Katastrophe als Katalysator
Neoliberaler Umbau in New Orleans nach dem Hurrikan "Katrina"
Als in New Orleans 2005 die Deiche brachen, befürchteten viele, die Flut sei der Auftakt einer skrupellosen Politik der Vertreibung, Umstrukturierung und Privatisierung. Und tatsächlich gilt die Politik des Wiederaufbaus nach der Flut als Beispiel für einen Katastrophen-Kapitalismus, der Krisensituationen für neoliberale Reformen im Zeitraffer nutzt. Vor gut zwei Jahren wich das Wasser aus Stadt. Zeit zu fragen, ob sich die Träume der StadtentwicklerInnen und InvestorInnen und die Albträume der Armutsbevölkerung und Grassroot-Initiativen bewahrheitet haben.
Im Mai 2007 demonstrierte der Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, Seite an Seite mit dem schwarzen Bürgerrechtler Jesse Jackson und mehreren tausend Menschen für den Wiederaufbau des Lower Ninth Ward. Das Motto des unverzagten Aufmarsches: "Reclaiming Our Land". Der einst traditionell von AfroamerikanerInnen bewohnte Stadtteil Lower Ninth Ward ist ein Symbol des Kampfes um den Wiederaufbau der Stadt. Nagin selbst war es, der ihn wenige Monate zuvor zum Abriss freigegeben hatte. An der Stelle, an der der Deich zuerst brach, ist eine große Bühne aufgebaut. Von ihr blickt man auf das, was vom Lower Ninth Ward übrig geblieben ist: Viele der ehemaligen Holzhäuser wurden planiert, die übrigen so grundlegend zerstört, dass ein Wiederaufbau fast einem Neubau gleich kommt. Die Natur holt sich das sumpfige Terrain unaufhaltsam zurück. Pflanzen überwuchern, was die Flut von den einfachen Bauten übrig ließ.
Auf der Abschlusskundgebung tritt eine lange Reihe von RednerInnen ans Mikrofon, die neben ihrer schwarzen Hautfarbe vor allem eines verbindet: Jeder, der hier für einige warme Worte auf die Bühne tritt, stellt sich in Kürze irgendwo zur Wahl. Männern und Frauen, die Richter, Sheriff, Senator oder Abgeordnete des Repräsentantenhauses werden wollen, haben an diesem Vormittag ihr Herz für das entvölkerte Schwarzenviertel entdeckt. Auch Nagin, der sich nach dem Sturm noch für ein "kleineres, aber besseres" New Orleans - ohne den Lower Ninth Ward - ausgesprochen hatte, ergreift das Wort: "Wir brauchen den Wiederaufbau. Wir brauchen Schulen. Wir brauchen Krankenhäuser. Aber mehr als alles andere brauchen wir eure Gebete", ruft er - und erntet Jubel.
Im Herbst 2005, als das Wasser endlich abgepumpt war und die ersten Bars im Touristenbezirk French Quarter medienwirksam ihre Pforten öffneten, saß der Schock über die Tragödie von New Orleans noch tief. So mancher hegte damals die Hoffnung, dass die Wut über die unfassbaren Zustände nach der Überflutung und der nach der Katastrophe offen ausgebrochene Rassismus die Geburtsstunde einer neuen Bürgerrechtsbewegung sein könnte. Die meisten jedoch befürchteten, das Schlimmste werde der sturmgeplagten Metropole erst noch bevorstehen: New Orleans würde in der Folge der Katastrophe zu einem mehrheitlich weißen "Jazz-Amusement-Park" voller teurer Hotels und Neubauviertel. "The Big Easy" drohe zum Labor für eine neoliberale Stadt- und Sozialpolitik zu werden.
Nach der Flut die eigentliche Katastrophe
Wer heute in New Orleans nach Belegen für die Theorie vom Katastrophen-Kapitalismus sucht, wird schnell fündig. Von einst 123 öffentlichen Schulen, die es vor der Flut in der Stadt gab, sind gerade einmal vier übrig geblieben. Ersetzt wurden sie durch so genannte "Charter Schools": vom Staat geleaste und anschließend privatwirtschaftlich betriebene Schulen. Das Modell ist bei Kommunen in den ganzen USA beliebt: Auf diese Weise wird nur ein fester Zuschuss pro SchülerIn an die Schulpächter fällig. Die 4.700 gewerkschaftlich organisierten LehrerInnen der öffentlichen Schulen in New Orleans wurden nach der Privatisierung fast ausnahmslos gefeuert. Nur wenige von ihnen fanden anschließend - zu niedrigeren Gehältern - in den privaten Charter Schools eine neue Anstellung.
Ähnliche "Reformen" widerfuhren den innerstädtischen Sozialwohnungsquartieren, den so genannten "Public Housing Projects". Ihre Backsteingebäude waren bekannt für die solideste Bausubstanz in der Stadt. Gebaut wurden sie ursprünglich für weiße Arbeiter, die die großen Infrastrukturprojekte des New Deal, der Ausbau der Deiche, der Eisenbahn und der Häfen nach New Orleans brachte.
Seit den 1960er Jahren verließ die weiße Arbeiterklasse die einstigen Vorzeigequartiere, um sich in den Vororten den amerikanischen Traum vom Eigenheim zu erfüllen. An ihre Stelle trat das afroamerikanische Subproletariat: Menschen, die entweder arbeitslos waren oder deren Jobs so schlecht bezahlt waren, dass ein Eigenheim unerreichbar war. Mit den Jahren wurden den neuen BewohnerInnen die "Projects" zur Heimat, zur ideellen Großfamilie. Geprägt von realen Verwandtschaftsbeziehungen und in langjähriger Nachbarschaft gewachsen, waren sie Schutzraum für die Schwarzen am Rande der Gesellschaft.
Den StadtplanerInnen und SozialpolitikerInnen dagegen waren die BewohnerInnen der Projects ein Dorn im Auge. Sie galten als Brutstätte für Kriminalität und eine "Kultur der Armut", die die BewohnerInnen von jeder regulären Erwerbsbiografie fern hielt. Im Jahr 2000, als die städtische Sozialwohnungsbaubehörde HANO wegen ihrer Ineffizienz unter Zwangsverwaltung durch die Bundesbehörde HUD gestellt wurde, begann, noch langsam, der Abrisses der Sozialwohnbauten. Die Flutkatastrophe brachte die einmalige Chance, den Prozess radikal zu beschleunigen und sich der BewohnerInnen auf einen Schlag zu entledigen.
New Orleans: Mehr Ghost- als Boomtown
Von den einst knapp 30.000 Menschen, die vor "Katrina" in den Projects lebten, wurde bisher nur etwa 3.000 die Rückkehr in die weitgehend unversehrten Wohnblöcke gestattet. Die meisten der trutzigen Backsteinbauten stehen heute fast vollständig leer und werden von der Polizei bewacht. Trotz bestehender Mietverträge dürfen die BewohnerInnen nicht in ihre Wohnungen zurück. Vor der Abrissbirne bewahrt ihre Häuser lediglich ein derzeit laufendes Gerichtsverfahren. Setzt sich die Bundesbehörde HUD mit ihren Plänen durch, werden die Quartiere abgerissen und anschließend von privaten Immobiliengesellschaften neu bebaut. Eine Milliarde Dollar an Subventionen werden dann in die Taschen von vier privaten Entwicklungsgesellschaften fließen. Im Moment sieht alles danach aus.
Die Ahnung, die herrschenden Eliten von New Orleans würden die Flutfolgen nutzen, um sich der größtenteils afroamerikanischen Unterschicht der Stadt zu entledigen, haben sich bestätigt. Vor dem Sturm waren sieben von zehn EinwohnerInnen der Stadt AfroamerikanerInnen. Erst seit kurzem sind es wieder knapp über 50 Prozent. Gut die Hälfte der ehemaligen BewohnerInnen von New Orleans ist nach jüngsten Schätzungen in die Stadt zurückgekehrt. Doch während die Stadtviertel der Weißen teils über 70 Prozent ihrer ursprünglichen Bevölkerung zurückgewonnen haben, sind es in den afroamerikanischen Quartieren, wie dem Ninth Ward oder New Orleans East, nicht einmal ein Drittel. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Stadtviertel, die unter dem Meeresspiegel liegen und daher besonders von der Flut betroffen waren, wurden fast ausschließlich von AfroamerikanerInnen bewohnt. Zwar waren diese Stadtteile nicht durchgehend verarmt - New Orleans East beispielsweise galt als Refugium der schwarzen Mittelklasse - doch viele der ehemaligen BewohnerInnen wohnten zur Miete. Die Häuser, in denen sie lebten, existieren nicht länger oder die Mieten sind unbezahlbar geworden. In anderen Stadtteilen sieht das Angebot kaum besser aus. Und auch der Besitz eines Hauses bewahrte nicht vor Obdachlosigkeit. Wer Grundbesitz besaß, war meist nicht ausreichend versichert. Im Frühjahr 2007 erhielten viele der unterversicherten Hausbesitzer staatliche Entschädigungen. Doch diese lagen maximal in Höhe des Verkehrswertes ihrer Häuser. Eine Instandsetzung ist damit in der Regel nicht finanzierbar. Zudem sind Baumaterialien und Handwerker extrem teuer geworden in New Orleans.
Die Infrastruktur von New Orleans ist für 600.000 Menschen ausgelegt. Heute hat die Stadt knapp 300.000 EinwohnerInnen. Doch schon vor der Katrina war der Leerstand immens. Die weiße Flucht in die Vorstädte, die in den 1960er Jahren einsetzte und sich mit dem Ende des Erdölbooms Anfang der 1980er Jahre beschleunigte, hatte New Orleans zu einer schrumpfenden Stadt werden lassen. Die ersten Pläne für den Wiederaufbau der Stadt sollten diesem Umstand auf ihre Weise Rechnung tragen: Nagins Wort von einem "kleineren, aber besseren" New Orleans machte die Runde. Die von der Flut besonders betroffenen Stadtteile sollten nicht wieder aufgebaut, die innenstadtnahen Gebiete dagegen veredelt werden. Ein lokaler Investor, der mit dem Abriss und Neubau des St. Thomas Sozialbauquartieres im Jahr 1996 100 Millionen Dollar Subventionsgelder und einen zweifelhaften Ruf erworben hatte, schwärmte von einem "Jazz-Amusement-Park". Gesund geschrumpft sollte New Orleans wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen und sich einreihen in die Standorte der Illusionen: Die Stadt sollte zu einem kreolischen Las Vegas werden.
Doch die Visionen ließen sich nicht durchsetzen. In der afroamerikanischen Bevölkerung regte sich Widerstand gegen die Aufgabe ihrer Stadtviertel und ihre Degradierung zu StatistInnen im touristischen Amüsierbetrieb. Nagin ließ seine Pläne fallen, vor allem, weil die erhofften Investitionen nur spärlich flossen. Der symbolträchtige Lower Ninth Ward, das Stadtviertel, in dem die Wassermassen als erstes die maroden Deiche durchbrachen, wurde wieder an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen, die Häuser der BewohnerInnen nicht länger gegen deren Willen planiert. Von einem "Jazz- Amusement-Park" spricht heute niemand mehr.
Gut zwei Jahre nach Katrina ist die Zukunft von New Orleans weiterhin offen. Die große Aufwertung ist bisher ausgeblieben. Nur wenige Blocks von der Amüsiermeile Bourbonstreet und dem Bankenviertel entfernt erinnert die Stadt mehr an eine Ghost- denn eine Boomtown. Ladenlokale sind verrammelt, Fensterscheiben geborsten, die Eingänge dienen den vielen Obdachlosen als Nachtasyl.
Der Lower Ninth Ward ist Geschichte
Die innenstadtnahen Sozialbauquartiere stehen noch immer. Ausgerechnet das zentral am Rande des French Quarter gelegene Public-Housing-Project Iberville ist als einziges fast vollständig wieder eröffnet und von den Abrissplänen ausgenommen worden. Sollte der Abriss der übrigen Projects nicht von einem Gericht gestoppt werden, so besteht theoretisch noch die Möglichkeit, dass ein im Kongress anhängiger Gesetzesentwurf der Demokraten die Quartiere vor der Planierraupe bewahrt. Doch mit jedem Tag, der vergeht, wird eine Rückkehr der ehemaligen Public-Housing-BewohnerInnen unwahrscheinlicher. Die einstigen SozialmieterInnen sind nicht organisiert. Die Protestbewegung, die sich für die Öffnung ihrer Wohnungen einsetzt, ist effektiv organisiert, aber überschaubar: Sie besteht nur noch aus wenigen der ehemaligen BewohnerInnen, unterstützt von einer Handvoll AktivistInnen, die die Flut der Empörung aus dem ganzen Land nach New Orleans gespült hat.
Der Lower Ninth Ward, das Symbol der afroamerikanischen Arbeiterklasse, dürfte trotz anders lautender Absichtserklärungen von PolitkerInnen, Geschichte sein. Es ist kaum vorstellbar, dass sich in dem Niemandsland, das von dem Viertel übrig geblieben ist, unterhalb eines nur notdürftig geflickten Deiches, eine größere Anzahl von Menschen ansiedeln wird. Abgesehen von der Strom- und Wasserversorgung fehlt hier alles, was zum täglichen Leben notwendig ist.
Die Perspektiven für potenzielle Rückkehrer sind insgesamt wenig ansprechend. Ein Neuanfang in New Orleans bedeutet vor allem: Höhere Mieten, höhere Strom- und Wasserkosten, eine weitgehend privatisierte Infrastruktur, dazu die alten, miserabel bezahlten Jobs im Tourismussektor. Es ist absehbar, dass das neue New Orleans nicht nur kleiner werden, sondern auch so arm bleiben wird wie zuvor. Für das Gros der ehemaligen Bevölkerung ist in der ohnehin schlecht bezahlten Serviceindustrie schlicht kein Platz. Und etwas anderes wird die Wirtschaft der Stadt auf lange Sicht nicht bieten können.
Friedrich Schorb und Christian Jakob
Am 6.12.07 werden die Autoren in Hamburg von ihrer Recherchereise nach New Orleans berichten, Kölibri, 19.30 Uhr, Eintritt: 3 Euro. Veranstalter: Verein für politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.