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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 520 / 21.9.2007

Präsidialdekrete und Partizipation

Ein Beitrag zur Venezuela-Debatte in ak 518 und 519

Die Frage, wie es um die politischen Partizipationsmöglichkeiten in der bolivarianischen Revolution bestellt ist, war Thema zweier kontroverser Artikel in ak 518 und 519. Im ersten Beitrag versucht das AutorInnentrio Rivas/Zehatschek/Dröscher die Widersprüche zwischen partizipatorischem Diskurs der Regierung Chávez und einer davon deutlich abweichenden Praxis herauszuarbeiten. Die Einschätzung von Rivas/Zehatschek/Dröscher fällt ziemlich skeptisch aus. In seiner Replik in ak 519 wirft Jan Kühn den drei AutorInnen vor, nicht auf die "materielle Wirklichkeit" einzugehen und der "Illusion bürgerlicher Demokratie" aufzusitzen. Ihr Artikel spiele jenen in die Hände, "die das bolivarianische Projekt zerschlagen" wollen.

Der Ton von Jan Kühns Artikel ist harsch, sein Vorwurf starker Tobak. Hat die ak-redaktion geschlafen, oder drosch vielmehr ein besonders eifriger Chávez-Fan ins Leere? Die Debatte ist für die Linke aus mehreren Gründen wichtig: So beziehen sich Teile der Linken bis hin zu Oskar Lafontaine positiv auf die bolivarianische Revolution und Präsident Hugo Chávez. Unter dem Stichwort "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" erhebt dieser Prozess mittlerweile den Anspruch, zur Erneuerung linker Politik weltweit beizutragen. Dementsprechend heftig wird Chávez von den Verteidigern des Status quo angefeindet. In der Regel blenden die Anwürfe positive soziale und politische Fakten aus und wiederholen ohne weitere Prüfung die Argumente einer hasserfüllten und reaktionären venezolanischen Opposition. Deren Negativurteile sind völlig einseitig und demagogisch.

Die Kehrseite: Die VerteidigerInnen der bolivarianischen Revolution - bzw. genauer: die ApologetInnen des Chavismus, was keineswegs dasselbe sein muss - argumentieren häufig ebenfalls ziemlich undifferenziert. Tatsachen, die nicht in das eigene Bild passen, werden ausgeblendet. Standpunkte wie z.B. jene von Rivas/Zehatschek/Dröscher, die versuchen aus linker Sicht bestimmte Teilaspekte der staatlichen Politik kritisch zu hinterfragen, werden ohne wirkliche Prüfung verworfen, pauschal dem gegnerischen Lager zugeschrieben und damit aus der linken politischen Debatte herausdefiniert.

Dabei wird ein uralter Fehler aus vergangenen Solidaritätsbewegungen wiederholt, die bedingungslose Loyalität mit allen Windungen und Wendungen mit der als Vorbild erkorenen revolutionären Führung. Zudem wird übersehen, dass der gegenwärtige Prozess in Venezuela im Vergleich etwa mit dem Sandinismus, den Befreiungsbewegungen El Salvadors und Guatemalas, der Regierung Allende in Chile oder auch dem Zapatismus sich nicht als eindeutige politische Wasserscheide eignet. Denn anders als bei diesen Beispielen sind die Gegner von Chávez keineswegs nur Contras und Reaktionäre. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in Venezuela gerade unter linken Intellektuellen viele gibt, die mit dem Chavismus wenig oder gar nichts zu tun haben wollen. Es ist ein bemerkenswerter (und bedenklicher) Umstand, dass die bolivarianische Revolution an den großen Universitäten des Landes nur geringe Unterstützung findet, und dies im Unterschied zu allen anderen genannten linken Bewegungen Lateinamerikas. Darauf hat der kenntnisreich und differenziert argumentierende Lateinamerikawissenschaftler Klaus Meschkat hingewiesen. (1)

Hinter Hugo Chávez steht ein heterogenes Bündnis

Das Besondere an dem politischen Prozess in Venezuela scheint mir die Kräftekonstellation zu sein, welche die bolivarianische Revolution trägt: das Bündnis aus fortschrittlichen Militärs, kleinen linken Gruppen und Parteien, Basisorganisationen, chávezfreundlichen Teilen der Leitungskader in Staatsunternehmen - und hier vor allem in der Ölgesellschaft PdVSA - sowie den Marginalisierten als eigentlicher Massenbasis. Letztere sind die Mehrheit der Bevölkerung und bringen das Gros der Stimmen bei den Wahlen. In Klassentermini gesprochen ist das Bündnis, das Chávez trägt, heterogen: Es sind vor allem die aus der formellen Ökonomie Ausgeschlossenen, nur in einem geringen Maße die Ausgebeuteten sowie eine im Windschatten der bolivarianischen Revolution neu aufstrebende Funktionärs- und Mittelklasse. Die Gegner sind: die Boden und Kapital besitzende Oberschicht, die alten Mittelschichten, die ihren sozialen Status den Korruptionsmechanismen verdanken, welche das gescheiterte Zweipartensystem geboten hatte, sowie in Staatsbetrieben und öffentlichen Institutionen Beschäftigte, die von "gelben Gewerkschaften" vertreten werden. Den von Chávez benutzten Begriffen "Oligarchie" versus "Volk" bzw. "organisiertes Volk" schreibt Jan Kühn "eine klassenkämpferische Konnotation" bzw. "unabänderliche historische Bedürfnisse" zu; in Wahrheit vernebeln diese Begriffe eher Konfliktlagen, als diese zu entschlüsseln.

In der Analyse sollten zwei Ebenen, die sich in der politischen Realität zum Teil überlagern, aber nicht decken, getrennt betrachtet werden: Da ist zum Einen die staatliche und staatspolitische Ebene in all ihren Dimensionen. Diese Ebene der "großen Politik" wird hauptsächlich von Präsident Hugo Chávez geprägt. Die zeitlich begrenzte Selbstentmachtung des gewählten Parlaments sowie die Debatte um die erneute Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten sprechen Bände. Diese Ebene der Politik ist zwar durch Wahlen vielfach legitimiert worden, dennoch ist sie alles andere als "partizipatorisch". Vielmehr dominiert hier ein Politikstil, wie er in Lateinamerika vom klassischen Caudillo her bekannt ist. Dass dieser im Falle Chávez eine soziale Ader hat, überaus populär ist und immer wieder gewählt wird, ist damit nicht in Abrede gestellt. Das Besondere ist, dass Chávez den Spielraum für die Selbstorganisation seiner Massenbasis, also der Marginalisierten, erweitert. Hier, an der gesellschaftlichen Basis, finden partizipatorische Prozesse statt, die diesen Namen verdienen.

Das Problem - darauf hat Raul Zelik (2) hingewiesen - ist, dass es sich dabei um "massenhaft singuläre Prozesse" handelt, um "molekulare Strukturen", die zwar miteinander kommunizieren, aber keine organisierte politische Kraft bilden. Die Massenbasis der bolivarianischen Revolution tritt in bestimmten historischen Momenten immer wieder als gebündelte Kraft in Erscheinung, insofern handelt es sich nicht um "spontane" Interventionen. Gleichzeitig verfügt diese Basis nicht über ein Organisationszentrum welcher Art auch immer, das von der Regierung Chávez unabhängig wäre.

Kaum Einfluss der Basis auf die "große Politik"

Wie weit diese Basisbewegungen wirklich unabhängig sind und inwieweit sie von staatlichen Akteuren via Mittelzuweisung gegängelt werden, kann nur in detaillierten Untersuchungen bewertet werden. Allgemeine Aussagen halte ich in diesem Zusammenhang eher für Glaubenssätze als für verifizierbare Zustandsbeschreibungen.

In der Gesamtbewertung des politischen Prozesses ist nicht zu übersehen, dass die partizipatorischen Basisbewegungen die "große Politik" nicht prägen. Diese wird von Hugo Chávez vorangetrieben. In der Unentbehrlichkeit einer alles überragenden, schillernden Führerfigur, welche, vorbereitet durch ein enges Beraterumfeld, ständig neue Initiativen lanciert, zeigt sich eine gravierende Schwäche der übrigen fortschrittlichen und linken Akteure. Historische Erfahrungen zeigen, wie schnell derartige Prozesse kippen können.

Chávez' Initiativen haben innenpolitisch und international das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten verschoben. Zur Konsolidierung und Vertiefung dieser Terraingewinne in Richtung eines inhaltlich erst noch zu definierenden "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist jedoch die qualitative Stärkung der partizipatorischen Basisprozesse zu Lasten der übergroßen Macht des Präsidenten nötig.

Albert Sterr

Anmerkungen:

1) Klaus Meschkat: Wie halten wir es mit Hugo Chávez? In: Lateinamerika - Analysen und Berichte Nr. 29, Münster 2005, Seite 62-73

2) Raul Zelik: Venezuelas bolivarianischer Prozess. In PROKLA 142, Berlin 2006, Seite 23-47