Kein neues 1995
Das - vorläufige? - Ende der französischen Eisenbahnerstreiks
Selten sah sich ein Streik in Teilen der französischen Gesellschaft einem so heftigen Gegenwind ausgesetzt. Das Meinungsklima war nicht sonderlich günstig für die französischen EisenbahnerInnen, die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe (RATP), der Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF sowie der Theater und Opernhäuser, die ab Mitte November im Ausstand waren. Trotzdem konnte sich der Streik neun Tage lang gut behaupten. Begonnen am 14. November als "unbefristeter Ausstand", wurde er an den meisten Orten am 22. oder 23. November beendet. Vorläufig. Nach dem unbefriedigenden Verlauf der Verhandlungen denken fünf von acht Eisenbahnergewerkschaften über eine Wiederaufnahme der Streiks noch im Dezember nach.
Es war bemerkenswert, dass wochenlang die EisenbahnerInnen in zwei Kernländern der EU - Frankreich und Deutschland - parallel zueinander im Streik für ihre Interessen standen. Sicher, sie hatten ihre Anstrengungen nicht miteinander koordiniert, und auch der Gegenstand des jeweiligen Arbeitskampfs war ein anderer. Ging es in Deutschland um die Löhne der Lokführer und um einen eigenständigen Tarifvertrag für ihre Berufsgruppengewerkschaft GDL, so drehte sich die Auseinandersetzung in Frankreich um die Renten der EisenbahnerInnen sowie der Beschäftigten in einigen anderen öffentlichen Unternehmen. Der deutsche Konflikt wäre im Übrigen nicht auf Frankreich übertragbar, da hier seit Jahrzehnten in jeder Branche mehrere Gewerkschaften miteinander wetteifern, von denen eine jede "tariffähig" ist. Bestehen konkurrierende Regelungen, so finden in der Regel die aus Sicht der abhängig Beschäftigten günstigsten auf ihre Situation Anwendung.
Medien schüren Sozialneid gegen "Privilegierte"
Die Kritik an den Streiks der französischen EisenbahnerInnen hatte ihre Gründe: Diese abhängig Beschäftigten kämpfen gegen die Abschaffung ihrer "Régimes spéciaux", d.h. ihrer Rentenregelungen, die von den allgemeinen Pensionierungsregeln abweichen. Die konservative Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy und seinem Premierminister François Fillon will die Lebensarbeitszeit nun auch für diese Beschäftigten verlängern.
Normalerweise können die TeilnehmerInnen an einem solchen Arbeitskampf mit Verständnis, Sympathie, ja Unterstützung rechnen. So war es auch anlässlich der großen Streikwelle in den öffentlichen Diensten im Spätherbst 1995: Damals unterstützten zwei Drittel der befragten Französinnen und Franzosen den Ausstand über die Wochen hinweg, obwohl einen Monat lang fast kein Zug und in Paris keine einzige Metro verkehrte. Zu jener Zeit wurde der Ausdruck "grève par procuration" erfunden, also des "Streiks auf Vollmacht": Die darin enthaltene Idee lautet, dass breite Teile der Gesellschaft den damaligen Streik der öffentlich Bediensteten unterstützten, weil sie wussten, dass er zur Abwehr der geplanten allgemeinen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen beitrug. Dabei nahmen die Beschäftigten in der Privatwirtschaft, die es auf Grund des über ihren Köpfen hängenden "Damoklesschwerts" der Drohung mit dem Arbeitsplatzverlust - im Vergleich mit den öffentlich Bediensteten - schwerer haben zu streiken, vorübergehend auch gern ein paar Einschränkungen in Kauf.
Dieses Mal war es ein wenig anders. Ursächlich dafür ist die Tatsache, dass die regierenden Konservativen für die Mehrzahl der abhängig Beschäftigten schon in jüngerer Vergangenheit erhebliche Verschlechterungen bei der Rente sowie die Ausdehnung der Lebensarbeitszeit durchgesetzt hatten. Im Hochsommer 1993 setzte die Regierung von Edouard Balladur die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre zur Rentenkasse für die Beschäftigten der Privatwirtschaft von zuvor 37,5 auf 40 hoch. 2003, wiederum im Hochsommer - und nach vorausgehenden zweimonatigen Protestdemonstrationen von bis zu zwei Millionen Menschen -, ließ das Kabinett von Jean-Pierre Raffarin die Anhebung der Beitragsdauer auch für das Gros der öffentlich Bediensteten auf 40 Jahre durchsetzen.
Die damalige "Reform" enthielt aber auch noch weitere Verschlechterungen für die Zukunft. So soll ab 2008 die Anzahl der geforderten Beitragsjahre auf 41 Jahre und in den kommenden Jahren bis auf 42,5 Jahre angehoben werden wird. Wer eine solche Beitragsdauer nicht aufweisen kann - und das sind auf Grund der heutigen Länge der Schul- und Ausbildungszeiten sowie Perioden der Arbeitssuche immer mehr Menschen -, muss dafür Abzüge bei der Rente hinnehmen. Verarmung im Alter bedroht daher immer mehr Menschen, und private Zusatzversicherungen wittern längst ein Riesengeschäft.
Diese Verschlechterungen setzten die Regierenden aber nicht für alle abhängig Beschäftigten auf einmal durch, sondern scheibchenweise. Erst waren die privat Beschäftigten dran, dann die öffentlich Bediensteten. Nun kommen als Letzte die MitarbeiterInnen öffentlicher Unternehmen, die historisch bedingte Spezialregelungen aufwiesen wie die französische Bahn (SNCF), an die Reihe. Die Abwehrkämpfe sollten dadurch voneinander isoliert werden. Zudem entfalteten das Regierungslager und einige Medien - darunter solche mit dominierender Stellung - eine regelrechte Propaganda, um die EisenbahnerInnen und die anderen betroffenen Gruppen als Nutznießer "überkommener und ungerechtfertigter Privilegien" hinzustellen. Dadurch wurde der Sozialneid unter den Beschäftigten geschürt. In Wirklichkeit konnten die EisenbahnerInnen zwar bislang früher in Rente gehen (meist ab 55). Sie zahlen aber auch höhere Beiträge - 40 Prozent ihres Gehalts statt durchschnittlich 26 Prozent für andere Beschäftigte - und beziehen im Schnitt um neun Prozent niedrigere Pensionen.
Rentenreform rückwärts und scheibchenweise
Die unterschiedlichen Gewerkschaften, die am Streik beteiligten waren - bei den EisenbahnerInnen vor allem die CGT, SUD (Solidaires, Unitaires, Démocratiques) und FO (Force Ouvrière) - und die Vollversammlungen, in denen die Beschäftigten alle 24 Stunden nach Aussprache über Fortführung oder Abbruch des Arbeitskampfs vor Ort entschieden, ergänzten sich auf sinnvolle Weise. Beendet wurde der Ausstand, nachdem für einen Monat angesetzte "tripartistische" Verhandlungen in den betroffenen Unternehmen - bei der Bahngesellschaft SNCF, den Pariser Verkehrsbetrieben, den Energieversorgern - eröffnet worden waren. Dass die Vertreter der Regierung und der jeweiligen Direktion auf die Anhebung der Beitragsdauer für die Rentenberechtigung verzichten würden, erscheint dabei nahezu ausgeschlossen: Seit der Wahl Sarkozys zum Präsidenten hat das konservative Lager daraus ein Symbol seiner "Fähigkeit zur Durchsetzung von Reformen" gemacht.
Allerdings zeichnet sich ab, dass die betroffenen Beschäftigten Kompensationen erhalten, die de facto dafür sorgen sollen, dass zumindest eine Reihe von Jahrgängen die Strafbeträge und drohenden Abzüge bei den Renten auf Grund fehlender Beitragsjahre nicht oder kaum spüren. So beziehen etwa die EisenbahnerInnen einen Gutteil ihres Gehalts in Form von Zuschlägen für Nacht-, Wochenend- und Feiertagsarbeit. Diese Lohnzuschläge werden aber bisher nicht in die Berechnung der Rente einbezogen, weshalb letztere in der Regel auch relativ niedrig ausfällt. Nun ist die Rede davon, diese Kalkulation auf eine neue Grundlage zu stellen und auch einen Teil dieser Gehaltsbestandteile mit einzurechnen. Zudem ist von einer leichten Anhebung des Grundlohns die Rede.
In den nächsten zehn oder zwölf Jahren würde sich damit de facto für die künftigen RentnerInnen nicht sehr viel ändern, auch wenn ihnen theoretisch Beitragsjahre fehlen. Aber die heute jüngeren Beschäftigten dürften dennoch die Auswirkungen der heutigen "Reform" schmerzhaft spüren, sollte es auf einen solchen Kompromiss hinauslaufen.
Für den Fall, dass bei den Verhandlungen keine aus Beschäftigtensicht halbwegs tragfähigen Vereinbarungen herauskommen, drohen mehrere Gewerkschaften mit einer Wiederaufnahme der Streiks nach den Weihnachtsferien.
Bei Redaktionsschluss dieser ak-Ausgabe waren die Verhandlungen bei der Eisenbahngesellschaft laut ersten Presseberichten relativ weit fortgeschritten, vor allem zwischen den Gewerkschaften und der Direktion des Unternehmens, während die unnachgiebige Haltung der Regierungsvertreter (der dritten Partei am Verhandlungstisch) zur Frage der Lebensarbeitszeit ein weiteres Vorankommen blockierte. Hingegen waren bei der RATP mehrere Gewerkschaften ausgezogen und hatten den Verhandlungstisch verlassen. Bei den Energieversorgern drohten die Gewerkschaften sogar mit einer Wiederaufnahme des Arbeitskampfs, da sich keinerlei halbwegs tragfähiges Verhandlungsergebnis abzeichnete.
Eine neue Dynamik der Organisierung von unten
Positiv ist in der Bilanz des jetzt - vorläufig? - beendeten Eisenbahnerstreiks hervorzuheben, dass es eine echte Dynamik der Basisbeteiligung und der Abstimmung in Vollversammlungen gegeben hat. Tatsächlich waren die Gewerkschaftsapparate eine Woche lang - bis der Ausstand auf der Kippe zu stehen kam - nicht "Herren der Lage", auch wenn ihnen dies eine Zeit lang selbst zupass kam, um nicht öffentlich in Verantwortung für die Entscheidung zum Fortgang des Streiks gezogen werden zu können.
Laut Angaben der linken Basisgewerkschaft SUD Rail, die mit 15 Prozent bei der Eisenbahn die zweistärkste Gewerkschaft ist und die Entwicklung von Selbstorganisierung und Selbstbestimmung im Streik stark anschob, haben 20.000 Bahnbeschäftigte tagtäglich an den rund 200 Vollversammlungen in ganz Frankreich teilgenommen. Das Unternehmen SNCF hat insgesamt rund 160.000 Beschäftigte, von denen auf dem Höhepunkt mehr als die Hälfte im Streik war, in der Schlussphase immerhin noch ein gutes Viertel. Gegen Ende der Streikbewegung nahm die Teilnahme an diesen Basisversammlungen, in denen jeweils für ein Bahndepot oder einen Bahnhof über die Fortführung oder Beendigung des Arbeitskampfs abgestimmt wurde, sogar noch zu. Während ein Teil der Beschäftigten, vorübergehend etwa aus finanziellen Gründen oder auch auf Dauer, die Arbeit wieder aufnahm, wurde ein anderer Teil - im Rahmen einer gewissen Polarisierung - dadurch zur Übernahme von mehr Selbstverantwortung im Streik getrieben.
Auf lokaler Ebene fällt das Bild allerdings unterschiedlich aus. Mancherorts waren die Vollversammlungen eher davon geprägt, dass die VertreterInnen der unterschiedlichen Gewerkschaften ihre jeweiligen Erklärungen verlasen, die Redeliste abgearbeitet wurde und danach alle TeilnehmerInnen ihrer Wege gingen. Andernorts hingegen kam eine reale kollektive Dynamik zu Stande. Im Bahndepot von Melun, östlich von Paris, wo SUD Rail stark verankert ist, wurden etwa die Örtlichkeiten dauerhaft besetzt. Auch nach dem Ende der Redebeiträge und der Abstimmung blieben die Leute zusammen. Die Beschäftigten veranstalteten ein Kulturprogramm, neue Liebesbeziehungen wurden geknüpft, Tag und Nacht brannten neben den Streikposten Ölfeuer in gelben Fässern. In Melun fiel es den Beschäftigten laut vorliegenden Berichten verdammt schwer, die Arbeit wieder aufzunehmen. Das Ende des Streiks erfolgte hier nicht ohne Tränen.
An den Universitäten (siehe nebenstehenden Artikel) sah es in den ersten Dezembertagen noch anders aus. Auch nach dem Ende des Arbeitskampfs in der Transportmittelbranche blieb die Mobilisierung an den Universitäten erhalten. Allerdings ist damit zu rechnen, dass die studentische Bewegung infolge des Fortfalls der Eisenbahnerstreiks und mangels ökonomischer Auswirkungen ihres Ausstands nicht mehr viel wird reißen können.
Bernhard Schmid, Paris