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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 521 / 19.10.2007

Die Guerilla meldet sich zurück

Erneut "chirurgische Angriffe" der EPR auf Pipelines in Mexiko

Mit ihrer zweiten Serie "chirurgischer Angriffe" auf Pipelines der mexikanischen Erdölgesellschaft PEMEX katapultierte sich die Volksbefreiungsarmee (EPR) definitiv in die Schlagzeilen der mexikanischen Massenpresse. Auch internationale Medien wie etwa die englische BBC berichteten an prominenter Stelle, ausführlich und hintergründig. Hierzulande: Fehlanzeige. Kein Wort darüber, dass "Volkswagen Mexiko" in Folge der Bombenanschläge im September beim Werk in Puebla "eine technische Schließung" von einer Woche veranlasste.

Wie bei über 1.000 weiteren Betrieben im nördlich von Mexiko Stadt gelegenen Industriekorridor erfolgte die Einschränkung der VW-Produktion nach Problemen mit der Energieversorgung, insbesondere mit Naturgas. Es dauerte über eine Woche, bis der Staatskonzern PEMEX die Sabotageschäden beseitigt hatte und die Energieversorgung für die Industriekunden wieder regulär aufnehmen konnte. Die Folgekosten dürften sich laut PEMEX-Generaldirektor Jesús Reyes Heroles "auf mehrere hundert Millionen US-Dollar" belaufen. Schon die erste Anschlagsserie auf PEMEX-Pipelines im Juli des Jahres hatte über 1.000 Industriebetriebe betroffen, darunter transnationale Automultis, und ebenfalls Kosten in Millionenhöhe verursacht.

Aktueller Anlass für die Wiederaufnahme bewaffneter Aktionen ist das "Verschwindenlassen" von zwei EPR-Spitzenkadern am 25. Mai in Oaxaca. Die Volksbefreiungsarmee möchte mit ihren bewaffneten Aktionen Druck auf die Regierung Calderón ausüben, damit diese Edmundo Reyes Amaya und Gabriel Alberto Cruz Sánchez lebend präsentiert und freilässt. Die beiden, die seit Jahrzehnten in der Linken aktiv sind, waren als Organisatoren legaler Basisbewegungen tätig und wurden in einer kombinierten Aktion von Polizei- und Militäreinheiten in einem Hotel in Oaxaca-Stadt festgenommen und sind seither von der Bildfläche verschwunden. Sie teilen das Schicksal von ca. 100 weiteren Personen, die in der Amtszeit der beiden PAN-Präsidenten als "Verschwundene" gelten. Da sie nicht die ersten sind, die dieses grausame Schicksal ereilte, mag es für die klerikal-konservative Regierung Calderón überraschend gewesen sein, mit welchem Nachdruck die Volksbefreiungsarmee für ihre Leute eintritt. Denn die letzten bewaffneten Aktionen der EPR-Guerilla liegen etwa zehn Jahre zurück. Im Jahre 1996 hatte diese eine erste Welle bewaffneter Aktionen gestartet. Im Sinne einer offensiv angelegten Strategie wurden damals über Monate hinweg Polizei- und Armee-Einheiten bzw. Stützpunkte im Umfeld von ländlichen Zonen mit EPR-Einfluss angegriffen. Die den Angriffen zugrunde liegende Eskalationsstrategie war von der EPR kräftemäßig nicht durchzuhalten, was die Volksbefreiungsarmee aus heutiger Sicht auch eingesteht.

Die EPR-Militärkampagne wurde damals von anderen Teilen der mexikanischen Linken, etwa den Zapatisten, zum Teil sehr scharf kritisiert. Heute solidarisieren sich die Zapatisten mit den Menschenrechtsforderungen der EPR. Marcos weigerte sich in einer Erklärung auch, die EPR-Anschläge zu verurteilen, wenngleich er die konzeptionell und strategisch unterschiedlichen Politikauffassungen benannte. In einer vergleichsweise emotional gehaltenen Antwort bedankte sich die EPR-Führung aufs freundlichste für die solidarische Unterstützung und versicherte der EZLN, deren Formen des Widerstandes zu respektieren, genauso wie "wir in einer gewissen Form mit Andrés López Obrador übereinstimmen", dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten der Mitte-Links Koalition um die Parlamentspartei PRD. "Mit einem Händedruck und einer kräftigen Umarmung" gab die EPR den Zapatisten beste Wünsche mit auf den Weg zu einem Indígena-Kongress im Norden Mexikos, der von Marcos für wegweisend eingeschätzt wird. Dieses Techtelmechtel steht in bemerkenswertem Gegensatz zu den spitzzüngigen Anfeindungen beider Seiten im Jahre 1996.

Regierung Calderón unter Druck

Auch in anderen Kreisen stoßen die aktuellen EPR-Aktionen auf vergleichsweise viel Verständnis. So wurde beispielsweise in verschiedenen Kommentaren in der linken Tageszeitung "La Jornada" Zustimmung für das konkrete Anliegen der EPR geäußert. Auch die aus der EPR abgespaltene "Demokratisch Revolutionäre Tendenz - Volksheer" (TDR-EP) bekundete ihre Solidarität in einer ausführlich begründeten Erklärung. Wie auch die Revolutionäre Volksarmee selbst, wiesen TDR-EP und Zapatisten "kategorisch" die von Regierungskreisen gestreute Version zurück, das Verschwinden der beiden EPR-Leute sei Ergebnis von innerlinken Abrechnungen. Berücksichtigt man, dass die EPR-Abspaltung TDR-EP aus dem Umfeld der alten Mutterorganisation bis vor wenigen Monaten als "Paramilitärs mit revolutionärem Diskurs" verunglimpft wurden, so kann man sich in etwa vorstellen, wie tief die Gräben waren, die durch die aktuellen Entwicklungen überbrückt werden.

Vieles deutet darauf hin, dass sich der Staatsapparat mit dem "Verschwindenlassen" der EPR-Leute in eine Double-bind-Situation manövriert hat. Wie immer der Staat in dieser Angelegenheit auch weiter verfährt, er wird einen Rückschlag hinnehmen müssen. Präsentiert er nach monatelangem Leugnen der höchsten Stellen die beiden verschwundenen EPR-Leute lebend, so gesteht er öffentlich ein, mit staatsterroristischen Mitteln zu operieren. Dies wäre einerseits Wasser auf die Mühlen der staatskritischen linken Strömungen und andererseits ein riesiger politischer Erfolg der EPR-Kampagne. Also ein negatives Szenario aus Sicht der Staatsfrömmler, eines, das mir sehr unwahrscheinlich scheint. Bleiben die beiden aber verschwunden und hält der Staat an seiner bisherigen harten Linie fest, liefert er der Revolutionären Volksarmee im besonderen und den revolutionären Organisationen im allgemeinen politische Legitimation sozusagen frei Haus. Denn die Ansage der EPR-Erklärungen ist einfach und glasklar: präsentiert die Verschwundenen lebend und lasst sie frei, dann ist die Militärkampagne sofort zu Ende. Anders als die erste EPR-Offensive vor zehn Jahren schreiben sich die gegenwärtigen "feindseligen Aktionen mit chirurgischem Charakter", so der ERP-O-Ton, nicht in eine offensive Militärstrategie ein, sondern haben rein defensiven Charakter. Es handelt sich, so die EPR in ihren Erklärungen, um "bewaffnete Aktionen zur Selbstverteidigung". Sie werden vorgetragen, weil vorher legale Wege für ein legitimes Ziel erfolglos ausgeschöpft wurden.

Zwar gibt es in den regierungsnahen Massenmedien, in der linkszentristischen PRD-Partei und bis hinein in die außerparlamentarische Massenbewegung APPO teils harte Kritik an den bewaffneten Operationen. Aber letztlich ist es sehr schwierig, diese wie gewohnt als "terroristisch" oder "kriminell" abzustempeln. Die professionell angelegten Operationen, die weder Verwundete noch Verhaftete gekostet haben, belegen aus sich heraus, dass es der EPR sehr ernst ist damit, nur die ökonomisch und politisch Mächtigen zu treffen und nicht die Bevölkerung. Diese Art Militanz ist leicht unterscheidbar von der Gewalt, die etwa von der Drogenmafia oder den staatlichen Repressionsorganen ausgeübt wird. Da es faktisch unmöglich ist, die etwa 20 000 km langen Pipeline-Netze der PEMEX ununterbrochen zu bewachen, kann die EPR mit der Ankündigung weiterer Aktionen enormen Druck ausüben. Dies um so mehr, als die bisherigen Aktionen in den Bundesstaaten Guanajuato und Querétaro im Juli und in Veracruz im September weit entfernt liegen von den traditionellen Einflussgebieten der EPR. Dies bedeutet einerseits, dass die Revolutionäre Volksarmee ihre regionale Begrenzung auf die südlichen Bundesstaaten überwunden hat. Andererseits setzt die aktuelle Kampagne ihre ländliche soziale Basis in Guerrero und Oaxaca nicht unmittelbar erhöhtem Repressionsdruck aus. Beides Faktoren, die dafür sprechen, dass sich die gegenwärtige Militärkampagne durchhalten lässt.

Die jüngsten Attacken der EPR zeigen, dass die Guerilla in Mexiko als politischer Akteur wieder ernst genommen werden muss. Neben der EPR, die eine traditionell orientierte ML-Strömung mit einer langfristig angelegten politisch-militärischen Strategie zur Machteroberung ist, gibt es weitere Guerillagruppen, die politisch offenere Konzeptionen haben. Wie die EPR sehen auch sie Guerillaaktionen gegenwärtig vor allem als notwendige "bewaffnete Selbstverteidigung" und nicht als Element einer offensiven Strategie an. Die bereits erwähnte Demokratisch-Revolutionäre Tendenz (TDR-EP) und ihre Partner in der "Revolutionären Koordination", die es seit Mitte vergangenen Jahres gibt, sehen die Hauptaufgabe in der politischen Organisierung. Anders als die EPR, die für einen sozialistischen Staat und die Diktatur des Proletariats eintritt, erstreben sie "die demokratische Neugründung Mexikos", ein "freies und für alle gerechtes Land". In ihrer am 23. September veröffentlichten "5. Erklärung an die Nation" analysieren TDR-EP, die Revolutionäre Bewegung Lucio Cabañas Barrientos MRLCB, die Aufständische Bewegung 1.Mai OI-1.M und die Brigada de Ajusticiamento BA-2.D die gegenwärtige Lage, solidarisieren sich explizit mit der EPR-Forderung nach Freilassung ihrer Verschwundenen, nehmen diese gegen politische Anwürfe in Schutz und schlagen die Gründung einer "gemeinsamen Front gegen den schmutzigen Krieg und den Staatsterrorismus" vor. Es solle sich vorwiegend um ein Zusammenwirken von sozialen, linken und revolutionären Bewegungen handeln, die außerhalb des politischen Systems agieren. Diese sollten sich, so die "Revolutionäre Koordination", jedoch auch mit "ehrenhaften Vertretern" von Parteien und Institutionen verbünden, die sich innerhalb des parlamentarischen Rahmens befinden. Die "Revolutionäre Koordination", die es vermeidet sich von der EPR zu distanzieren, kündigt nicht weiter definierte "revolutionäre politische Aktionen" an. Dies führte in Kommentaren etwa der führenden Tageszeitung Excelsior (30.9.07) zur besorgten Frage, ob eine "militärische Eskalation" bevorstehe.

"Gemeinsame Front" der Guerillagruppen in Sicht?

In der mexikanischen Guerilla gibt es - neben den EZLN - drei Strömungen: die ML-Traditionalisten um die Revolutionäre Volksarmee EPR, die bewegungsorientierte "Revolutionäre Koordination" um TDR-EP und MRLCB sowie prozapatistische Guerillagruppen wie ERPI und OI-RFM. Es deutet sich an, dass die Kampagne gegen das Verschwindenlassen der beiden EPR-Kader sich zu einem Kristallisationspunkt für Aktionen der "revolutionären Solidarität" entwickeln könnte. Zwar gab es auch in den letzten Monaten, in ak-Artikeln wurde mehrfach darauf hingewiesen, von verschiedenen Seiten des linksradikalen Lagers Aufrufe zu mehr Einheit. Jetzt sind diese um so ernster zu nehmen, da sie inmitten der bedeutendsten Guerillakampagne der letzten Jahrzehnte proklamiert werden. Das bedeutet aber nicht, dass nun das Gewicht nur noch auf die bewaffnete Auseinandersetzung gelegt wird. Ganz im Gegenteil: Anfang Oktober wurde unter dem Vorsitz der PRD-Senatorin Rosario Ibarra de Piedra, einer seit Jahrzehnten im Kampf gegen das Verschwindenlassen engagierten Menschenrechtlerin, von über 100 Organisationen und Einzelpersönlichkeiten "Die Nationale Front gegen die Repression" gegründet. Hier arbeiten neben linken Gruppierungen diverser Couleur auch PRD-nahe Intellektuelle wie der Krimi-Autor Paco Ignacio Taibo II mit. Die autoritär-neoliberale Regierung Calderón muss sich auf massiver werdenden Widerstand von links unten einstellen.

Albert Sterr