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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 524 / 18.1.2008

Die "andere" amerikanische ArbeiterInnenklasse

Migration und Klassenkämpfe in den USA - eine Rezension

Der 1. Mai 2006 war ein besonderes Datum in der Geschichte der sozialen Bewegungen in den USA. Landesweit demonstrierten über drei Millionen MigrantInnen, blieben dem Unterricht fern oder verließen den Arbeitsplatz. Allein an der Demonstration von Papierlosen und ihren UnterstützerInnen in Los Angeles nahm über eine Million Menschen teil. Die Streik- und Demonstrationswelle richtete sich gegen die restriktiven Einwanderungsbestimmungen in den USA. In dem 2007 auf deutsch erschienenen Buch "Crossing the Border" zeichnen Mike Davis und Justin Akers Chacón die historischen Entwicklungslinien sowohl der Migration in den USA als auch der von den MigrantInnen geführten Kämpfe nach.

Der Einführungsbeitrag von Mike Davis beschäftigt sich vor allem mit der reaktionären und rassistischen Gewalt, die die Klassenkämpfe und Migrationsbewegungen in den USA seit Mitte des 19. Jahrhunderts begleitet. Schon Goldgräber im kalifornischen Goldrausch 1848-1850 übten als "Vigilanten" (1), d.h. als selbst ernannte "Wächter der weißen Vorherrschaft" Selbstjustiz gegen vermeintliche Konkurrenten aus Südamerika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde schließlich von Vigilanten und Organisationen wie dem Ku-Klux-Klan systematisch Gewalt gegen MigrantInnen ausgeübt, um sie zu vertreiben und/oder um ihre gewerkschaftliche Organisierung zu unterbinden. Im Gegensatz zur Lynchpraxis wurde der Vigilantismus auch von offizieller Seite - etwa von Präsident Roosevelt - begrüßt.

Neben EinwanderInnen aus Mexiko und Lateinamerika richteten sich die rassistischen Kampagnen vor allem gegen die Immigration von ChinesInnen und JapanerInnen. So kam es vor dem Hintergrund eines Bedrohungsszenarios von der "Gelben Gefahr" zwischen 1922 und 1923 zu einer regelrechten "Zerquetscht-den-Japsen"-Kampagne. Sie reichte von anti-japanischen Plakaten und Boykotten über Anspucken bis hin zu schwerer Körperverletzung. JapanerInnen sollten sich nicht als US-amerikanische BürgerInnen fühlten und aus "weißen" Nachbarschaften wegziehen. Den besonderen Hass der Vigilanten und ihrer Auftraggeber zogen sich die AktivistInnen der radikal-syndikalistischen Industrial Workers of the World (IWW) zu. Im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften wie der AFL (American Federation of Labor) war die IWW strikt internationalistisch und antimilitaristisch eingestellt. Sie hat People of Color als Mitglieder aufgenommen und ist rassistischen Spaltungsversuchen nach Hautfarbe oder Nationalität entschieden entgegen getreten. 1924 verwüstete der Ku-Klux-Klans - oftmals mit Duldung und Billigung der Polizei - Büros der IWW und versuchte, deren Mitglieder einzuschüchtern.

Drei Millionen protestieren gegen Einwanderungspolitik

Im zweiten und umfangreicheren Kapitel skizziert Justin Akers Chacón den Verlauf der Migration in die USA seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Zentrales Moment ist dabei das Bracero-Programm (2), das zwischen 1942 und 1964 den befristeten "Import" von 4,8 Millionen mexikanischen Arbeitskräften vorwiegend für den Einsatz in der US-amerikanischen Landwirtschaft vorsah. Die im Rahmen dieses Programms vereinbarten Arbeitsverträge definierten die mexikanischen ArbeiterInnen faktisch als rechtlose LohnarbeiterInnen, die verpflichtet wurden, nach der Beendigung der Ernte unverzüglich nach Mexiko zurückzukehren. Die Individualisierung der Verträge verhinderte zudem, dass die Bracero-ArbeiterInnen an gemeinsamen Tarifverhandlungen mit dem Rest der ArbeiterInnenklasse teilnehmen konnten. Mit verschiedenen restriktiven Maßnahmen wie der Einbehaltung von zehn Prozent der Löhne oder dem Verbot der Einreise von Ehefrauen und Familien versuchte die US-Regierung, die ArbeiterInnen zu einer Heimkehr nach Mexiko zu bewegen. Doch Braceros und Papierlose blieben entweder in den USA oder kehrten nach einem kurzen Aufenthalt in Mexiko wieder zurück. Nach dem Ende des Programms 1964 wurden die ehemaligen Braceros durchaus mit offenen Armen empfangen: Sie arbeiteten immer noch für Subsistenzlöhne, während die Regierung nun nicht mehr für Reisekosten, Unterkunft und Verpflegung aufkommen musste.

Über 4.000 Tote bei der "Operation Gatekeeper"

Chacón beschreibt anschließend die verheerenden Auswirkungen des 1994 in Kraft getretenen Freihandelsabkommens NAFTA auf die Lebenssituation vieler MexikanerInnen und zeichnet das nach, was er den "Krieg gegen die ImmigrantInnen" nennt. Insbesondere unter Präsident Clinton sind die Einwanderungsbestimmungen massiv verschärft worden. Das Gesetz "Operation Gatekeeper" gilt gar als die migrantInnenfeindlichste Maßnahme, die je von einer Bundesregierung durchgeführt wurde. So hat die damit einhergehende Militarisierung der Grenze in den vergangenen elf Jahren zum Tod von über 4.000 MigrantInnen geführt. Gleichzeitig hält der rassistische Diskurs gegen MexikanerInnen an. Konservative PolitikerInnen und paramilitärische Bürgerwehren wie die so genannten Minutemen (3) versuchen, die Migration in die USA noch stärker zu beschränken, nicht zuletzt mit der demagogischen Parole; papierlose MigrantInnen würden die Sozialkassen plündern und Arbeitsplätze vernichten. Dabei weisen die amtlichen Statistiken aus, dass eine Mehrheit von 75 Prozent der Illegalisierten in die Sozial- und Krankenversicherungen einzahlen, dass sie aber auf Grund ihres Status als Illegalisierte ihren Anspruch auf Leistungen nicht geltend machen können.

Davis und Chacón zeigen anhand vielfältiger historischer Beispiele, wie MigrantInnen gegen Einwanderungsverschärfungen, Ausbeutung und physische Gewalt Widerstand geleistet und sich organisiert haben. So wird deutlich, dass sie nicht bloß willenlose Opfer waren, sondern bedeutende Akteure der US-amerikanischen Geschichte. Problematisch ist allerdings eine gewisse ökonomistische Verkürzung in der Darstellung der Lynchpraxis weißer Südstaatler gegen African Americans. Davis führt diese Praxis vor allem auf die Angst vor den ökonomischen Emanzipationsbestrebungen von African Americans zurück. Die meisten HistorikerInnen des Lynchings gehen eher von der These aus, dass neben ökonomischen Erwägungen auch psychologische und politische Motive eine Rolle spielten und Lynchmorde nicht nur in ökonomischen Krisenzeiten begangen wurden.

"Crossing the Border" bleibt dennoch ein sehr lesenswertes Buch, da es ein lebendiges Bild der vielfältigen Organisationsbemühungen und der Kämpfe von MigrantInnen gegen Rassismus und Ausbeutung in den USA von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart vermittelt.

Philipp Dorestal

Justin Akers Chacón/Mike Davis: Crossing the Border. Migration und Klassenkampf in der US-amerikanischen Geschichte, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2007, 352 S., 20 Euro.

Anmerkungen:

1) Mit Vigilantismus werden in den USA Formen organisierter reaktionärer Gewalt an den Schnittstellen von Bürgerwehren, Mob oder von Kapitalisten und Großgrundbesitzern bezahlten paramilitärischen Schlägertruppen bezeichnet, die sich gegen Streiks, ArbeiterInnenorganisierung oder soziale Bewegungen allgemein richten.

2) vom spanischen "brazo" (= der Arm)

3) Ursprünglich war "Minutemen" die Selbstbezeichnung einer Guerilla-Gruppe im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England.