Stelldichein von Politik, Polizei und Industrie
Europäischer Polizeikongress: Ein Trendsetter im Bereich der Sicherheitspolitik
Im Jahr 2007 haben sich die Koordinaten der europäischen "Sicherheitsarchitektur" weiter verschoben. In der deutschen EU-Präsidentschaft und dem G8-Vorsitz ging Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit ambitionierten Vorhaben ins Rennen. Unter dem Motto "Innere Sicherheit, Migration, Integration" gelang es dem Bundesinnenministerium, weitreichende Veränderungen in der europäischen Innenpolitik zu forcieren. Wie sich das in der Praxis umsetzt, davon konnte man sich beim 11. Europäischen Polizeikongress in Berlin einen Eindruck verschaffen.
Gegen das Stelldichein europäischer Polizeiführer, Innenpolitiker, Angehöriger des Militärs und der Geheimdienste am 28./29. Januar hat es nach elf Jahren erstmals eine Kampagne und Proteste gegeben. Das Treffen wird finanziert von der Sicherheitsindustrie, "zwischen den Veranstaltungen bleibt genügend Zeit und Gelegenheit für intensive Kontakte zwischen Besuchern und Ausstellern".
"Gold Sponsors" sind die Rüstungsfirma EADS und der Software-Konzern SAP. "450 Millionen europäische Bürger haben das berechtigte Bedürfnis nach Sicherheit", so bewirbt EADS seine Produkte. Und ein Mitarbeiter des Bereichs "Innere Sicherheit" des Softwarekonzerns beschreibt das SAP-Engagement als einen "unternehmerischen Beitrag zur Stärkung der nationalen Interessen auf dem internationalen Markt".
Jener "Markt für Sicherheitsprodukte" ist beträchtlich: Allein in Deutschland wollen eine Million Feuerwehr-Angehörige, 280.000 Polizisten, 170.000 private Wachdienste mit neuen Systemlösungen versorgt werden. Vertreter der Sicherheitsindustrie nutzten deshalb den Kongress, um ihre Technologie zur Perfektionierung polizeilicher Überwachung zu präsentieren.
Einen Schwerpunkt bildete dabei die Biometrie mit Soft- und Hardware zur Gesichtserkennung, die Speicherung elektronischer Fingerabdrücke auf ID-Cards und Iris-Scanning. Zahlreiche Anbieter konkurrieren bei der Einführung von Kennzeichen-Lesesystemen, der Umsetzung von verschlüsseltem Digitalfunk, mobiler Telekommunikation oder der Implementierung von RFID-Chips.
Seit wenigen Jahren tut sich zudem ein neuer europäischer Markt für sogenannte Drohnen ("Unmanned Air Vehicles", UAV) auf. Drohnen werden bereits in Italien, Großbritannien, Frankreich und der Schweiz zur Überwachung von "Problemstadtteilen" und Grenzen eingesetzt. Die größte technische Herausforderung für die "Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben" scheint allerdings die Datensammlung und -verwaltung zu sein.
Lösungen für den Informationsoverkill
Der Kongress fungiert als eine Schnittstelle zwischen den verschiedenen Akteuren der "Europäischen Sicherheitsarchitektur". Neue Kontrollmaßnahmen werden verabredet, Gesetzesveränderungen der nächsten Jahre skizziert. Die wichtigste Rolle des Europäischen Polizeikongresses dürfte allerdings im Vermitteln bereits veränderter Rahmenbedingungen, neuer europäischer Institutionen und Technik bis in die untersten Gliederungen der Polizeibehörden bestehen.
Mehrere Referate von Behördenleitern und Herstellern beschäftigten sich mit Software zur Erhebung und Verwaltung von Daten, Schnittstellen zu europäischen Datenbanken und elektronischem Informationsaustausch unter Behörden. "Die größte Herausforderung in Zeiten des Information Overkill liegt nicht mehr in der Informationsgewinnung, sondern vielmehr in der Informationsauswertung", erklärte der Vizepräsident von EADS. So fallen mit der Einführung der Vorratsdatenspeicherung in den EU-Mitgliedsstaaten neue Daten an, in denen bisher nicht sinnvoll gesucht werden kann. Auch die Umsetzung des Schengen Informationssystems II (SIS II) verzögert sich, da die EU-Mitgliedsländer unterschiedliche Soft- und Hardware benutzen.
Trotz dieser technischen Probleme forderten in Berlin deutsche Politiker die Zusammenlegung aller europäischer polizeilichen Datenbanken nach Vorbild der deutschen Anti-Terror-Datei. Verschiedene Softwarefirmen bieten hierzu Programme an, mit denen in den Daten gesucht werden kann ("Semantische Technologien"). Inzwischen stellen die unterschiedlichen Dateiformate (Telekommunikationsüberwachung, GPS, Video, Webseiten) kein Hindernis beim Suchen nach Verknüpfungen mehr dar. Die Software findet Schlüsselwörter sowohl in Audio-, Text- als auch Video-Dateien.
Einer der Anbieter, die Firma SPSS, bietet sogar Software zur "Vorhersage von Straftaten" an. Hierfür wird ein Abgleich von "Attitudinal data" (Überzeugung, Vorlieben, Bedürfnisse, Bedürfnisbefriedigung) mit "behavioral data" (Ereignisse, Transaktionen, User-Verhalten) vorgenommen. SPSS bewirbt seine Software als eine "Evolution in der Verbrechensbekämpfung".
Den Polizeikongress nutzte Schäuble erneut als Forum, um die Online-Durchsuchung als unverzichtbar für die "Verbrechensbekämpfung" zu fordern. Klaus Jansen vom Bund deutscher Kriminalbeamter warnt zusammen mit den Vorsitzenden aller drei deutschen Polizeigewerkschaften vor einer "Entgrenzung des Verbrechens", die deutsche Polizei brauche dringend 4.000 "Internetfahnder": "Wir konkurrieren um Top-Leute auf Augenhöhe mit IBM und SAP". Angesichts dieser Äußerungen ist davon auszugehen, dass die Nutzung des Internets in Europa weiter reglementiert werden wird.
Seit Dezember 2007 sind die baltischen Staaten, Polen, Ungarn, Slowenien, die Slowakei, Tschechien und Malta dem Schengen-Vertrag beigetreten. Damit ergeben sich neue Aufgaben im Bereich der "Migrationsabwehr". Zwar fallen Kontrollen von Reisedokumenten weg, dafür wird an den neuen EU-Außengrenzen verstärkt observiert. Es sind gemeinsame Grenzüberwachungszentren mit neuer Technologie entstanden.
An der Grenze zur Ukraine werden z.B. Wärmebildkameras der Firma Zeiss und im Boden vergrabene Hochfrequenzkabel eingesetzt. Sie können den Wassergehalt eines Körpers analysieren und melden dies einer Leitstelle. Zudem werden Videoüberwachungssysteme von IBM getestet, die selbstständig bei bestimmten Mustern Alarm auslösen.
Auf dem Polizeikongress 2008 wurde erneut die Arbeit der "Grenzschutzagentur" Frontex ausgewertet. Frontex versorgt die beteiligten Grenztruppen mit regelmäßigen "Risikoanalysen" über zu erwartende Flüchtlingsströme und schlägt Interventionen vor. Hierfür unterhält Frontex ein "Risikoanalysezentrum" RAC, in dem Informationen nationaler Behörden zusammenlaufen. In Berlin kündigte Frontex-Direktor Ilkka Laitinen an, demnächst über ein "europaweites System der Ein- und Ausreise-Kontrolle" zu entscheiden.
Polizeikooperation über Grenzen hinweg
Ebenfalls im Dezember 2007 hat das Europäische Parlament die Umwandlung des "Europäschen Polizeiamts" in eine EU-Agentur beschlossen, eine weitreichende Veränderung. Bisher hatte Europol keine operativen Befugnisse, durfte keine Festnahmen oder Hausdurchsuchungen durchführen. Die bisher 500 Personen umfassende Truppe war aufs Datensammeln beschränkt, Datenbanken durften nur über Informationsersuchen abgefragt werden. Das "Einholen, Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Austauschen von Informationen und Erkenntnissen" wird nun die neue Kernaufgabe Europols. Gleichzeitig sollen nationale Polizeibehörden "durch Übermittlung aller sachdienlichen Informationen" unterstützt werden.
Die Behörde wird fortan grenzüberschreitende Ermittlungen und operative Maßnahmen koordinieren und organisieren. Die Liste von "Straftaten", die von Europol verfolgt werden dürfen, entgrenzt sich von "organisierter Kriminalität" auf "andere Arten schwerer Straftaten, die außerhalb der organisierten Kriminalität begangen werden". EU-Kommissar Franco Frattini kündigte unterdessen an, dass Europol Abkommen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit mit China und Israel schließen wird.
In einem Vortrag aus "Perspektive der Industrie" widmete sich der EADS-Vizepräsident ebenfalls der "Kooperation zwischen Militär und Polizei". Eine gewichtige Rolle in diesem Prozess kommt der Europäischen Gendarmerietruppe (EGF) im italienischen Vicenza zu, die bei den G8-Gipfeln 2002 und 2004 beschlossen wurde und deren Polizeiakademie von den G8 finanziert wird. Die EGF soll innerhalb von vier Wochen 3.000 Polizeikräfte zur "Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung in Drittstaaten", "Schutz von Eigentum" und "Bekämpfung von Unruhen" mobilisieren.
Die EU setzt mit der EGF zukünftig auf "zivile Einheiten" statt militärischer Intervention. Wie die Militärs im Kosovo, Pakistan, Afghanistan und Irak betreibt die EGF Aufstandsbekämpfung in Krisenregionen. Der Einsatz von Polizei statt Militär hat Vorteile: So ist in vielen Ländern kein Parlamentsbeschluss für eine Entsendung nötig, der Militärhaushalt wird entlastet. In der EGF sind bisher Polizeien Italiens, Spaniens, Frankreichs, Portugals und der Niederlande organisiert. Die Ende Januar 2008 beschlossene "Reform" der Bundespolizei erleichtert der deutschen Bundespolizei die Teilnahme an Auslandseinsätzen.
Verschiedene Panels widmeten sich der Polizeikooperation in der EU. Bereits seit Jahren leisten sich nationale Polizeien gegenseitige Amtshilfe. Dies geschieht z.B. auf der Grundlage des Vertrags von Prüm, der die grenzüberschreitende Zusammenarbeit regelt. Sichtbar etwa beim G8-2003, als fünf deutsche Wasserwerfer mit fünf Hundertschaften die Genfer Brücke gegen Demonstranten sicherten (für die EURO 2008 sind 2.000 deutsche Beamte eingeplant).
Der Vertrag von Prüm, bisher ein bilaterales Abkommen, wird nun in allgemeines EU-Recht überführt. Das bedeutet die Einrichtung zentraler Kontaktstellen, Austausch von ungesicherten Informationen über Gruppen und Personen, Entsendung von Verbindungsbeamten in Einsatzzentralen, gemeinsame Überwachung und Kontrolle von Grenzen, Übersendung von Material und Einsatzkräften.
Dazu sind neue Institutionen und Forschungsprogramme eingerichtet worden, die die Polizei bei der Bewältigung "polizeilicher Großlagen" wie G8-Gipfel und Sportereignisse unterstützen sollen. Nach den Gipfelprotesten in Göteborg und Genua hat die Europäische Kommission das Programm EU-SEC ("Coordinating National Research Programms on Security during Major Events in Europe") ins Leben gerufen. EU-SEC gibt seit 2006 inoffizielle Handbücher zum Umgang mit Protest und Widerstand heraus. Enthalten sind etwa Fragebögen an EU-Mitgliedsländer mit Angaben zu Protestgruppen, ihre Kontakte ins austragende G8-Land, Reisewege, Aktionsformen, Übernachtungsorte, Webseiten etc. Zudem empfiehlt EU-SEC den nationalen Polizeien eine aggressive Medienstrategie.
Vernetzung - gegen "innere und äußere Sicherheit"
Ganz auf dieser Linie liegt auch das jüngste Vorhaben von EU-Kommissar Frattini. Auf einer Pressekonferenz mit UEFA-Präsident Michel Platini in Brüssel Mitte Januar schlug er eine "Europäische Polizeitruppe gegen Gewalt im Fußball" vor, die bereits zur EURO 2008 in Österreich und der Schweiz aufgestellt sein soll. Die Ausbildung könne Europol übernehmen. Diese "speziellen europäischen Einheiten" stünden "bei Notfällen bereit". Eine Finanzierung aus dem EU-Haushalt 2008 wäre ebenfalls gesichert.
Bei der Beschäftigung mit europäischer Innenpolitik wird die Relevanz einer Vernetzung europäischer Antirepressionsgruppen deutlich. Etliche nationale Gesetzesverschärfungen wie z.B. die Vorratsdatenspeicherung werden mit der Umsetzung europäischer Vorgaben begründet, neue Technologien (Datenbanken, Drohnen, Grenzüberwachung) europaweit umgesetzt. Die Ideologie einer "Überwindung der Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit" legt eine stärkere Kooperation von polizeikritischen Gruppen und Bewegungen gegen Militarismus nahe.
Auf den Perspektiventagen Mitte Januar in Berlin wurde mehr Zusammenarbeit von einigen Gruppen verabredet. Im September findet in Malmö das nächste Europäische Sozialforum statt, dort soll es einen Themenstrang zu Repression geben. Auf einem ESF-Vorbereitungstreffen am 22. Februar in Berlin wird vorgeschlagen, diese Debatten in Malmö auf europäischer Ebene zu führen. Nicht nur das 60-jährige NATO-Jubiläum 2009 gibt willkommenen Anlass zu einer gemeinsamen Kampagne. Der G8-2009 in Italien bietet eine wunderbare Gelegenheit, in Vicenza Protest und Widerstand gegen innere und äußere Sicherheit zusammenzuführen.
Hanne Jobst, Andrea Brigante
(Gipfelsoli Infogruppe)
Mehr zur Entwicklung innerer Sicherheit in Europa: http://euro-police.noblogs.org