Die Rückeroberung linker Filmgeschichte
Die diesjährige Viennale zeigt proletarische Filmkultur in Österreich
Die proletarische Filmkultur der Ersten Republik Österreichs (1918-38) spielt im medialen Gedächtnis der Gegenwart eine untergeordnete Rolle. Diese historische Amnesie ist eine soziale Konstruktion und hat damit zu tun, dass das Archivieren immer auch ein politischer Vorgang des Bewahrens und Vergessens kollektiver Erinnerungen ist. Als Gedächtnisort ist das Archiv folglich weniger eine neutrale Abbildung der Gesellschaft, sondern vielmehr ein Produkt politischer Machtverhältnisse. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Zerstörung zahlreicher Filmdokumente zur Geschichte des proletarischen Kinos in der Ersten Republik während der austrofaschistischen und der NS-Zeit oft stillschweigend übergangen wurde.
Auf der diesjährigen Viennale, die noch bis zum 31. Oktober in Wien stattfindet, bietet sich eine einmalige Gelegenheit zur Rückeroberung linker Zeitgeschichte und Erinnerungskultur. Die Filmschau "Proletarisches Kino in Österreich" ermöglicht erstmals einen umfassenden Blick auf die Filmproduktion der österreichischen Arbeiterbewegung vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Bürgerkrieges 1934. Dieses Projekt wurde vom Filmarchiv Austria in Kooperation mit Synema - Gesellschaft für Film und Medien von den KuratorInnen Christian Dewald, Brigitte Mayr und Michael Omasta realisiert.
Wilde Feste im roten Wien nicht filmisch überliefert
Der erste Teil der Filmschau präsentiert Dokumente des parteipolitischen Kampfes und ermöglicht einen Einblick in sozialistische Feiern, Festkultur und proletarische Körperkultur. Herausragend sind sowjetische Wochenschauen über die österreichische Arbeiterbewegung. Im zweiten Teil der Filmschau werden Filme gezeigt, die der Filmkritiker Fritz Rosenfeld in der Wiener Arbeiter-Zeitung rezensierte. Der gemeinsame Bezugspunkt der Werke von Charlie Chaplin, G. W. Pabst, René Clair, Olga Preobraczenskaja, Viktor Trivas und Eugene Deslaw bündelt sich in den sozialkritischen Filmanalysen von Rosenfeld. Er setzt sich mit den politischen wie künstlerischen Beschränkungen der bürgerlichen Filmindustrie auseinander und zeigt ihre Überwindung durch das sowjetische Revolutionskino und die unabhängige Produktion der Avantgarde auf.
Der repräsentative Querschnitt der Werke "Namenlose Helden" (A 1924), "Wiener Kinder" (A 1927) und "Das Notizbuch des Mr. Pim" (A 1930) zeigt einen der raren Versuche, in Österreich sozialistische Spielfilme zu produzieren. Insgesamt bieten rund 90 Filmdokumente aus weit verstreuten Archiven und Kinematheken einen umfassenden Überblick über das filmhistorische Archiv der österreichischen Arbeiterbewegung.
Es ist vor allem parteipolitisch motivierte Identitätspolitik, die das proletarische Kino in Österreich ermöglichte und mitformte. Dennoch hat es zu keiner Zeit in der Ersten Republik eine einheitliche Kultur- und Medienpolitik der Arbeiterbewegung gegeben. Im Gegenteil: die linke Filmkultur war stets eine kontroverse, widerspenstige und in sich widersprüchliche Praxis. Diese Konstellation prägt bis in die Gegenwart das filmische Gedächtnis der österreichischen Sozialdemokratie. So produzierte die Parteikulturbürokratie ausschließlich Filme, welche die erwünschte Feierkultur abbildeten. Die Kamera wurde folglich nur dort aufgestellt, wo sich die Kulturfunktionäre der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) einen repräsentativen Mehrwert erwarteten. So gibt es von den autochthonen Formen wilder und popularer Feste in der Arbeiterkultur bis heute keine filmische Überlieferung.
Die Sozialdemokratie nutzte mit der im Jahr 1923 vollzogenen Gründung der "Allianz Film Fabrikations- und Vertriebsgesellschaft" den Film, um für das "Rote Wien" zu werben. Damit sollte, schreibt der Historiker Béla Rásky, "die Arbeiterkultur des Festefeierns von einer Arbeiterbewegungskultur der Feiernveranstaltung verdrängt werden". Das identitätsstiftende Affektbild linker Filmkultur waren stereotype Bilder organisierter und disziplinierter Massen als kunstfertig ins Bild gesetzte "weltgeschichtliche Aufgabe" (Manès Sperber).
Die von der SDAPÖ produzierten Filme über Maifeiern, Kundgebungen, Begräbnisse, Massenaufmärsche, Parteitage und Großereignisse der Arbeitersportbewegung sollten zur Veredelung der ArbeiterInnen beitragen. Bildungsbürgerliche Normen und die Stärkung des Klassengefühls prägten das weihevolle Imagedesign des sozialdemokratischen Arbeiterfestes. Wegen seiner teuren Produktionsbedingungen blieb der Film ein privilegiertes Instrument der Parteikader. Wilde Arbeiterfeste an der Peripherie des "Roten Wien" wurden von den Parteibehörden weitgehend ignoriert. Das sogenannte "festeln" sollte nicht in die offizielle Geschichtsschreibung der Arbeiterkulturbewegung aufgenommen werden. Ab 1930 verwandelte sich die sozialdemokratische Repräsentationskultur, die traditionell auf die innere Erbauung gesetzt hatte, in eine Agitations-, Aufmarsch- und Propagandakultur, die vor allem auf Organisierung und Disziplinierung setzte. Nur noch auf Außenwirkung bedacht, verlautbarte der Parteiapparat sein neues Ideal "Nicht Feier, sondern Kundgebung!". Ab diesem Moment spielte der neue Medienverbund - bestehend aus Film, Rundfunk und Schallplatte - eine zentrale Rolle als Agitationsinstrument und prägte nachhaltig das offiziöse Geschichtsbild der linken Arbeiterkultur der Ersten Republik.
Kino als Psychotechnik für den neuen Sowjetstaat
In scharfer Abgrenzung zur sozialdemokratischen Kultur- und Bildungspolitik träumte die KPÖ von der "psychotechnischen Instrumentalisierung des Kinos für den neuen Sowjetstaat", analysiert der Historiker Peter Grabher: "Bedingungslose Affirmation der Sowjetunion, das Festhalten an der Idee einer proletarischen Revolution in Österreich und konsequenter Antifaschismus waren Charakteristika kommunistischer Filmarbeit." Aber auch die Gewerkschaften erprobten mit Eigenproduktionen die Möglichkeiten des Einsatzes von Film und Kino für die politische Mobilisierung. In der Zwischenzeit mutierte das durch den preisgünstigen Eintritt demokratisch legitimierte Kino zur "modernen Opiumhöhle des Kapitalismus" (Rote Fahne, 1924).
Mit der Inthronisation Stalins und dem gleichzeitigen Lenin-Kult beschworen die zensurierten Filme im Sowjetkino die mythische Präsenz des Arbeiter- und Bauernstaates und seiner Führerfiguren. Mit Stalin wurde auch das Musical in die Arsenale der sozialistischen Filmkunst aufgenommen. Nach einer relativ liberalen Phase unmittelbar nach der Oktoberrevolution und in den zwanziger Jahren ließ Stalin die Filmindustrie ab 1929 verstaatlichen. Die Russlanddelegationen der KPÖ importierten sogenannte "Russenfilme", die Organisation Rote Hilfe koordinierte Hunderte Filmvorführungen, die zunehmend zum Schauplatz politischer Auseinandersetzungen wurden. Die österreichischen Behörden verhängten Aufführungsverbote.
Am 25. Juni 1926 lief der "Panzerkreuzer Potemkin" in vierzehn ausverkauften Wiener Kinos an, erreichte ein breites Publikum und erweckte die Nachfrage weiterer Russenfilme. Auf Grund behördlicher Repressionen und fehlender Finanzmittel kam es aber zu keiner Eroberung des Films durch KP-nahe Organisationen. Sozialdemokratische und kommunistische Bildungsorganisationen stritten sich zwischen 1926 und 1933 um die Aufführungsrechte von etwa 75 Russenfilmen. Der publizistische Kleinkrieg um die Russenfilme eskalierte zwischen der KPÖ-Zeitschrift Rote Fahne und der sowjetkritischen Arbeiter-Zeitung. Dabei wurde der sozialdemokratische Filmkritiker Fritz Rosenfeld immer wieder zur Zielscheibe der Polemik kommunistischer Filmbesprechungen. Auf mikropolitischer Ebene kooperierten SozialdemokratInnen und KommunistInnen jedoch im Bereich der Kulturarbeit der Roten Hilfe und der Österreichischen Arbeiterhilfe.
Publizistischer Kleinkrieg um Russenfilme
Auf dem 6. Weltkongress der Komintern im Sommer 1928 wurden die sozialdemokratischen Parteien immer noch als die Saboteure der kommunistischen Weltrevolution stilisiert. Wenig später dokumentierte die sowjetische Wochenschau "Sovkino Journal" den Aufmarsch faschistischer Heimwehren in Wiener Neustadt am 7. Oktober 1928. Obwohl sozialdemokratische Organisationen zunehmend den Gewaltakten der Heimwehreinheiten ausgesetzt waren, bezeichneten die KP-Presseorgane weiterhin die Sozialdemokraten als wichtigste Stütze der Bourgeoisie und des Faschismus. Mit dem Regierungsantritt der christlich-sozialen Partei unter Dollfuß am 20. Mai 1932 verstärkte sich die Präsenz faschistischer Filmpropaganda in den Wiener Kinos. Im Frühjahr 1933 waren Beschlagnahmen und Verhaftungen an der Tagesordnung und am 20. Mai 1933 wurde die Rote Hilfe vom austrofaschistischen Regime Dollfuß verboten. Damit wurden proletarische Kino-, Verleih- und Produktionsstrukturen als staatsfeindlicher Tatbestand diskriminiert und zur Zielscheibe polizeilicher Verfolgung.
Im Rahmen der Viennale-Filmschau präsentieren die Herausgeber Christian Dewald und Michael Loebenstein ihre umfassend recherchierte DVD-Edition zum "Proletarischen Kino in Österreich". Im Begleitband zur zweiteiligen DVD-Reihe "Arbeiterkino" (Spiel- und Dokumentarfilme) finden sich materialreiche und akribisch aufgearbeitete Aufsätze von Béla Rásky zur "Fest und Feierkultur der SDAPÖ von 1918 bis 1933" und Peter Grabher zum Thema der "Filmarbeit der kommunistischen Organisationen in der Ersten Republik". Mit den auf der DVD versammelten Filmdokumenten und den hervorragenden Texten zur proletarischen Repräsentationskultur schaffen die beteiligten Herausgeber vom Filmarchiv Austria und dem Österreichischen Filmmuseum künftig unverzichtbare Grundlagen zur Auseinandersetzung mit linker Zeit- und Mediengeschichte.
Ramón Reichert
Präsentation im Rahmen der Viennale 2007: "Proletarisches Kino in Österreich" im Verlag Filmarchiv Austria, Informationen: www.viennale.at
Christian Dewald (Hg.): "Arbeiterkino. Linke Filmkultur der Ersten Republik"; Band 1
Brigitte Mayr/Michael Omasta (Hg.): "Fritz Rosenfeld. Filmkritiker", Band 2
Christian Dewald / Michael Loebenstein (Hg.): DVD-Box "Proletarisches Kino in Österreich"; DVD 1: Arbeiter Kino 1 - Spielfilme; DVD 2: Arbeiter Kino 2 - Dokumentarfilme