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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 524 / 18.1.2008

Recht auf Bedürfnisbefriedigung - durch wen?

Recht auf Bedürfnisbefriedigung - durch wen?

Globale soziale Rechte und alternative Lebensformen

Welche Bedeutung hat die Frage, wer wen liebt und was diese Liebe bedeutet, für Kämpfe um globale soziale Rechte? Wie hängt die Frage, wer mit wem zusammenwohnen möchte und wie man Kinder am besten aufzieht, mit der Frage nach Rechten zusammen, auf die alle Menschen einen Anspruch haben? Wenn wir darauf bestehen, dass jedeR denselben Anspruch hat, bestimmte Bedürfnisse selbstbestimmt und genussvoll befriedigen zu dürfen, müssen wir auch über die Formen sprechen, in denen diese Bedürfnisbefriedigung organisiert ist und sein kann. (1)

1) Der Begriff der globalen sozialen Rechten (GSR) verweist auf einen notwendigen weltweiten Bezug sozialer Kämpfe aufeinander und kann zugleich nur in lokalen Auseinandersetzungen mit konkreter Bedeutung gefüllt werden. Gemeint ist mit ihm eine Perspektive, die allen Menschen weltweit ein Leben in Würde und Selbstbestimmung ermöglicht. In diesem Sinne artikulieren sich Aktivitäten unterschiedlichster Gruppen als Kämpfe für GSR. Die Palette reicht von den im die Via Campesina herum organisierten Kämpfe für "Ernährungssouveränität", womit das Recht aller Völker/Regionen auf gesunde und kulturell angepasste Nahrung gemeint ist (2), über das Netzwerk Kein Mensch ist illegal, das durch kulturelle Interventionen Rechte und bessere Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten für hier lebende illegalisierte Menschen einfordert, bis hin zu Gewerkschaften, die realisieren (müssen), dass aufgrund transnationaler Unternehmensstrukturen selbst klassische Auseinandersetzungen um betriebliche Sozialstandards nur noch auf globaler Ebene zu führen sind.

2) Wenn man solch unterschiedliche politische Ansätze unter einem einheitlichen Label wie globale soziale Rechte zusammenfassend diskutiert, bedeutet dies nicht, dass zwischen ihnen eine politische Einheit oder Formen des solidarischen Miteinanders oder auch nur gegenseitigen Verstehens existieren. Welche Erfahrungen und Weltauffassungen der indische Kleinbauer, der sich im Rahmen von Via Campesina gegen die patentrechtliche Enteignung seines Saatguts sowie gegen internationale Handelsabkommen wehrt, tatsächlich mit der lateinamerikanischen Sexarbeiterin teilt, die in Deutschland lebt und arbeitet, ist eine offene Frage. Der Begriff der GSR stellt daher vor allem eine Vermittlungskategorie dar, die auf unterschiedlichen Ebenen (Selbst-)Verständigungsprozesse voranbringen kann. Im besten Falle eröffnet sie den Raum für Diskussionen über die Grenzen der unterschiedlichen Bewegungen und Lebenssituationen hinweg. Dabei ist das offene Austragen von Konflikten untereinander und ein dauerhaftes Bewusstsein für gegensätzliche Interessen Voraussetzung für solidarische Politikformen.

Fördern "globale soziale Rechte" Kommunikation?

3) Dass in den unterschiedlichen Bewegungen derselbe Begriff benutzt wird, verweist zugleich auf einige gemeinsame Weltauffassungen und politische Perspektiven, die vielleicht Ausgangspunkt für solidarisches Handeln oder zumindest Verständigungsprozesse sein können. Wer von globalen sozialen Rechten spricht, bezieht sich positiv auf ein staatsähnliches Gebilde, in jedem Falle auf eine Instanz, die fähig ist, Rechte zu garantieren. Man kann dies als utopisches Moment globaler sozialer Rechte lesen (in dem Sinne, dass eine Weltgesellschaft mit Regulierungsinstanzen für möglich gehalten wird, die allen Menschen gleiche Lebensqualität ermöglichen) oder auch als bedauernswerte realpolitische Beschränkung der Vorstellungen von einer befreiten Gesellschaft - schließlich sollten in dieser alle Menschen gemeinsam mit anderen die Verfügung über ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Damit müsste jede Instanz überflüssig sein, die Rechte gibt und also auch nehmen kann. Auf diese Dialektik ist Alex Demirovic in seinem Beitrag zum Kritischen Bewegungsdiskurs näher eingegangen (3).

In jedem Falle greifen Diskussionen über GSR in die Positionierung politischer Bewegungen zum Staat ein. Sie versuchen, diese in Bewegung zu bringen, fern von einer simplen Ablehnung staatlichen Handelns als Herrschaftsinstrument, aber auch fern von einer Politik, die staatliche Macht als einzige Gesellschaft gestaltende Kraft wahrnimmt und sie in diesem Sinne immer wieder affirmativ bestätigt.

Die Utopie, dass weltweit allen Menschen ein gleicher Zugang zu Ressourcen und Selbstbestimmung ermöglicht wird, wird innerhalb der Form bürgerlichen Rechts artikuliert. Über deren bisherige Grenzen wird aber zugleich explizit hinausgegangen. Dies geschieht, indem die Durchsetzung sozialer Rechte vor allem als lokale Aneignungspraxis gedacht. In diesem Sinne fragen gegenwärtige Debatten über GSR nach den konkreten Bedingungen, unter denen Menschen leben und in denen sie sich bestimmte Lebensqualitäten und Ressourcen aneignen - unabhängig davon, ob die aktuelle staatliche Regulierung ihnen diese zugesteht oder nicht. Gesucht wird zugleich nach den Möglichkeiten, wie diese Alltagspraxen mit dem Anspruch auf gesellschaftliche Voraussetzungen verknüpft werden können, die prinzipiell diese Aneignung jedem Menschen jederzeit ermöglicht. Dies wird als globale Angelegenheit artikuliert; damit werden die bisherigen nationalstaatlichen Grenzen als Geltungsbereich bürgerlichen Rechts überwunden.

4) Der Begriff der Lebensformen verweist heute im Alltagsverstand und in hegemonialen Diskursen auf die Frage, welche (Liebes-)Beziehungen Menschen leben, wie sie wohnen und ob und wie sie mit Kindern/Eltern/Verwandten zusammenleben. Auch die Frage, was als alternative Lebensform gilt, bestimmen hierzulande viele vor allem in Abgrenzung zur herkömmlichen Familie, in der Vater und Mutter miteinander Kinder aufziehen, die biologisch von ihnen abstammen, und in diesem Weise ein Leben lang zusammenbleiben.

Neoliberalismus brachte neue Lebensformen hervor

Die Sichtbarmachung entsprechender Alternativen ist immer noch notwendig, da dies enge Familienmodell, gegen die sie sich richten, nach wie vor Moralvorstellungen, Begehren und Körperpraxen prägt. Das Problem für eine emanzipatorische Politik ist allerdings, dass die genannten Dimensionen menschlichen Lebens (Liebe, Wohnen, Familie), die alle der Reproduktion des Menschen dienen, dabei i.d.R. von der Frage nach der Gestaltung an gesellschaftlichen Produktions- und Gestaltungsprozessen und der individuellen Beteiligung hieran abgetrennt werden. Eine alternative Politik der Lebensformen müsste diese Grenzen überwinden.

5) Die gegenwärtigen Diskussionen über globale soziale Rechte trägt von ihrer Grundstruktur her zu einer solchen Überwindung wenig bei. Das unter Punkt vier genannte hegemoniale Verständnis des Begriffs Lebensformen verweist auf etwas, was in zahlreichen linken Diskussionen und auch anderen politischen Ansätzen nicht oder nur am Rande thematisiert wird. Damit reproduzieren sie die im bürgerlichen Recht bzw. der bürgerlichen Gesellschaft angelegte Trennung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten. Diese Marginalisierung der Frage nach Lebensformen korrespondiert mit einer Marginalisierung von Geschlechterverhältnissen, deren Veränderung in den meisten politischen Kontexten als spezifisches Anliegen von Frauen(gruppen) auftaucht.

6) Die Durchsetzung neuer Produktionsformen, die Herabsetzung sozialer Standards und die Zunahme sozialer Ungleichheit korrespondierte mit der (teilweise gewaltförmigen, teils aktiv von unten vorangebrachten) Verbreitung neuer Alltagsgewohnheiten, sozialer Beziehungsformen in und außerhalb der Arbeit, neuer Körperkulturen, Subjektivitäten usw. Neue individuelle Freiheiten hinsichtlich der Wahl der Lebensformen zu ermöglichen (und auch in diesem Sinne Forderungen der Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre aufzunehmen), war und ist konstituierendes Moment neoliberaler Hegemonie, auch wenn diese Freiheit marktorientiert überformt wird (und insofern wenig zur gesellschaftlichen Emanzipation des Menschen beiträgt). Zwar überwiegt zurzeit der repressive Charakter neoliberaler Herrschaft gegenüber ihrem zustimmungsfähigen Moment. Dennoch wäre diese Herrschaft nicht durchsetzbar, wenn mit ihr nicht im hohen Maße Weltbilder im Alltagsverstand verankert worden wären, in dem jedeR Einzelne in erster Linie sich selbst für das Glück oder Leid und die soziale Situation, in der er/sie lebt, verantwortlich macht. Die neue Vielfalt der Lebensformen, die eine gewisse gesellschaftliche Anerkennung erfahren, war und ist ein wichtiges Moment der Durchsetzung solcher Weltbilder.

7) Jedes Verständnis von sozialen Rechten, das das Verhältnis zwischen öffentlich und privat und damit die Gestaltung hegemonialer Lebens- und Familienformen nicht als explizit politische Frage thematisiert, fällt - überspitzt formuliert - hinter dieses neoliberale Verständnis von individueller Freiheit zurück. Lebenswerte demokratisch gestaltete Lebensformen sind keine selbstverständliche Folge von Rechten innerhalb der Lohnarbeit oder dem Recht auf Grundeinkommen. Erst durch eine Verknüpfung von einer Politik der Lebensformen mit gesellschaftlichen Produktions- und Gestaltungsprozessen kann man über ein neoliberales Verständnis von individualisierter Freiheit hinausgehen.

8) Ein Nachdenken über das Verhältnis zwischen Lebensformen und globalen sozialen Rechten ist daher nur möglich, wenn man die Kritik an der historischen Verknüpfung zwischen sozialen Rechten, wie sie in der Vergangenheit existierten, und hierarchischen hegemonialen Geschlechterverhältnissen und hieran geknüpften Formen der Arbeitsteilung als Ausgangspunkt nimmt. Dabei geht es nicht nur darum, die unterschiedliche Verortung von Männern und Frauen in gesellschaftlichen Verhältnissen zu diskutieren. (Wenngleich es um diese auch geht: Auch in der Hochphase des fordistischen Wohlfahrtsstaat waren in den westlichen Industrieländern existenzsichernde Löhne und Renten für Frauen i.d.R. nicht zugänglich; Rechte auf körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit wurden durch gesetzlich festgeschriebene innerfamiliäre Machtverhältnisse beeinträchtigt.)

9) Vielmehr sind auch die Art und Weise, in welchen Begriffen wir Welt wahrnehmen, wie auch gesellschaftliche Strukturen und Subjektivitäten geschlechtlich überformt. Durch herrschaftliche Vorstellungen darüber, was es bedeutet, Mann und Frau zu sein, wird reguliert, wie die konkreten Formen, in denen die konkrete Befriedigung individueller menschlicher Bedürfnisse - auch dort, wo sie nicht effizient und profitabel zu gestalten ist - in gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozessen angeordnet sind. Dies drückt sich in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, hegemonialer Wissensproduktion, Kultur, Körperkulturen, Alltagsgewohnheiten usw. aus. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind gegenwärtige gewerkschaftliche Diskussionen, die in der Diskussion über Organisierung Arbeit nach wie vor ausschließlich als bezahlte Arbeit wahrnehmen. Die Organisation von unbezahlter Arbeit und damit der konkreten Reproduktionsverhältnisse bleibt unsichtbar.

Recht prägt Vorstellungen vom guten Leben

10) Die Einbeziehung der Frage nach Lebensformen und Geschlechterverhältnissen in eine Diskussion über globale soziale Rechte verschiebt also einige Überlegungen dazu, was (ein) Recht eigentlich ist. Recht legt niemals nur fest, worauf konkret jeder Mensch einen Anspruch haben soll. Recht gestaltet - im- oder explizit - immer auch die gesellschaftlichen und individuellen Vorstellungen von den erstrebenswerten Formen, in denen der Zugang zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse verwirklicht werden kann. Wer Rechte einfordert, nimmt Stellung zu normativen Setzungen und Auffassungen von einem guten Leben, die in Recht enthalten sind. Wo hierzu keine explizite Auseinandersetzung stattfindet, werden hegemoniale Vorstellungen gestärkt.

Bei einer entsprechenden genaueren Reflexion globaler sozialer Rechte sollten Erfahrungen und Standpunkte derer im Vordergrund stehen, die alltägliche Bedürfnisbefriedigung heute in prekären Verhältnissen bereits organisieren und absichern. Dass dies in überwiegender Mehrheit Frauen seien werden, verweist auf die Absurdität einer Diskussion über globale soziale Rechte, die über Auseinandersetzungen über Geschlechterverhältnisse selten spricht.

Iris Nowak

Anmerkungen:

1) In der letztjährigen Veranstaltungsreihe des Berliner Kritischen Bewegungsdiskurses wurde der Begriff der globalen sozialen Rechte (auch in seinem Verhältnis zu Menschenrechten) näher untersucht. Dieses Jahr werden sich die ReferentInnen mit der Frage auseinandersetzen, was heutzutage unter alternativen Lebensformen zu verstehen ist. Der Artikel dokumentiert eine überarbeitete Fassung des Thesenpapiers von Iris Nowak, die über den Zusammenhang beider Themen referierte. Ein- und weiterführende Texte, weitere Thesenpapiere sowie Veranstaltungsdaten finden sich unter www.bewegungsdiskurs.de .

2) Vgl. hierzu z.B. den Artikel von Gerhard Klas "Mit Ernährungssouveranität gegen westliche Agrarindustrie" in ak 518

3) Siehe seinen Artikel "Globale soziale Rechte und Menschenrechte - wohin führen sie?" in ak 523