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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 522 / 16.11.2007

Smoking gun missing

Der Oury-Jalloh-Prozess. Ein Zwischenbericht

Ein Afrikaner wird wegen einer Nichtigkeit von der Polizei festgenommen, auf die Wache verbracht und verbrennt dort in der Zelle, gefesselt an Händen und Füßen. Eine Schreckensvorstellung, die an alltägliche Erfahrungen von Flüchtlingen und MigrantInnen mit der Polizei anknüpft. Meist enden sie mit Demütigungen und Misshandlungen, in diesem Fall endeten sie tödlich.

Die Symbolkraft des Falles Oury Jalloh, der am 7. Januar 2005 in einer Polizeizelle in Dessau verbrannte, hat wie kaum ein anderer Fall Emotionen geweckt und eine breite Unterstützerbewegung mobilisiert. Die Verhandlung vor dem Landgericht Dessau, die dort seit dem 27. März diesen Jahres stattfindet, gewährt wichtige Einblicke in die Praxis institutionellen Rassismus. Ob der Prozess das Mysteriosum der Todesumstände aufzuklären vermag, bleibt fraglich.

Dass es nicht zu einer Verhandlung über rassistische Polizeigewalt kommen sollte, dafür sorgte bereits das Instrument der Anklage, die den Tatvorwurf individualisiert und auf zwei Unterlassungshandlungen reduziert. Der Hauptangeklagte, der damalige Dienstgruppenleiter Andreas Sch., soll zu spät und unzureichend auf den Rauchmelder reagiert haben. Ihm wirft die Staatsanwaltschaft "Körperverletzung mit Todesfolge" vor, er habe "mögliche Verletzungen des Oury Jalloh durch Rauch- und Feuereinwirkungen zumindest billigend in Kauf genommen".

Langer Kampf bis zur Prozesseröffnung

Dem zweiten Beamten, Hans-Ulrich M., der an der Festnahme beteiligt war, wird "fahrlässige Tötung" vorgeworfen. Er habe bei der Durchsuchung das Feuerzeug übersehen, mit dem Oury Jalloh die Matratze in Brand gesetzt haben soll. Der institutionelle Kontext des Geschehens ist nicht Gegenstand der Anklage.

Es ist als ein Erfolg der Kampagne in Gedenken an Oury Jalloh zu betrachten, dass es überhaupt zu einer Zulassung der Anklage kommen konnte. Zwei Jahre und drei Monate verschleppte die Justiz die Eröffnung des Prozesses. Demonstrationen, Veranstaltungen und nicht zuletzt ein preisgekrönter Dokumentarfilm des WDR sorgten dafür, dass der Tod Oury Jallohs nicht in Vergessenheit geriet. Nach Beschwerden vor dem Oberlandesgericht wurden die Anklagen letztlich zugelassen; eine Seltenheit bei Verfahren gegen Polizeibeamte, die fast alle eingestellt werden.

Angesichts einer so langen Zeit zwischen Geschehen und Verhandlung geraten die detaillierten Fragen an die ZeugInnen mitunter zu einer Fiktion von Wahrheit. Erinnerungslücken sind unvermeidbar bei Fragen, ob die Zeugin um 12.27 Uhr oder um 12.37 Uhr zur Kantine ging. Oftmals sind sie von den PolizeizeugInnen jedoch vorgeschoben; fadenscheinige Versuche, den Hauptangeklagten zu entlasten. Es ist das bekannte Phänomen des Korpsgeistes der Polizei, das eine Aufklärung von polizeilichem Fehlverhalten fast unmöglich macht.

Der Prozess ist voller Beispiele dafür: Absprachen zwischen PolizeizeugInnen, "Hausmitteilungen", mit denen die BeamtInnen frühzeitig auf eine offizielle Version des Geschehens festgelegt werden sollten, oder die Versetzung einer Zeugin, die Andreas Sch. anfangs schwer belastete. Am 10. Prozesstag platzt dem Richter der Kragen. Richter Steinhoff, der ursprünglich nur vier Verhandlungstage angesetzt hatte, hält eine Standpauke: "Der Beamte, der hier falsch ausgesagt hat, muss ans Kreuz genagelt werden."

Im Juni sagt dieser Polizeibeamte zum zweiten Mal aus und revidiert in Teilen seine erste Aussage. Es sei für ihn trotz des Qualms möglich gewesen, in die Zelle vorzudringen, er habe Oury Jalloh jedoch nicht retten können, weil er weder einen Feuerlöscher noch die Schlüssel für die Hand- und Fußfesseln dabei hatte. Mit dieser Aussage fällt eine zentrale Verteidigungslinie des Hauptangeklagten.

Weite Teile des Prozesses gestalten sich als mühsames Puzzle, in dem winzige Details über das Geschehen am Morgen des 7. Januar 2005 zusammengetragen werden. Es sind vor allem die NebenklagevertreterInnen, die durch beharrliches Nachfragen eine ausführliche Aufklärung durchgesetzt haben bzw. was nach zweieinhalb Jahren davon noch möglich ist. Die Wende kam schon am dritten Verhandlungstag, als Steinhoff die Behandlung eines Parallelfalls zuließ.

Die Nebenklage hatte beantragt, den Fall Mario Bichtemann herbei zuziehen, einem Mann, der im Jahr 2002 von der Dessauer Polizei in betrunkenem Zustand aufgegriffen und in Polizeigewahrsam gebracht wurde. Am nächsten Morgen, nachdem er fünf Stunden unbeaufsichtigt gelassen wurde, verstarb er an einer Schädelverletzung. Beteiligt waren dieselben Personen wie im Fall Oury Jalloh: Beate H., der Polizeiarzt Andreas B. und der Dienstgruppenleiter Andreas Sch., gegen den ein dienstrechtliches Verfahren noch anhängig ist.

Was kam bis jetzt durch dieses Puzzle heraus? Festzuhalten ist: ein Mensch verbrannte in Zelle 5 des Gewahrsamstrakts, gefesselt an Händen und Füßen, auf einer Matratze, die angeblich als feuerfest geprüft wurde. Oury Jallohs Körper verkohlte völlig. Hier hören die Gewissheiten schon auf. Ungeklärt ist nach wie vor, wie es zum Brand kommen konnte und welche Bedingungen dazu beitrugen. Zündete er sich selbst an, wie es die Staatsanwaltschaft annimmt, oder war Fremdeinwirkung im Spiel?

Das ist die Stelle, an der Kontroversen in der Unterstützerbewegung einsetzen. Fakt ist, dass es in der Verhandlung bislang noch keinen Beleg für Fremdeinwirkung gab, sprich: dass Oury Jalloh angezündet wurde. Vom Geschehensablauf wäre das möglich. Es bleibt ein Zeitfenster von 15 Minuten zwischen der letzten Zellenkontrolle und dem Ausbruch des Brandes. In dieser Zeit hätte sich jemand über einen unverschlossenen Nebeneingang unbemerkt in den Gewahrsamstrakt schleichen und Oury Jalloh anzünden können. Allerdings stellen sich dann weitere Fragen: Wer sollte dieser Jemand sein? Alle PolizeizeugInnen waren zur fraglichen Zeit beschäftigt, der Hauptangeklagte soll im ersten Stock permanent telefoniert haben. Aus welchem Motiv sollte der Täter gehandelt haben? Die Antwort "aus Rassismus" wäre zu einfach.

Stationen institutioneller Erniedrigung

Warum sollte ein, vermuten wir mal: Polizeibeamter, das Risiko auf sich nehmen, bei einem Mord entdeckt zu werden, wenn er oder sie ungestraft andere Mittel und Wege hat, seinen Rassismus auszuleben, etwa durch willkürliche Festnahmen, Wegsperren und stundenlanges Fesseln an Händen und Füßen? Und warum sollte sich Oury Jalloh in diesem Moment ungewöhnlich ruhig verhalten haben, der in den drei Stunden zuvor lautstark gegen seine Misshandlung protestiert hatte, insbesondere wenn Beamte zur Kontrolle in seine Zelle kamen? Es bleiben Ungereimtheiten, niemand, außer den direkt Tatbeteiligten, so es sie gab, weiß genau, wie das Feuer zustande kam.

Alle Varianten des Geschehensablaufs sind Hypothesen, auch diejenige der Staatsanwaltschaft: Das Einschleusen des Feuerzeugs ist nach wie vor ungeklärt, ebenso die Frage, wie der feuerfeste Bezug der Matratze so beschädigt werden konnte, dass der darunter liegende Schaumstoff sich entzünden konnte. Ein Selbstmord ist jedenfalls auszuschließen, würde das doch den Willen voraussetzen, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass in der weiteren Verhandlung eine "smoking gun" auftaucht, der schlagende Beweis, wie das Feuer gelegt wurde. Die Brandursache wird kaum befriedigend zu klären sein. Damit bleibt der Raum offen, in dem das Unfassbare eines vorsätzlichen Mordes denkbar erscheint. Gerade diese schreckliche Ahnung dürfte zum beharrlichen öffentlichen Druck beigetragen haben, der den Prozess erst möglich machte.

Die Bedeutung des Falls Oury Jalloh geht jedoch nicht auf in der Frage, ob es ein Mord war. Wahrscheinlich ist das Böse weit banaler. Vielmehr erlaubt der Prozess Einblicke in den Alltag rassistischer Behandlung von Flüchtlingen und MigrantInnen auf deutschen Polizeirevieren. Spürbar wird ein rassistisches Klima auf der Dessauer Wache, nicht zuletzt erkenntlich am zynischen Telefonat zwischen dem Dienstgruppenleiter Andreas Sch. und dem Polizeiarzt Andreas B.

Sch.: "Ja, pikste mal 'nen Schwarzafrikaner." Arzt: "Ach du Scheiße." Sch.: Lachen. Arzt: "Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen." Sch.: "Na, bring doch 'ne Spezialkanüle mit." Arzt: "Mach ich."

Als dieser Wortwechsel im Gerichtssaal verlesen wurde, sprang ein Afrikaner im Publikum auf und rief, sichtbar verzweifelt, "Das ist Rassismus". Einer der wenigen Einbrüche von Realität in die geschäftige Gerichtsroutine.

Neben diesen Formen eines direkten, persönlichen Rassismus sind für den Geschehensablauf jedoch gerade polizeiliche Praktiken und Routinen entscheidend. Sie kommen den Akteuren selbst nicht als rassistisch vor, denn ihr Verständnis von Rassismus ist verengt auf den bewussten, ideologisch aufgestachelten Hass auf Schwarze. Ihnen selbst erscheinen diskriminierende Praktiken als quasi-natürliche Produkte ihrer Berufserfahrung.

Jede Station des Leidenswegs von Oury Jalloh ist von solchen Formen des institutionellen Rassismus geprägt. Auslöser des Polizeieinsatzes war der Anruf zweier Reinigungskräfte, die sich von dem betrunkenen Oury Jalloh belästigt fühlten. Sie verstanden schlichtweg nicht, was er von ihnen wollte. Die beiden Polizeibeamten, die zum Geschehen hinzukamen, darunter der später angeklagte Hans-Ulrich M., wollten eine Identitätsfeststellung durchführen, jedoch ohne jegliche rechtliche Grundlage. Es lag keine Anzeige und keine Straftat vor. Oury Jalloh dürfte dem rassistisch geprägten Bild eines Verdächtigen entsprochen haben, ein Fall von "racial profiling".

Die folgende gewalttätige Festnahme war nicht gerechtfertigt, dürfte aber zur Routine respektlosen Verhaltens gegenüber AfrikanerInnen gehören. "Ausweis!", ohne Vorstellung, ohne Anrede, ohne Erklärung. Als der Verdächtige, dem solche willkürlichen Kontrollen nur zu bekannt waren, nicht unterwürfig reagierte, wurde Gewalt angewandt, gerechtfertigt durch den "Widerstand" des Delinquenten.

Organisierte Verantwortungslosigkeit

Anstatt den Betrunkenen in ein Krankenhaus zu fahren, wurde er zum Polizeirevier gebracht, weiter überwältigt, wobei ihm das Nasenbein gebrochen wurde, dann gefesselt, abgesegnet vom Polizeiarzt. Allein die Ankettung eines Menschen an Händen und Füßen über Stunden stellt einen Akt der Misshandlung dar. Die Begründung, "Eigensicherung", ist nicht erst im Nachhinein betrachtet durch seinen Tod ad absurdum geführt worden.

Der Dienstgruppenleiter Andreas Sch. ließ Oury Jalloh über Stunden angekettet schreien und protestieren, bis dieser, so Sch., "sich beruhigt" habe. Eine Machtdemonstration, denn die Identität, den vorgeblichen Gewahrsamsgrund, hätte er in Minuten klären können. Schließlich das desinteressierte, unwillige Verhalten von Sch., der eine Hilfeleistung verzögerte, was der eigentliche Grund der Anklage ist, die sich vor Gericht nur mit Mühe beweisen lässt.

Neben diesen Formen von direktem und strukturellem Rassismus offenbart der Prozess ein erschreckendes Ausmaß an bürokratischer Verantwortungsentsorgung bei der Dessauer Polizei. Wie in jeder hierarchischen Behörde fühlen sich die BeamtInnen nur für ihren, von ihren Vorgesetzten zugewiesenen Aufgabenbereich zuständig. An der Grenze der Zuständigkeit endet auch das Interesse und Mitgefühl für die der Polizei unterworfenen Menschen. Entscheidungen von KollegInnen oder gar von Vorgesetzten werden nicht in Frage gestellt.

Dem Gefangenen, der darum bittet, die Fesseln abzunehmen, wird erklärt: "Du musst doch wissen, was du gemacht hast. Du hast Leute belästigt und Widerstand geleistet." Das waren die Worte der Polizeizeugin Beate H., die als einzige eine persönliche Verantwortung und Anteilnahme für den Gefangenen erkennen ließ. Im Rahmen des kollektiven und arbeitsteiligen Handelns der Polizei trägt sie jedoch ebenso eine institutionelle Verantwortung wie ihre abgestumpften Kollegen, die sich nach dem Feuerwehreinsatz und dem Tod in der Zelle zu ihren Routineaufgaben zurückkehren.

Der Ausgang des Verfahrens ist offen, auch nach fast 30 Prozesstagen. Terminiert ist bis Ende Februar 2008, Verlängerung möglich. Es ist nicht sicher, ob die Zeugenaussagen und Gutachten zu einer Verurteilung des Hauptangeklagten ausreichen oder ob die entlastenden Falschaussagen ein nicht mehr zu entwirrendes Knäuel bilden. Gleich, wie der Prozess ausgeht, die entscheidenden Fragen, die Fragen des institutionellen Rassismus, der rassistischen Polizeigewalt, der "Cop Culture", diese Fragen können nur außerhalb des Gerichtssaals zum Thema gemacht werden.

Ob ein Schuldspruch, der, so die Theorie, den "Rechtsfrieden" wiederherstellt, zu einer notwendigen institutionellen Umkehr der Polizei beiträgt, ist mehr als fraglich. "Das Urteil", so Wolf-Dieter Narr, einer der Prozessbeobachter, "wie immer es fällt, wird falsch. Strukturen, Funktionen deutscher Vorurteile, der Personen, die sie verkörpern - sie bleiben." Der Mutter von Oury Jalloh jedoch, die am ersten Prozesstag in Tränen ausbrach, würde ein Freispruch das Herz brechen.

Kay Wendel