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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 523 / 14.12.2007

Von Selbstkritik keine Spur

Die Grünen auf der Suche nach der "neuen Gerechtigkeit"

Zwei Monate nachdem die Grünen auf ihrem Afghanistan-Parteitag vorsichtig auf Distanz zur Außenpolitik von Joschka Fischer gegangen waren (vgl. ak 521), stand nun das Soziale auf der Tagesordnung. "Grundsicherung für Bedürftige" oder "bedingungsloses Grundeinkommen", so lautete die Alternative auf der Bundesdelegiertenkonferenz, die vom 23. bis 25. November in Nürnberg tagte. Der Bundesvorstand, der für eine "Grundsicherung" eintrat, hatte sich zuvor der einhelligen Unterstützung der ersten und eines großen Teils der zweite Reihe der Partei versichert. Erwartungsgemäß setzte er sich mit 432 zu 296 Stimmen durch.

Trübsal war bei den Unterlegenen gleichwohl nicht angesagt, denn inhaltlich waren sich beide Seiten sehr nahe gekommen. Auch das gewünschte Signal kam in der Öffentlichkeit an: die Grünen verabschieden sich von Hartz IV. Die Leistungen sollen nach beiden Modellen bei 420 EUR zuzüglich bedarfsorientierter Zuschläge liegen. Die Grundeinkommensseite beschränkte sich auf ein modulares Grundeinkommen, das die Sozialversicherungssysteme nicht ersetzen soll. Dagegen nahm die Grundsicherungsseite verbal Abschied vom "Fördern und Fordern" und wollte auf Sanktionen gegen Arbeitslose weitgehend "verzichten" - ein Änderungsantrag der nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Barbara Steffens, der auf eine Sanktionslosigkeit der Grundsicherungsleistungen zielte, verfehlte die Mehrheit nur um sieben Stimmen. Einig waren sich beide Seiten auch in der Bedeutung der sozialen Infrastruktur, die kräftig ausgebaut werden soll.

Die Folgen der Agenda 2010 waren kein Thema

Der Grund für die Einigkeit lag in der Beschränkung der Debatte. Zwei Fragen wurden ausgeblendet. Erstens die Frage nach den Ursachen der Armut. Beide Seiten beschränkten sich auf Therapievorschläge wie: "mehr Bildung - durch eine Schule für alle"; "mehr Gesundheitsvorsorge - schon wegen der vielen dicken Kinder"; "mehr Kindergärten - wegen des Armutsrisikos Kind" und "weniger Lohnnebenkosten - vor allem für niedrige Einkommen". Die Ursachen von Armut sind in dieser Sichtweise individuell, man sucht sie bei den Armen selbst: "Zu dumm, zu krank, zu unflexibel und zu teuer"- gesellschaftliche Ursachen spielen in dieser Sichtweise keine Rolle. Die Prekarisierung der Arbeitswelt, von Rot-Grün mit der Agenda 2010 tatkräftig vorangetrieben, war kein Thema. Rot-Grün hatte mit dem "Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (Hartz I) den Staat durch die Einführung der "Personal-Service-Agenturen" selbst zum Leiharbeitgeber machen wollen, der die Arbeitslosen an Betriebe ausleiht. Den Unternehmen wurde die Leiharbeit in besonderer Weise schmackhaft gemacht: So wurde das Verbot der zeitlichen Befristung der Entleihe eines Arbeiters ebenso aufgehoben wie das sogenannte Synchronisierungsverbot. Damit kann nun ein Leiharbeitsverhältnis für ein einmaliges Verleihen begründet werden. Die Folge: Der heutige Anstieg der Beschäftigung geht zurück auf einen Trend zur Tagelöhnerei; jeder vierte neue Arbeitsplatz ist ein Job als Leiharbeiter, und die Zeitarbeitsbranche feiert 30-prozentige Wachstumsraten. Kurz gesagt: In Nürnberg blieb weitgehend ausgeblendet, dass die Armut von heute auch mit der grünen Politik von gestern zu tun hat.

Diese Beschränkung der Debatte in Nürnberg war kein Produkt einer Parteitagsregie, sondern freiwillig: Die einen, vornehmlich auf der Seite der Grundsicherung, finden die Arbeitsmarktpolitik der Agenda 2010 nach wie vor richtig; die anderen, vornehmlich auf der Seite des Grundeinkommens, interessieren sich für solche Fragen gar nicht. Für sie stirbt die Lohnarbeit sowieso aus, und die Armen treibt eine irgendwie nicht nachvollziehbare "einseitige Wertschätzung von Erwerbsarbeit" (Zitat aus dem Antrag "Grundeinkommen") in die Fabriken und Büros.

Die Gründe der Armut sehen die Grünen bei den Armen

Die zweite ausgeblendete Frage war die der Finanzierung, also der "Machbarkeit". Ging es mit der Agenda 2010 um die Verbilligung der Arbeitskraft im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, weil der Sozialstaat einfach nicht mehr "finanzierbar" sei, so spielte Geld in Nürnberg keine Rolle. Fast keine Rolle, denn die AnhängerInnen des Grundeinkommens sorgten für eine besondere Pointe, als sie der Grundsicherungsseite vorrechneten, eine Grundsicherung in Höhe von 420 EUR sei nicht finanzierbar ohne den Abbau der Sozialbürokratie, der aber wiederum nur mit dem Grundeinkommen zu haben sei. Nach einer Anhebung der Grundsicherung auf 420 EUR hätte jeder zweite 4-Personen-Haushalt in Baden-Württemberg Anspruch auf Leistungen - damit "kollabiere" die Sozialbürokratie.

Im Jahr 2002, als die Grünen an der Regierung und die Mittel knapper waren, schrieb die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, Thea Dückert: "Die Politik muss sich entscheiden: Will sie strukturelle Verbesserungen in den Mittelpunkt stellen oder die Lebensstandardsicherung ehemaliger Arbeitslosengeld-BezieherInnen? Es spricht vieles dafür, die erste Alternative zu wählen." ( Hartz IV - Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen - 08/2004 Seite 12) Sollte die grüne Politik irgendwann wieder einmal vor der gleichen Entscheidung stehen, wird sich zeigen, wie weit die demonstrative Einigkeit von Nürnberg reicht: Soll man nicht doch lieber in die soziale Infrastruktur investieren, statt das Geld den armen Prekarisierten zu geben? Letzteren bliebe dann immerhin der Trost, den der baden-württembergische Grundeinkommensantrag spendete: Vielleicht werden dann "andere Werte als Geld und Konsum an Gewicht gewinnen."

Wilhelm Achelpöhler