Unbekannte Flugobjekte
Fallstricke der gewerkschaftlichen Organizing-Diskussion - ein Gespräch
Inspiriert durch insbesondere US-Erfahrungen wird vor allem bei ver.di über "Organizing" diskutiert, nicht zuletzt als Antwort auf sinkende Mitgliederzahlen. Vor diesem Hintergrund ist in diesem Jahr das Buch "Never work alone. Organizing - ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften" erschienen. Susanne Nickel, Hauptamtliche bei der IG Metall, und Peter Birke von der Gruppe Blauer Montag haben das Buch gelesen und sich darüber unterhalten.
Peter Birke: Zuerst fällt mir das Foto auf dem Umschlag auf. Zwanzig junge, radikale Linke mit vorgefertigten ver.di-Postern vor dem Brandenburger Tor.
Susanne Nickel: Ja, ein echtes Klassenfoto: Lauter nette Bekannte aus dem Haufen linksradikaler AkademikerInnen, die neuerdings für Gewerkschaften schwärmen oder (wie ich selbst) gar arbeiten. Irgendwie hätte ich auf einer Organizing-Solidemo für ReinigerInnen in Houston auch ReinigerInnen erwartet - verheißt Organizing doch Empowerment und Selbstorganisation. Vielleicht liegt das an der bundesdeutschen bzw. transnationalen Gewerkschaftskonkurrenz? ReinigerInnen organisieren sich in der IG BAU, nicht bei dem SEIU-Organizing-Projektpartner ver.di. (1) Und hinter Organizing als "Zukunftsmodell für Gewerkschaften" im Buchtitel habe ich eher ein Fragezeichen erwartet, eine Einladung zur Debatte. Diese Irritationen des ersten Blicks auf den Buchdeckel haben mich dann auch beim Lesen begleitet.
Als Organizing-Fan, ehemalige Migration & Gewerkschaftsforscherin und hauptamtliche IG Metallerin habe ich mehr und andere Fragen, als das Buch zulässt. Es liest sich stellenweise eher wie ein Beitrag zur ver.di-Innenpolitik. Einige Aufsätze fand ich aber klasse, etwa den Beitrag von Heiner Dribbusch: Knapp, systematisierend und differenziert schildert er die unterschiedlichen Ansätze US-amerikanischer und britischer Gewerkschaften, ohne sie auf das (Export-)Modell der SEIU zu reduzieren.
PB: Heiner zeigt auch, wie sich die Organizing-Projekte in den USA, Australien und England entwickelt haben. Er stellt dar, wie sich die Arbeitsbeziehungen in diesen Ländern in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert haben, hinterfragt die Übertragbarkeit der Systeme und damit auch der politischen Orientierungen. Dadurch entfernt er sich weit von der etwas platten Argumentation mit der "Verdoppelung der Mitgliedszahlen" der SEIU, zumal die Resultate des Projektes im Hamburger Sicherheitsbereich dieses Versprechen in den spezifisch bundesdeutschen Verhältnissen auch nicht ganz realistisch erscheinen lassen. Am Ende betont Heiner, dass es mehr als ein Organizing-Konzept gibt und dass es sich lohnt, Versuche mit einer "beteiligungsorientierten" gewerkschaftlichen Politik in der Bundesrepublik zu diskutieren, auch wenn diese nicht bei ver.di angesiedelt sind, nicht das Label "Organizing" tragen oder nicht die spezifischen Methoden der SEIU kopieren.
SN: An Dribbuschs Artikel gefällt mir auch, dass er "Spannungsfelder und potenzielle Konfliktpunkte" aufzeigt - in denen sich Organizing-Ansätze notwendigerweise bewegen - ohne sie gleich wieder wegzuargumentieren. Das Verhältnis von basisorientiertem Empowerment und der starken Betonung strategischer Führung ist eines davon, ein anderes das Austarieren von Top-Down-Ansätzen - wie sie z.B. die SEIU mit einem starken Fokus auf hauptamtliche OrganizerInnen und zentral gesetzte Kampagnen fährt - und Bottom-Up-Initiativen. Dribbusch erwähnt auch das heikle Thema der Arbeitsbedingungen von externen OrganizerInnen, die häufig unterbezahlt rund um die Uhr im Einsatz an der unteren Skala der Gewerkschaftshierarchie verheizt werden (was so in "Never work alone" niemand sagen mag). Und er spricht die Schwierigkeit an, in Organizing-Kampagnen eine gute Form der Zusammenarbeit von externen, eingeflogenen OrganizerInnen und langjährigen ehren- und hauptamtlichen GewerkschafterInnen vor Ort zu entwickeln - aus meiner Sicht durchaus einer der Knackpunkte für den nachhaltigen Erfolg von Organizing.
Daneben habe ich einige Anregungen aus dem Beitrag über Organizing als "Wiederaufbau der britischen und irischen Vertrauensleutebewegung" von Sharon Graham, Organizing Director der britischen Großgewerkschaft "Transport and General Workers Union" (T&G), gezogen. Was genau die T&G auf dem Weg zu branchenweit agierenden neuen "Arbeitsplatzsprechern" mit ihrem alten ehrenamtlichen Personal gemacht hat und an welchen bewährten Erfahrungen und Arbeitsweisen ihr Organizing andocken konnte, davon hätte ich gern mehr erfahren. Sätze wie: "Es ist die Schlüsselaufgabe eines Organizers, sicherzustellen, dass die Sprecher am Arbeitsplatz dem Programm der Gewerkschaft und nicht dem Programm des Unternehmens folgen" (S. 149) finde ich hingegen eher gruselig.
In diesem Beitrag wird auch deutlich, dass die "Übersetzungsarbeit" in sprachlicher, aber vor allem konzeptionell-politischer Hinsicht zwischen USA und BRD - die sich die HerausgeberInnen für dieses Buch zu Organizing vorgenommen haben - nicht einfach ist. Bei den anglo-amerikanischen "shop stewards" handelt es sich eben nicht um die deutschen "Vertrauensleute", die neben einem - eventuell gar nicht gewerkschaftlich organisierten Betriebsrat - in der BRD die gewerkschaftlichen Basisstrukturen in den Betrieben bilden. Die britisch-amerikanisch-australischen Beiträge stehen unkommentiert und unverbunden neben den Hamburger Erfahrungen. Anders in dem Beitrag von Jeffrey Raffo - Beraterteam OrKa/Organisierung und Kampagnen -, der seine konkreten Erfahrungen (und Arbeitsbedingungen) als Organizer in Nordamerika sowie mit ver.di in Nordrhein-Westfalen eindrucksvoll schildert.
PB: Peter Bremmes Artikel über das Organizing-Projekt im Hamburger Sicherheitsgewerbe ist da auch lesenswert, weil er den Zusammenstoß gewohnter Arbeitsweisen mit dem systematischen Organizing-Vorgehen der SEIU detailliert und aus seiner Erfahrung als Projektleiter heraus beschreibt. Neben den konkreten Organizing-Methoden ist hier auch eine Menge über Konflikte, Hindernisse und Probleme zu lernen. Problematisch scheint mir die übergewichtige Fixierung auf die Mitgliedergewinnung und der damit eng verbundene exemplarische Anspruch des Projektes in Hamburg zu sein. Die Texte folgen überwiegend der Dramaturgie: große Katastrophe "Mitgliederrückgang und drohende Pleite", verursacht durch Stellvertreterpolitik, dann Auftritt "Organizing" und Aufleuchten der roten Sonne am Horizont.
Meines Erachtens ist das eine Schreibweise, die dem Anliegen, das die AutorInnen selbst formulieren - die Ausbreitung einer "aktivistischen" Betriebs- und Gewerkschaftspolitik - aber gerade nicht dient. Ein Beispiel ist die Geschichte über die Auseinandersetzung um die Betriebsratswahl bei der Firma Power, eine sehr interessante Geschichte, die Peter Bremme in seinem Artikel erzählt. Ich denke, alle, die schon einmal ähnliche Erfahrungen gemacht haben - der Chef will eine Betriebsratswahl verhindern und entlässt Leute -, wissen, dass dies zu Konflikten führt, die man nicht immer gewinnt, trotz aller Bemühungen. Es wäre meines Erachtens viel überzeugender und authentischer, diese Seite auch mit einzubeziehen, weil auf dieser Grundlage eine wirkliche und offene Kommunikation von Erfahrungen überhaupt erst möglich wäre. Aber die "Organizing-to-Win"-Rhetorik macht das offenbar schwierig.
SN: Leider wird in den Hamburger Erfahrungsberichten die Frage nach dem "wie weiter" und "wie zusammen" mit dem Rest der ver.di-Aktiven nur gestreift. Mir scheint sie jedoch wichtig zu sein: Wie soll ein Team prekär beschäftigter externer OrganizerInnen ohne Einbindung in die ver.di-Strukturen und mit keiner bis wenig gewerkschaftlicher Erfahrung die Gewerkschaft überzeugend verkörpern und die gewonnenen AktivistInnen auf die überbetrieblichen Handlungsfelder gewerkschaftlichen Handelns vorbereiten? Mir kommt dazu das Bild von Organizing-UFOs in den Kopf, die rein- und rausschweben
Vor dem Hintergrund treiben mich Fragen um wie: Unter welchen Bedingungen können welche Organizing-Techniken für wen sinnvoll sein? Was ist z.B. mit Leistungsdruck und frustrierenden Arbeitsbedingungen bei hoch qualifizierten Beschäftigten, deren Gehälter weit über dem in Organizing-Kampagnen skandalisierbaren Armutsniveau liegen und deren Arbeitsthemen wie Bildungsniveau die schnelle Begeisterung für einfache Slogans erschweren? Kein Thema und keine Organizing-Zielgruppe?
Auch habe ich großen Respekt vor den Arbeitskampferfahrungen, dem strategischen Vermögen, den kreativen Vorgehensweisen vieler Kollegen und Kolleginnen, die jenseits von Organizing betriebsnahe konfliktorientierte Tarifpolitik, Mitgliederbeteiligung und emanzipatorisch-linke Politik in den letzten Jahren vorangebracht haben. Ich kann mir vorstellen, dass in den Organizing-Gewerkschaften oder ver.di auch solche Traditionen bestehen, die sich teilweise mit Organizing-Elementen verbinden lassen, die aber von der Rhetorik des großen (Auf-)Bruchs verdeckt werden.
PB: Ich habe beim Lesen deshalb nach und nach einiges Misstrauen entwickelt: Muss man wirklich nur Organizing betreiben, und die Krise der bundesdeutschen Gewerkschaften löst sich in Luft auf? Warum ist es der einzig richtige Weg, mit doppelt externen Organizern, d.h. mit Selbstständigen und Menschen, die nicht aus dem Bereich kommen, zu arbeiten? Vielleicht hatten die HerausgeberInnen des Buches auch eine andere Zielgruppe vor Augen, die sie erst mal einfach anregen und begeistern wollten. Ich fühlte mich agitiert - und war deswegen verstimmt. "
SN: O.K. - das Buch ist nicht der erhoffte Rahmen für eine kontroverse Debatte unter linken GewerkschafterInnen und Organzing-Interessierten aus anderen politischen Zusammenhängen und kann auch kaum bundesdeutsche Organizing-Erfolge aufzeigen - das müssen wir halt zusammen weiterentwickeln.
PB: Social Movement Unionism ist in den bisherigen deutschen Organizing-Projekten eher Behauptung als Realität. Es werden einzelne Aktionsformen aus dem Repertoire der sozialen Bewegungen genutzt, aber die Bündnispolitik mit KundInnen, betroffenen Stadtteilen, Familien, Selbstorganisationen etc. geht meist nicht über das eigentlich immer schon übliche hinaus. Das zeigt auch der Beitrag von Sabine Stövesand zu "Organizing im lokalen Gemeinwesen". Sie beschreibt die Wurzeln des Community Organizing und ihre Rezeption in der BRD und zeigt erste sporadische Verbindungen, die sich in den vergangenen Jahren gezeigt haben, etwa zwischen den Beschäftigten des Hamburger Hafenkrankenhauses und BewohnerInnen des Stadtteils St. Pauli bei dem Kampf um den Erhalt des Hauses.
Ich denke, diese Frage nach der Verbindung zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen ist ganz wichtig. Wie wäre da eine nicht-instrumentalisierende Beziehung möglich? Oder reden wir überhaupt noch von etwas Äußerlichem, einer Beziehung, oder bereits von wirklichen Gemeinsamkeiten? Sabine Stövesand beantwortet diese Fragen nicht, weil sie nur in den Bewegungen selbst in Zukunft beantwortet werden können. Aber sie zeigt, dass es Organizing-Projekte gibt, die aus dem Zusammenhang sozialer Bewegungen heraus entstanden sind. Das heißt auch, dass dort beispielsweise die Zentralität der Lohnarbeit hinterfragt oder sich, anders als in den Verbänden der Lohnarbeitenden, kritisch mit Geschlechterverhältnissen auseinandergesetzt wurde. Organizing darauf zu reduzieren, eine Art Werkzeugkasten zu sein, ein Instrument und eine Methode, die relativ unabhängig von solchen Konflikten existiert, ist deshalb durchaus problematisch.
Sicherlich melden sich soziale Bewegungen zurzeit zumindest in Hamburg (und in der Bundesrepublik) nicht sehr kontinuierlich zu Wort. Aber diese Antwort reicht mir nicht aus, wenn nach Social Movement Unionism gefragt wird. Wir wissen doch im Moment überhaupt nicht, was das eigentlich sein soll, und haben nur die Highlights von Seattle (2) etc. einerseits und das etwas triste Alltagsgeschäft andererseits im Blick! Vielleicht könnte man damit anfangen zu fragen, warum die meisten Streiks in den letzten Jahren aneinander vorbei gelaufen sind. Es gibt selbstverständlich bescheidene Versuche, das zu ändern; allerdings gehen die ganz überwiegend nicht vom Gewerkschaftshaus aus. Auch die Organizing-Projekte haben nicht viel mit diesen Versuchen zu tun, und sie wirken von daher merkwürdig isoliert.
SN: Ich finde, Anfangen ist ein gutes Stichwort. Die Diskussion hat ja erst angefangen. Und UFOs sind schillernde Erscheinungen, die sich bedrohlich bis faszinierend zwischen uns und unsere gewohnten Denk- und Handlungsweisen schieben.
Anmerkungen:
1) SEIU: Service Employers International Union; US- Dienstleistungsgewerkschaft
2) Anlässlich der WTO-Tagung 1999 in Seattle kam es zu heftigen und militanten Protesten, die durch ein ebenso breites wie überraschendes Bündnis von Gewerkschaften, Basisinitiativen und NGOs getragen wurden.
Peter Bremme/Ulrike Fürniß/Ulrich Meinecke: Never work alone. Organizing - ein Zukunftsmodell für Gewerkschaften. VSA, Hamburg 2007, 277 S., 19,80 EUR