"Das Projektil sind wir"
Karl-Heinz Dellwo über den Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen
Karl-Heinz Dellwo antwortet in dem jetzt erschienenen Interviewbuch zwei jungen Hamburger JournalistInnen. Auf diese Weise werden nicht nur seine Perspektiven auf die Entwicklung der RAF deutlich. Das Buch stellt einen wichtigen Gegenpol zur aktuellen massenmedialen Aufbereitung des Themas und liefert zugleich lebendige Einblicke in die Entwicklung und Konflikte der Linken in Deutschland.
Es ist auffällig. Wo sich Ehemalige aus RAF und anderen bewaffneten Gruppen zu ihrer Geschichte äußern, bevorzugen sie die Form des Interviews. Es ermöglicht ein Reden in der ersten Person (Singular und Plural), das nicht in die selbstbeweihräuchernde Geschwätzigkeit der in Regierungsämter gelangten 1968er verfällt, sondern sich Fragen stellt. Als Dellwo sich 1975 an der gescheiterten Stockholmer Botschaftsbesetzung zur Freipressung der RAF-Gefangenen beteiligte und wegen der Ermordung zweier Botschaftsangehöriger zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt wurde, stand Christoph Twickel vor dem Übergang zu einer weiterführenden Schule. Und als die RAF 1992 die Einstellung ihrer Attentate auf Systemvertreter bekannt gab, saß Tina Petersen vielleicht in Abiturprüfungen. Dieser Generationsunterschied ermöglicht ein Gespräch, in dem nicht die Rechtfertigung des jeweils eigenen Weges im Vordergrund steht, sondern ein beschreibendes Erklären, ein politisch-biografisches Erzählen sich entwickeln kann. Insoweit weist das Buch sogar eine Nähe zu der von Günter Gaus geprägten Gesprächskultur auf.
Dellwo äußert sich zu seiner Kindheit und Jugend im postfaschistischen Deutschland, zu seiner Politisierung im Hamburg der frühen 1970er Jahre, zu seinem Weg in die RAF und zur Stockholmer Botschaftsbesetzung, dem Widerstand gegen die Isolationshaftbedingungen und dem Kampf der RAF in den 1980er Jahren sowie schließlich zur Spaltung der Gefangenengruppe im Jahr 1993. Dass sich dabei ein dissonanter Kontrapunkt zur massenmedialen Ausrichtung der letzten Monate ergibt, war zu erwarten. Aber das Buch ist mehr: Nämlich ein Beitrag zu einer Geschichtsschreibung der radikalen Linken.
Die äußerst lebendige Schilderung seines Aufwachsens in der Provinz und der immer prekären Situation einer Außenseiterfamilie mit sechs Kindern widerspricht dem zuletzt medial gern gepflegten Stereotyp von den Mitgliedern der RAF als "entlaufene Kinder der Bourgeoisie": "Gekämpft wurde nicht, weil es 'Wohlstandskinder' waren; gekämpft wurde, weil es eine Aufhebungsvorstellung gab, [...] angetrieben von dem Wissen, dass es jenseits der Wirtschaftsidiotie einen solidarischen und kollektiven Sinn im Leben geben muss." (69)
Die späten 1960er Jahre hatten auch in der proletarischen Jugend eine Hoffnung auf ein "besseres Leben" keimen lassen, und subkulturell gewendet vielleicht auch auf ein "anderes Leben". Aber selbst diese Hoffnung musste, wie Dellwo mit vielen Beispielen belegt, revoltierend gegen Lehrer und Chefs behauptet werden. Der Anlass für die Flucht nach Hamburg ist so gesehen typisch: "In der Nähe von Kehl habe ich dann sechs Wochen als Ausfahrer für eine Großbäckerei gearbeitet. Dann sagte der Chef zu mir, er würde mich fest anstellen, aber ich müsste mir die Haare schneiden lassen, das passe nicht zum Betrieb. Da bin ich sofort gegangen und mit dem Zug nach Hamburg gefahren." (52)
Beschreibendes Erklären statt Geschwätzigkeit
Seine in Hamburg beginnende politische Suchbewegung mündete zunächst in der Besetzung eines Häuserblocks in der Ekhoffstraße im Jahr 1973: "In der Besetzung eines Hauses warfen wir die Eigentumsfrage auf, die ja in der Auseinandersetzung mit der herrschenden Klasse die entscheidende ist. Es ging darum, einen Raum zu besetzten." (74) Nach der brutalen Räumung saß Dellwo anschließend fast ein Jahr im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis; die Falschaussage eines Polizeibeamten ließ am Ende ein entsprechendes Urteil daraus werden. Mit dieser "Erfahrung" im Rücken arbeitete er im Komitee gegen Isolationsfolter. Der Tod von Holger Meins im Hungerstreik 1974 beschleunigte für viele aus diesem Zusammenhang die Entscheidung für den Weg in die Illegalität: Der Tod "war eine herrische Geste. Sie haben einen von uns geköpft und den Kopf dann hochgehalten." (100)
Zur Stockholmer Aktion hat sich Karl-Heinz Dellwo schon in der Haft kritisch positioniert. Im Prolog des Buches schreibt er: "Ich bedauere seit langer Zeit den Tod der Botschaftsangehörigen und meine Verantwortlichkeit dafür. In der Geiselerschießung äußert sich eine abzulehnende, völlige Verdinglichung des Menschen. Keine Gegengesellschaft kann so aufgebaut werden." (12) Von hier aus kritisiert er auch die Landshut-Entführung als "terroristische Aktion" (133). Die RAF sei eine plausible Antwort auf den sich in Vietnam zeigenden Kriegsimperialismus gewesen, aber: "Für die Zeit danach fehlte eine überzeugende politische Strategie." (123) Sein Vorwurf an die RAF als "Attentatsorganisation" lautet deshalb, im Militärischen die Effizienz gesucht zu haben, "die man im Politischen offensichtlich nicht finden konnte." (174)
Ein Beitrag zur Geschichts- schreibung der Linken
Ausführlicher als in den Medienstatements der letzten Wochen kann Dellwo im Buch seine Thesen zum Tod von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe als Selbstmord unter staatlicher Kontrolle darlegen. Neben den Indizien, die er für seine Sicht ins Feld führt, sieht er auch eine Botschaft der Stammheimer: "Seit Jahren schon drehte sich alles um die Befreiung der Gefangenen. Von uns waren einige dafür gestorben, andere sind ins Gefängnis gekommen oder haben andere Folgen auf sich genommen. Wir hatten mehrere Opfer zu verantworten, zum Schluss ist die ganze Moral der RAF gekippt - und bei allem stand ihre Befreiung im Mittelpunkt. Da haben sie mit ihrem Tod auch einfach eine Grenze gesetzt. [...] Die Botschaft war: Unseretwegen jetzt nichts mehr. Beendet es oder findet einen Inhalt für euch! In der Inszenierung ihres Todes ist ja vieles enthalten: Der letzte Tritt gegen die Macht, von der sie sich völlig befreit sahen. Ein Aufscheinen der alten Moral - 'das Projektil sind wir'." (143 f.)
Gern hätte man noch etwas zu seiner Zeit nach dem Knast erfahren oder Einschätzungen zur Situation der radikalen Linken im Land. Vielleicht ist dieser Verzicht als Statement dahingehend zu deuten, dass die ehemaligen Militanten keine besondere Autorität beanspruchen sollten? Was aus dem Aufbruch Gültigkeit behalten hat, kommt aber in folgenden Sätzen zum Ausdruck: "Wir kommen heute nur weiter, wenn wir mit den Basiskategorien des Systems brechen. Wer heute über besonderen Reichtum verfügt, ist entweder ein Betrüger oder ein Profiteur von Betrügern. In einer so ausdifferenzierten Produktionsgesellschaft - mehr ist das ja nicht - ist der Anspruch auf eine besondere Zuteilung von Lebensbedürfnissen grotesk, auch ein Verbrechen, dessen Ächtung noch bevorsteht." (70) Und so endet der Epilog mit dem Satz: "Mit dem Leben wird die Revolte bleiben." (195)
RR.
Karl-Heinz Dellwo: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräch mit Tina Petersen und Christoph Twickel. Hamburg (Edition Nautilus) 2007, 223 Seiten, 14,90 Euro
Für die Nicht-LeserInnen folgender Hinweis: Das Hamburger Radio Freies Sender Kombinat hat am Anfang August eine Sendung mit Karl-Heinz Dellwo produziert, die sich downloaden lässt unter www.freie-radios. net/mp3/20070801-quotnachd-18249.ogg (und folgende); ein WDR-Gespräch gemeinsam mit Gabriele Rollnik vom Frühjahr findet sich unter www.kino-achteinhalb.de/fileadmin/achteinhalb/fhg_070315.mp3