Aufgeblättert
Kalter Krieg, heißer Krieg
Die zeitgenössischen Debatten über Krieg und Frieden sind vielfach von Annahmen geprägt, die nicht weiter hinterfragt werden. Eine dieser Annahmen ist die Vorstellung des "Kalten Krieges" als einer weltweiten Konfrontation zwischen zwei monolithischen Blöcken, wobei die Kriege in der "Dritten Welt" als "Stellvertreterkriege" definiert werden. Der Sammelband "Heiße Kriege im Kalten Krieg" stellt diese Annahme in Frage und versucht, sie auch mit Hilfe von Fallbeispielen zu überprüfen und andere Erklärungsmuster anzubieten. Zwei Ansätze werden betont: so zum einen, die Kriege in der "Dritten Welt" primär als De- und Post-Kolonialkriege zu verstehen und zum anderen, sie aus der Perspektive der lokalen und regionalen Strukturen und Akteure zu sehen. Neben bekannten Fällen, wie etwa den Kriegen in Korea und Vietnam, wird etwa die widersprüchliche und von regionalen Dynamiken bestimmte Rolle Ägyptens während des Kalten Krieges näher beleuchtet. Hier wird dargestellt, wie die ägyptische Staatsführung die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion für ihre strategischen Interessen zu nutzen versuchte. Die Publikation ist für alle zu empfehlen, die sich für historische politische Konflikte interessieren, die auch für die heutigen politischen Strukturen prägend sind. Zwei Einschränkungen gibt es jedoch. Zum einen fehlt, für einen Tagungsband nicht untypisch, eine dezidierte Einführung und Zusammenfassung. Zum anderen findet sich bei einigen Autoren die argumentativ nicht nachvollziehbare These, dass neoliberale Wirtschaftsstrukturen die Lösung für die durch planwirtschaftliche Modelle geschaffenen Probleme seien. Dies ist sehr fraglich. Jedenfalls haben die neoliberalen Maßnahmen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges für die jeweilige Bevölkerung selten mehr Wohlstand und soziale Sicherheit mit sich gebracht.
Ismail Küpeli
Bernd Greiner, Christian Th. Müller, Dierk Walter (Hg.): Heiße Kriege im Kalten Krieg. Hamburger Edition 2006, 514 Seiten, 34 EUR
NS-Psychiatrie
In Münster war Paul Wulf (1921-1999) eine Institution. Wer ihn gekannt hat (wie der Rezensent), wird nie vergessen, wie er mit Regenmantel, Hut und Aktentasche direkt auf einen zusteuerte. Er hatte dann mal wieder etwas in den Archiven gefunden: Material gegen Mediziner, die an den NS-Verbrechen beteiligt gewesen waren und nach 1945 unbehelligt ihre Karrieren fortsetzen konnten. Paul Wulf war als 16-jähriger wegen "Schwachsinn" zwangssterilisiert worden; seine Bemühungen, als NS-Opfer eine Entschädigung zu erhalten, waren erst nach vielen Jahren erfolgreich. Mit seinem Lebensthema konfrontierte er junge Linke zu einer Zeit, als diesen die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bestenfalls zweitrangig erschien. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob er eher Kommunist oder Anarchist war - er war ein Anti-Autoritärer, unangepasst und aufsässig gegen Spießbürger und Pfaffen. Mit dem lesenswerten Buch "Lebensunwert?" erinnert der Freundeskreis Paul Wulf an einen außergewöhnlichen Menschen. Er berichtet auch über die Leidensgeschichte von Paul Brune (geboren 1935), der 1943 als "debiler Psychopath" nur knapp der Ermordung im Rahmen der Euthanasie entging und nach 1945 noch viele Jahre in kirchlichen geschlossenen Anstalten gehalten wurde. Erst 2003 wurde er als eines der ersten Opfer der NS-Psychiatrie anerkannt. Wie Paul Wulf hat auch Paul Brune sich als Autodidakt Bildung angeeignet, später sogar studiert. Bei aller Besonderheit dieser beiden "Einzelschicksale" wird in dem Buch auch die Systematik der "Erbgesundheitslehre" deutlich - einschließlich ihrer Wirkungen über das Ende des NS-Staates hinaus.
Js.
Freundeskreis Paul Wulf (Hg.): Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2007, 202 Seiten, 14,90 EUR
Roman einer Kindheit
"Ich lerne zu lesen, ohne es zu merken. Meine Tage spielen sich neuerdings an einem Ort ab, an dem sich die Welt vervielfacht. Ich bin sechs Jahre alt und gehe zur Schule", so Nadia, die Erzählerin des neuen Romans von Brigitte Giraud "Das Leben der Wörter". Nadia lebt mit ihrer Familie - Vater, ältere Schwester und Stiefmutter - in einer Wohnsiedlung eines der Vororte von Lyon. Mit der Einschulung verändert sich ihr Leben entscheidend, nicht nur durch die neue Alltagsroutine. Für Nadia erschließt sich mit dem Besuch der Schule eine neue Welt, sie lernt Bekanntes mit anderen Augen zu sehen und mit neu erworbenen Maßstäben zu werten. Und sie lernt zu zweifeln, zu hinterfragen. So wie sich ihr persönlicher Horizont mit jedem Tag erweitert, so erfahren die LeserInnen immer mehr über ihre Lebensrealität: Der Algerienkrieg ist vorbei, aber immer noch präsent, "die Frau, die nicht meine Mutter ist", verweist auf eine schmerzhafte Leerstelle. Nadia ist auf der Suche und entdeckt vieles: warum Wasser verdampft oder Schnecken Fühler haben, aber auch das Erwachen neuer Gefühle, letztlich sich selbst. Ein wunderbar geschriebener Roman über eine Kindheit, berührend und poetisch. "Ich lerne mit zweistelligen, dann mit dreistelligen Zahlen rechnen, in Dutzenden, in Einheiten zählen. Bald schon kann ich bis tausend zählen. Ich lerne, dass man von tausend bis zu vielen weiteren Tausendern zählen kann. Ich entdecke die Unendlichkeit" - und das nicht nur in Bezug auf Mathematik.
Raphaela Kula
Brigitte Giraud: Das Leben der Wörter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 137 Seiten, 16,90 EUR
Deutschland am Ende
Seit Anfang der 1980er Jahre beschreibt und kommentiert der Marburger Politikwissenschaftler Georg Fülberth die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in handlichen und übersichtlichen Büchern. Spätere Ausgaben enthielten auch Betrachtungen zur Entwicklung der DDR, so die etwa 1999 erschienene Version mit dem Titel "Berlin Bonn Berlin". (vgl. ausführliche Besprechung in ak 430) Die neueste Fassung heiß nun "Finis Germaniae" - die These vom "Ende Deutschlands" erläutert Fülberth im Schlusskapitel: In den nächsten Jahrzehnten werde "aus kapitalistischer Nationalgeschichte ... kapitalistische Regionalgeschichte geworden sein". Was nicht missverstanden werden dürfe: Denn die "ökonomischen, politischen und militärischen Potenziale" der bisherigen europäischen Nationalstaaten "sind Teil eines übergreifenden Machtkomplexes (,Europa`, ,der Westen` in einem neuen Verständnis nach dem Kalten Krieg) geworden, der keinen Anlass zur Beruhigung oder irgendeiner idyllischen Beschreibung gibt - gerade dann nicht, wenn er in ein teils konkurrierendes, teils kooperierendes Verhältnis zu den USA, mit denen er, bezogen auf die Zukunft, zuweilen verglichen wird, tritt."
Js.
Georg Fülberth: Finis Germaniae. Deutsche Geschichte seit 1945. PapyRossa Verlag, Köln 2007, 318 Seiten, 19,90 EUR