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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 522 / 16.11.2007

Die Migration im urbanen Raum sichtbar werden lassen

Das Kollektiv Migrantas organisiert eingreifende Reflexion

Über Migration wird in Deutschland viel geschrieben und gesagt. Selten jedoch sind es die MigrantInnen selber, die öffentlich zur Wort kommen. Die Initiatorinnen vom KollektivMigrantas - selbst Wahlberlinerinnen- haben sich vorgenommen, diesen verschwiegenen Identitäten ein Ausdrucksmittel anzubieten und ihre Produktionen sichtbar zu machen. Dafür haben sie eine einfache und universell verständliche Sprache entwickelt: Piktogramme, mit denen Empfindungen und Reflexionen von Migrantinnen visuell übersetzt und in den deutschen Städten allgemein sichtbar gemacht werden. Das Ergebnis: Urbane Aktionen, die gleichzeitig Emotionen vermitteln und politisch wirken.

Eine Frau mit Kopftuch lächelt freundlich und sagt dabei: "Ich bin keine Terroristin"; eine andere weibliche Figur zeigt sich als Putzfrau gekleidet mit dem Schrift "Migrantinnenjob"; eine schwangere Frau guckt ihren Bauch an und fragt sich, wo ihr Kind zugehören wird; eine andere Figur steht auf dem Globus mit einem Fuß auf jedem Kontinent und einem gespaltenen Herz. Das sind einige der Piktogramme, die im Laufe der Projekte von Migrantas entstanden sind und im öffentlichen Raum deutscher Städte gezeigt werden.

Damit verfolgt das Kollektiv Migrantas wortwörtlich die Absicht öffentlich zu machen, was Migrantinnen denken und fühlen - in eine innovative, gegenwärtige Sprache und als Teil der urbanen Landschaft integriert. Die Arbeitsmethode basiert auf Workshops, in denen sich das Kollektiv zusammen mit anderen Migrantinnen unterschiedlicher Herkunft über die eigene Migrationserfahrung austauschen. Nach der gemeinsamen Reflexion werden die Teilnehmerinnen eingeladen, in einfachen Skizzen ihre Empfindungen und Meinungen zum Ausdruck zu bringen. Diese Zeichnungen dienen als Vorlage für die Piktogramme, die hinterher von Migrantas entworfen werden. Einige diese Bilder werden dann in urbanen Aktionen öffentlich gemacht, um die Empfindungen und Meinungen der Migrantinnen für den Rest der Gesellschaft sichtbar werden zu lassen. In den verschiedenen Projekten, die bisher in Berlin und jetzt in Hamburg laufen, wurden die ausgewählten Motive jeweils als großformatige Plakate in Bushaltestellen, U-Bahnhöfen und Litfaßsäulen installiert, als freie Postkarten in Cafés verteilt, auf Einkaufstaschen gedruckt und als digitale Animationen auf Bildschirmen in U-Bahnen ausgestrahlt. Durch die verschiedenen Formate werden die Migrationserfahrungen wortwörtlich in der urbanen Landschaft integriert.

Piktogramme als visuelle Sprache der Migration

Piktogramme sind minimalistische Bilder, wie diejenigen, die man überall auf der Welt in Bahnhöfen oder Flughäfen finden kann. Ihre einfache, universell verständliche Sprache ermöglicht es, jenseits kultureller Unterschiede basische Informationen zu vermitteln. Die ursprüngliche Idee, Piktogramme mit Inhalten und Emotionen zu füllen und sie als künstlerische Ausdrucksmittel zu verwenden, ist von Marula Di Como entwickelt worden. Die in Buenos Aires geborene Künstlerin hat bereits vorher diese Bilder in ihrer Kunst benutzt und dabei die expressiven Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen Text und Bild innovativ erforscht. Nachdem sie 2002 mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach Berlin emigriert war, setzte sie diese Arbeit fort, nun gemeinsam mit der - inzwischen auch mit ihrer Familie aus Argentinien eingewanderten - Grafikerin Florencia Young.

Installation von Erfahrung in der urbanen Landschaft

Waren die ersten Piktogramme eher allgemeinen, existenziellen Fragen gewidmet, ging es nun darum, die eigene Verwirrungen als Aus/Einwanderin damit auszudrücken. So trägt eine Frau ein schweres Gepäck auf der Schulter und wird dabei gefragt: "Welche Last trägst Du?"; eine andere trinkt Matetee vor einem leeren Stuhl und fragt sich: "Mit wem?". Aus dieser Reihe von Piktogrammen entstand 2003 das "Ausländer Projekt": Die Bilder wurden als Plakate in Buenos Aires installiert und führte zu unerwartet vielen Rückmeldungen. Argentinien, ein traditionelles Einwandererland, war nach der Wirtschaftskrise zu einem Entsendeland geworden, einige der Tausende von ArgentinierInnen, die ins Ausland gezogen waren, oder deren Verwandten, haben ihre Kommentare und eigenen Beiträge per E-Mail an die Ausstellungsmacherinnen geschickt und dadurch die Arbeit interaktiv fortgesetzt.

Der Anstoß, die ursprüngliche Serie von Piktogrammen mit neuen zu fortzusetzen, und dadurch die Botschaft erweitern, entstand beim Erlebnis des transkulturellen Lebens in Berlin. Inwieweit gelten diese Bilder auch für andere Migrantinnen? Was geschieht den anderen Frauen, die aus anderen ethnischen oder kulturellen Hintergründen kommen bzw. unten anderen Umständen nach Berlin eingewandert sind? Welche Gemeinsamkeiten gibt es, bei allen Unterschieden; und welche Unterschiede innerhalb der Gemeinsamkeiten? So ist 2004 das Kollektiv Migrantas entstanden, mit der Absicht, die unterschiedlichsten Migrationserfahrungen zu teilen, zu kontrastieren und öffentlich sichtbar zu machen.

Die Workshops finden in der Regel bei Migrantinnenorganisationen und -vereinen statt und dauern ca. zwei bis drei Stunden. Da die Initiatorinnen von Migrantas selbst Migrantinnen in Berlin sind, wird darauf Wert gelegt, diese Treffen als horizontale, nicht hierarchische Dialoge zu verstehen. Werkzeuge der Sozialwissenschaften, der Kunst und des Designs werden bei den Workshops spontan und unbürokratisch verwendet und den Migrantinnen spielerisch zur Verfügung gestellt. Die Anregung, die eigenen Überlegungen in schlichte Texte und Fragen zu fassen, ermöglicht es, sich auf das Essenzielle der Problematik zu konzentrieren. Ausgehend von den Zeichnungen, die dabei entstanden sind, entwirft Migrantas später eine neue Serie von Piktogrammen. Diese beziehen sich sowohl visuell als auch konzeptuell auf die Ideen, die die Teilnehmerinnen ausgedrückt haben. Schlüsselelemente und Gemeinsamkeiten werden identifiziert, wiederkehrende Themen ausgewählt und zu einer mögliche Synthese überarbeitet. Oft werden die Piktogramme von kurzen Texten oder Fragen begleitet, die auch auf den Kommentaren der Teilnehmerinnen basieren. Die Fragen entsprechen dem dynamischen, offenen Charakter der Existenz vieler Migrantinnen, denn ihr Leben ist meistens von Ungewissheiten geprägt. Darüber hinaus werden die Zuschauer dadurch später zu einer aktiven Stellungnahme motiviert.

Das Individuelle mit dem Politischen verbinden

So einfach es erscheinen mag, über sich selbst nachzudenken und mit Papier und Bleistift die Reflexionen zum Ausdruck zu bringen, bedeutet diese Einladung für viele Teilnehmerinnen eine außergewöhnliche Chance und eine Herausforderung zugleich. Viele scheinen es selten zu erleben, dass andere Interesse an ihrer persönlichen Geschichte zeigen. Migrantas geht von der Annahme aus, dass Menschen über die Fähigkeit verfügen, über die eigene Situation zu reflektieren und sie dadurch mit kollektiven, sozialen Prozessen zu verbinden. Denn Mobilität, Migration und Transkulturalität sind in unserer Welt keine Ausnahme mehr, sondern werden immer mehr die Regel. Durch die Auseinandersetzung mit Erfahrungen anderer Migrantinnen und durch das Nachdenken über die eigene Geschichte können Isolationsgefühle überwunden werden. Die eigene Biografie kann statt als einzelnes, individuelles Schicksal, als Teil von größeren politischen Entwicklungen interpretiert werden.

Die Piktogramme, die Anonymität und Emotion auf schlichte Weise vermischen, erlauben es, auf eine schützende Weise und trotzdem individuell ihre Überlegungen zu vermitteln. In ihrer Bildsprache können sich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen selbst erkennen. Frauen werden in patriarchalen Kulturen dem häuslichen, privaten Bereich zugeordnet. Ihre Reflexionen um die Themen Migration und Integration finden meistens in geschlossenen Räumen bzw. Kreisen statt, die miteinander nicht unbedingt in Berührung kommen. Durch die urbane Installation werden ihre subjektiven Erfahrungen stattdessen in der Öffentlichkeit platziert. Dort wirken ihre Überlegungen und Emotionen über den Raum, in dem sie kommuniziert wurden, hinweg. Neben den urbanen Aktionen finden zum Schluss der Migrantas-Projekte auch Ausstellungen statt, wo sämtliche Originalzeichnungen gezeigt werden. Dort wird den Teilnehmerinnen die Gelegenheit angeboten, die Produktionen aus den anderen Gruppen zu sehen und sich gegenseitig kennen zu lernen. Die Ausstellung wird oft als ein Raum der Anerkennung wahrgenommen.

Bei den verschiedenen Projekten haben Frauen mit sehr verschiedenem ethnischen und kulturellen Hintergrund teilgenommen. Bei allen Unterschieden gibt es jedoch Themen, die sich wiederholen und als gemeinsame Fragen erscheinen, wie die große Anstrengung, die die Gewöhnung an ein neues Land verlangt, die Sehnsucht nach der Heimat, die Sorge nach der Zukunft der Kinder und die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in Deutschland. Meistens können sich die BetrachterInnen mit den Piktogrammen gut identifizieren und zwar unabhängig von ihrer Nationalität. Denn oft handelt es sich dabei letztendlich um vitale Fragen, die eigentlich jeden Menschen betreffen können, durch die Migrationserfahrung aber deutlicher spürbar werden.

Estela Schindel

Projekte des Kollektiv Migrantas

Das Kollektiv Migrantas sind Marula Di Como (Künstlerin), Irma Leinauer (Raumplanerin), Alejandra López (Journalistin), Florencia Young (Grafikerin) und Estela Schindel, die Autorin dieses Artikels und promovierte Soziologin. www.migrantas.org

Seit 2005 hat das Kollektiv Migrantas 25 Workshops mit ca. 260 Teilnehmerinnen aus 34 verschiedenen Herkünften durchgeführt. Nach den in Berlin realisierten Projekten (2005: "Integration"; 2006 "Interkulturelle Werkstatt" und "Bilder Bewegen" I und II, Finanzierung durch das Berliner Kultursenat, das Kulturamt Berlin-Neukölln, den Europäischen Kulturfonds und das Auswärtigen Amt) findet im Herbst 2007 "Bundesmigrantinnen" in Hamburg statt, finanziert durch den Fonds Soziokultur, die Hamburger Kulturstiftung und die Frauen-Finanzgruppe-Susanne-Kazemieh. Die Arbeit in der hanseatischen Stadt soll die erste Station einer Reihe werden, in der das Projekt in mehreren Städten realisiert wird.