Aufgeblättert
Im Reich der Camorra
Eine "Reise in das Reich der Camorra" nennt Roberto Saviano sein Buch "Gomorrha", von dem allein in Italien fast eine Million Exemplare verkauft wurden. Der Titel ist etwas irreführend, denn auf eine Anreise in dieses Reich der Gewalt und der Extraprofite konnte der Autor verzichten: Aufgewachsen ist er in Casal di Principe, einem Vorort von Neapel, wo 44% der EinwohnerInnen wegen mafiöser Verstrickungen vorbestraft sein sollen. Schon lange kann er sich dort nicht mehr blicken lassen. Als Nestbeschmutzer und Verräter geächtet, lebt er im Untergrund und wird rund um die Uhr von zwei Leibwächtern geschützt. Was er über die Geschäfte der Clans in Neapel und Umgebung zusammengetragen hat, ist nur in einer Hinsicht neu: Er schildert zu einem großen Teil Dinge, die er selbst gesehen hat. Dabei entsteht das Bild eines komplexen und - verglichen mit der sizilianischen Cosa Nostra - modernen internationalen Unternehmens. Die opferreichen internen Kriege der einzelnen Clans schwächen das große Ganze nur vorübergehend. Nach wie vor verfügen die Bosse auch über gute Beziehungen zur Politik, und immer noch gehören der Drogenhandel und das Baugewerbe zu den einträglichsten Branchen. Hinzugekommen ist das Geschäft mit dem Müll, dessen Prinzip allgemein bekannt ist: Für nur ein Viertel des üblichen Preises übernimmt die Camorra den Müll aus Städten und Kommunen des Nordens - und lässt selbst hochgiftige Abfälle in die Landschaft kippen. Dass sich dagegen Widerstand formiert, ist zweifellos ein gutes Zeichen. An Nachwuchsmangel werden die Clans dennoch nicht zugrunde gehen. Denn nach wie vor erscheint vielen Jugendlichen das Leben als Camorrista, so kurz es meist auch sein mag, als einziger Weg zu Geld und Ansehen. So gesehen ist Savianos Buch deprimierend realistisch - eine dokumentarische Ergänzung zu Nanni Balestrinis "Sandokan" (vgl. ak 513) über den Camorra-Boss Francesco Schiavone aus Savianos Heimatort Casal di Principe.
Js.
Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Carl Hanser Verlag, München 2007, 367 Seiten, 21,50 EUR
Der Gipfel der Repression
Falschmeldungen über Clowns, die Polizeibeamte mit Säure attackieren; Tornadoflüge über Heiligendamm; Käfighaltung von DemonstrantInnen; Agents Provocateurs, die Blockierende zum Steinewerfen animieren wollen: Lang ist die Liste von polizeilichen Grundrechtseinschränkungen, gezielter Desinformation der Öffentlichkeit und Repressionsmaßnahmen, die beim diesjährigen G8-Gipfel in Heiligendamm zum Einsatz kamen. Einer im November erschienenen Broschüre der Roten Hilfe mit dem Titel "Von Armeeeinsatz bis Zensur. Ein ABC der Repression" kommt nun das Verdienst zu, diese Maßnahmen ausführlich zu dokumentieren und den Ausbau des staatlichen Repressionsapparats zu analysieren. Dabei werden vier Stränge in der Entwicklung unterschieden: Zum einen geht es um den Versuch, die Trennung zwischen Polizei, Justiz und Geheimdiensten tendenziell aufzuheben. Die immer massivere Einschränkung individueller Grundrechte, die sich beispielsweise in der massenhaften Anwendung des präventiven Unterbindungsgewahrsams und den Demonstrationsverboten zeigte, ist ein weiterer Punkt. Als dritter Strang wird der Ausbau der staatlichen Überwachungsmaschinerie genannt, deren Datensammelwut in der Entnahme von Geruchsproben und Briefkontrollen im Vorfeld des Gipfels ihren prägnantesten Ausdruck fand. Der Einsatz des Militärs im Inneren, der während des Gipfels neben Panzerspähwagen und Tornados auch 2.100 BundeswehrsoldatInnen umfasste, ist ein vierter Aspekt der Entwicklung. Die Broschüre ist in fünf Abschnitte gegliedert und enthält neben Analysen Interviews mit RechtsanwältInnen und Betroffenen, Augenzeugenberichte und eine Chronologie der Ereignisse. Angesichts der bevorstehenden Prozesslawine von ca. 3.000 Strafverfahren findet sich am Schluss der Aufruf, den Gipfelprotest noch nicht für abgeschlossen zu erklären, sondern die Betroffenen aktiv zu unterstützen.
dt
Rote Hilfe e.V.: Der G8 2007 in Heiligendamm. Von Armeeeinsatz bis Zensur. Ein ABC der Repression, Göttingen 2007, 72 Seiten, 3 EUR, literaturvertrieb@rote-hilfe.de
G8-Proteste auf DVD
Während der Proteste, Demonstrationen und Blockaden um Heiligendamm und Rostock versorgte die Videoplattform G8-TV eine breite Gegenöffentlichkeit mit aktuellen Berichten. Weltweit verfolgten Menschen die Live-Sendungen. Während der Protestwoche vom 2. bis 8. Juni 2007 konnte G8-TV etwa 40.000 BesucherInnen pro Tag verzeichnen. Bereits im Vorfeld der Proteste gegen den G8-Gipfel hatte sich das deutschsprachige Netzwerk Videoaktivismus, bestehend aus Einzelpersonen und Videokollektiven, den Aufbau einer Videoplattform als temporären Schwerpunkt gesetzt. Die so entstandene Internetplattform G8-TV (http://g8-tv.org/) wurde von VideoaktivistInnen aus der ganzen Welt genutzt, die an die Ostsee gekommen waren, um von den Protesten zu berichten. So wurden Themen und Positionen ins Licht gerückt, denen sonst in Massenmedien kein Platz eingeräumt wird. Die Videoclips sind nun als Doppel-DVD erschienen. Sie enthält eine Auswahl der Clips in DVD-Qualität sowie eine Daten-DVD mit der gesamten Clipsammlung von G8-TV in etwas geringerer Auflösung. Die Videos sind in bis zu sieben Sprachen.
Bei Bestellung einer Doppel-DVD wird eine Spende von mindestens 8 EUR empfohlen (die Versandkosten betragen 2 EUR). Spenden bitte als Bargeld und Briefmarken im Briefumschlag mit Angabe einer Versandadresse an: Netzwerk Videoaktivismus, Postfach 1925, 49009 Osnabrück oder per Überweisung an Netzwerk Selbsthilfe e.V., Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 10020500, Konto-Nr. 3029803, Stichwort: indymedia - videoactivists
Von Lemberg nach Lwiw
Leopolis, Lemberg, Lwów, Lwiw, Lemberik - es gibt mehrere Namen für die Stadt, die heute Lwiw heißt und nahe der polnischen Grenze in der Ukraine liegt. Lemberg hieß sie, als sie zum österreichischen Großreich gehörte; zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war Lwów polnisch, dann sowjetisch. In dem Band "Lemberg. Eine Reise nach Europa" wird der Wandel dieser Stadt nachvollziehbar. Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt für Kaffeehauskultur und Freizügigkeit, war Lemberg zugleich ein Zentrum der Wissenschaft; in der Mathematik war man dort wegweisend mit der Entwicklung der Logik, der Mengenlehre, der Funktionsanalyse; in der Medizin mit der Bekämpfung von Viruserkrankungen wie Typhus, Tuberkulose und Syphilis; in der Kunst mit der Entwicklung moderner bildender Kunst, Rundfunk und Literatur. Lemberg war auch ein Zentrum des Judentums; bis 1941 existierten vor Ort 45 Synagogen und Bethäuser. Immer wieder ist die vom Nationalsozialismus verursachte mörderische Zäsur Thema. In dem Buch kommen AutorInnen aus der Ukraine, Polen, Österreich und Deutschland zu Wort, darunter auch Joseph Roth und Alfred Döblin. Lesenswert ist auch das Kapitel über weibliche Prostitution und die Migration junger Frauen nach Amerika. Das heutige Lwiw ist so etwas wie ein Schmelztiegel, unterschiedliche Kulturen und Nationalitäten mussten sich arrangieren. Darin liegt mitunter ein Antrieb für Erfolge und Zusammenarbeit auf so vielen Gebieten, es gib aber auch Konflikte bis hin zu Ausgrenzung und Vertreibung. Heute ist Lwiw eine moderne Stadt der Brüche und Neuorientierungen, eine Stadt der "verwischten Grenzen" - ein interessanter und geschichtsträchtiger Ort.
Raphaela Kula
Hermann Simon, Irene Stratenwerth, Ronald Hinrichs (Hg.): Lemberg. Eine Reise nach Europa. Ch. Links Verlag, Berlin 2007, 254 Seiten, 19,90 EUR