angesehen, sondern als Bedrohungen, die auf jeden Fall verhindert werden müssen. Andererseits wird damit ein Präventionskonzept zur hegemonialen Leitlinie staatlicher Sicherheitspolitik, das sich dem Ziel verschreibt, sämtliche Risiken frühzeitig zu erkennen, um zu verhindern, dass sie sich zu einer konkreten Gefahr verdichten oder tatsächlich zu einem Schaden führen. Prävention und Sicherheit sind eng miteinander verwoben: Der Wunsch nach Sicherheit fördert Strategien der Prävention, ebenso wie die (vermeintlichen) Möglichkeiten der Prävention das Sicherheitsdenken vorantreiben.
Hegemoniale Leitlinie staatlicher Sicherheitspolitik
Die Idee der Prävention ist mittlerweile Leitgedanke für Politik und Behörden im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit geworden. Sie ist längst nicht mehr nur im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung zu finden, sondern bestimmt staatliches Handeln in allen sicherheitsrelevanten Bereichen. Dies führt zu grundlegenden Veränderungen bei Maßnahmen und Strategien der Sicherheitsproduktion, die rechtsstaatliche Standards untergraben, weshalb von der Entwicklung hin zu einem "präventiven Sicherheitsstaat" gesprochen wird. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt bei den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm deutlich geworden, wo sich die genannten Veränderungen beispielhaft verfolgen lassen.
Prävention im Sinne von Risikoerkennung und Risikoabwehr bedingt eine weitreichende Vorverlagerung staatlicher Eingriffsbefugnisse. Informationen über etwaige risikoträchtige Situationen, Orte oder Personen müssen gesammelt, zusammengeführt und ausgewertet werden, um dann anhand des so gewonnenen Datenmaterials bestimmen zu können, ob ein Risiko vorliegt, dieses hinnehmbar ist oder eine Reaktion erfordert. Diese Reaktion findet aber nicht erst dann statt, wenn sich die Hinweise soweit verdichtet haben, dass eine konkrete Gefahr vorliegt. Der Gedanke der Prävention erfordert es, schon viel früher sozialgestalterisch einzuwirken, um Risiken zu verhindern.
Da es sich bei dem Risiko nur um eine statistische Wahrscheinlichkeit handelt, dass sich eine bestimmte Lage zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Gefahr entwickeln könnte, sind potenziell alle Situationen, Orte und Personen als risikobehaftet zu klassifizieren. Denn da es nie ausgeschlossen werden kann, dass ein bestimmter Faktor sich - im Zusammenwirken mit anderen Faktoren - zu einem Risiko entwickeln könnte, müssen sämtliche Lebensbereiche in den Blick genommen und kontrolliert werden.
Diese Denklogik der Vorverlagerung führt zu einer grundlegenden Veränderung staatlicher Sicherheitsmaßnahmen. So wird beispielsweise das Strafrecht immer mehr um sogenannte abstrakte Gefährdungstatbestände erweitert, die eine Strafbarkeit nicht erst bei konkreten Schädigungen oder Verletzungen vorsehen, sondern schon bei riskanten Handlungen. Hauptanwendungsbereich ist das Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht, aber auch beispielsweise das Versammlungsrecht, wo das Verwenden von Schutz- und Vermummungsmitteln schon verboten ist.
Darüber hinaus erlangen staatliche Handlungsformen neue Bedeutung, die nicht reaktiv, sondern proaktiv sind. Deutlich wird diese Verschiebung in der Erweiterung des polizeilichen Aufgabenbereiches. Die Polizei war entweder zuständig für die Aufklärung von Straftaten oder für die Abwehr von Gefahren. Neu hinzugekommen ist die sogenannte Straftaten- und Gefahrenvorsorge. Der Polizei ist es nunmehr gestattet, auch unabhängig von konkreten Gefahrenlagen oder begangenen Straftaten Informationen zu erheben und zu verarbeiten. Beredtes Beispiel dafür ist die Videoüberwachung, mittels derer Kriminalitätsschwerpunkte und andere "gefährliche Orte" überwacht werden können, unabhängig von dem konkreten Verhalten der sich an diesem Ort aufhaltenden Personen.
Vorverlagerung und Entrechtung
Staatliche Eingriffe werden damit auch im Bereich alltäglicher Situationen und in Bezug auf sozialadäquate Verhaltensweisen legitimiert. Auf diesem Weg entsteht an der Schnittstelle zwischen Straf- und Polizeirecht eine Form proaktiver Prävention, die sich nicht mehr an einem konkreten Individuum orientiert, sondern sich entweder an risikoträchtigen Orten, Strukturen und Lagen ausrichtet oder gleich die Bevölkerungsmitglieder in ihrer Gesamtheit als Risikofaktoren klassifiziert, wie die verdachtsunabhängige Speicherung der persönlichen Telekommunikationsdaten eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Staatliche Eingriffe sind damit nicht mehr abhängig von einem Verdacht auf eine bevorstehende Gefahr oder auf eine begangene Straftat. Dies führt einerseits zu einer Entgrenzung staatlicher Macht, andererseits zu einer Aufstockung des Arsenals staatlicher Sicherheitsmaßnahmen. Die ständige Notwendigkeit der Risikoerkennung und Prognose führt zu einem unstillbaren Wissensdurst, in dessen Zuge die Bedeutung der Privatheit wie auch die Möglichkeiten der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Gewalt abnehmen.
Das Primat der Sicherheit führt aber auch zu einer Tendenz der beschränkten Reichweite des Rechts. Rechtsstaatliche Schutzstandards und Grundrechte gelten nicht für alle und auch nicht in allen Fällen. Betroffen davon sind vor allem Mitglieder von "Risikogruppen", bei denen sich bestimmte Risikofaktoren häufen und die daher als besonders gefährlich angesehen werden. Ihnen wird neben sozialen und ökonomischen Teilhaberechten oft auch der Rückgriff auf rechtliche Schutzinstrumente versagt. Sie werden ausgeschlossen, entweder räumlich und zeitlich konkretisiert oder für immer. Dies zeigt sich in dem Umgang mit MigrantInnen an den außereuropäischen Grenzen genauso wie in der Schaffung eines Lagersystems innerhalb der Grenzen Europas. Das gleiche gilt für das Gefängnis und die Ausweitung der Sicherungsverwahrung in Deutschland.
Aktuell zeigen sich Tendenzen der Entrechtung vor allem im Bereich der Terrorismusbekämpfung. Überall auf der Welt sind Entwicklungen feststellbar, die darauf hinauslaufen, diejenigen, die des Terrorismus verdächtig sind, vom Zugang zu den Institutionen und Instrumenten des Rechtsstaates auszuschließen. Dazu ist es nicht erforderlich, nach Guantánamo zu schauen und sich die in den USA geschaffenen Sondermilitärgerichte vor Augen zu führen. Auch in Deutschland werden immer wieder entsprechende Diskussionen geführt: sei es der Umgang mit den CIA-rendition-Fällen oder die jüngsten Äußerungen Schäubles zur extralegalen Tötung von Terroristen. Ein weiteres Beispiel ist die Terror-Liste der EU. Das Verfahren, nach dem über die Aufnahme in und die Streichung von der Liste entschieden wird, ist streng geheim. Wer einmal auf die Liste kommt, verliert mit einem Schlag seine ökonomische Freiheit; eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Aufnahme in die Liste ist nicht vorgesehen und nur unter erschwerten Bedingungen möglich.
Im administrativen Umgang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm zeigte sich diese Tendenz in eklatanter Weise. Demonstrationen, Kundgebungen, ja jegliche Formen des Protestes wurden als Risiko, als potenzielle Störung des Gipfels angesehen und dementsprechend behandelt. Die grundrechtliche Bedeutung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit trat dabei vollkommen in den Hintergrund.
In Heiligendamm zeigte sich eine Entwicklung, die auch schon von den Protesten im Wendland gegen die Castor-Transporte bekannt ist. Die Polizei setzt nicht mehr darauf, Personen einer Straftat zu überführen und einen entsprechenden Haftbefehl zu erwirken, sondern sie nutzt das polizeirechtliche Instrumentarium der Ingewahrsamnahme, um DemonstrantInnen als StörerInnen einkesseln, festhalten und mitunter stunden- oder tagelang in Gefangenensammelstellen einsperren zu können. In Rostock/Heiligendamm kamen auf ca. 1.300 Ingewahrsamnahmen lediglich zwölf Haftbefehle wegen begangener Straftaten. Das heißt, fast alle wurden nur deswegen von der Polizei festgenommen und festgehalten, weil die Vermutung bestand, dass von ihnen eventuell Störungen ausgehen könnten. Die Repression wurde vorverlagert.
Mit dem Bau des Zauns und dem Erlass der Allgemeinverfügung über eine Sonderzone, in der alle Versammlungen verboten sind, hat die Polizeisondereinheit BAO Kavala eine versammlungsrechtsfreie Zone geschaffen. Mit der "technischen Sperre" waren Demonstrationen innerhalb Heiligendamms nicht mehr möglich. Durch die Allgemeinverfügung wurden zwar Demonstrationen - was sich an den Blockadetagen deutlich zeigte - nicht verhindert. Die Polizei konnte aber unter Umgehung des Versammlungsrechts nach eigenen Maßstäben darüber entscheiden, wann, wo und wie sie gegen die "Eindringlinge" vorgehen wird. Die DemonstrantInnen befanden sich somit in einer rechtlichen Grauzone, die üblichen rechtsstaatlichen Mechanismen griffen nicht mehr.
Präventiver Sicherheitsstaat in Aktion
Ähnliche Tendenzen der Entrechtlichung konnten auch in dem Umgang mit den Gefangenen in den Gefangenensammelstellen (Gesas) beobachtet werden. Ihnen wurden teilweise die Standardrechte vorenthalten (Telefonieren, Essen, Trinken, Anwaltskontakt etc.), vor allem aber kontrollierte Kavala den Zugang zu den Gesas und damit auch zu den dort arbeitenden RichterInnen. Die Polizei entschied, wem, wann und unter welchen Voraussetzungen Zugang gewährt wurde. Diese Willkür diente nicht irgendwelchen Sicherheitsinteressen - wie sollten diese auch durch eine Gruppe von ca. zehn AnwältInnen, die gleichzeitig dort vor Ort waren, tangiert werden. Vielmehr diente es allein der Verhinderung von Rechtsschutz und der Manifestation der Macht der Exekutive.
Die aufgezeigten Tendenzen machen es erforderlich, die Arbeit der Sicherheitsinstitutionen - und dabei insbesondere die von Kavala - im Rahmen des G8-Gipfels genauer zu analysieren, da sich dort wie im Brennglas eine länger zu beobachtende Entwicklung in aller Deutlichkeit zeigte. Damit wird aber auch deutlich, dass eine Kritik sich nicht auf das polizeiliche Vorgehen in Rostock/Heiligendamm beschränken darf, sondern den gesamten sich herausbildenden präventiven Sicherheitsstaat in den Blick nehmen muss.
Peer Stolle/Tobias Singelnstein
Literatur:
vorgänge - Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Heft 2/2007; Norbert Pütter: Prävention. Spielarten und Abgründe einer populären Überzeugung; in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP, Heft 86 (1/2007); Tobias Singelnstein/Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert. Wiesbaden 2006