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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 525 / 15.2.2008

Wo er einfach Recht hat ...

- und wo er Fragen aufwirft. Eine Auseinandersetzung mit Alain Badiou

Alain Badiou ist einer der Philosophen, die ihren Ausgang von den wirklich radikalen philosophischen Initiativen Louis Althussers genommen haben. Insbesondere sein konsequent durch gehaltenes Programm eines mathematisch fundierten Begriffs von Wissenschaft und Philosophie sowie seine Thesen zur "Wahrheitspolitik" haben der kritischen Philosophie neue Dimensionen erschlossen. Zugleich hat Badiou konsequent an dem Befreiungsimpuls der 1960er Jahre festgehalten und das Konzept der in diesem Sinne begriffenen "Kulturrevolution" in einer philosophischen Theorie der Politik als demokratischer, für "Wahrheitsereignisse" offenen Prozess entfaltet. Nach der Verdunkelung der Gemüter durch die neoliberale Konterrevolution wird er daher heute zu Recht "neu entdeckt". (1)

Für Badious Konzeption einer demokratischen Politik und seine Kritik an den Prozessen der institutionalisierten Demokratie sind zwei Argumente zentral: das geradezu "platonisierende", antirelativistische Argument, dass es in jeder wirklichen Politik letztlich um Wahrheit geht, und das auf dem Konzept des "Wahrheitsereignisses" aufbauende Argument der von keinem Staat einzufangenden Autonomie der historischen wirklichen Bewegungen. Beide Argumente haben einen ganz unbestreitbaren Kern:

Erstens geht es in der Politik immer um mehr als bloß um irgendwelche Konflikte, es geht auch darum, Lösungen für Probleme zu finden. Und da es dabei immer auch - jedenfalls sobald es um die Gestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen von Menschen geht -, darum geht, die Freiheit von Menschen zu ermöglichen bzw. die "Herrschaft von Menschen über Menschen" (Marx) zu überwinden, geht es immer auch um mehr als um bloße subjektive "Präferenzen" oder auch durch den sozialen Ort objektiv vorgeformte "Interessen".

"Über Geschmack kann man nicht streiten", heißt es. Aber über wichtige, gar strukturelle Problemlösungen streiten wir sehr wohl - und zwar völlig zu Recht. Nachdem die Postmoderne in Vorschlägen verläppert ist, solchen Streit durch eine allgemeine Beliebigkeit aufzulösen, hat Badiou zu den ersten gehört, die die zentrale Bedeutung der Wahrheitskategorie für jeden "sinnvollen Streit" herausgearbeitet haben. Denn ohne Bezug zur Wahrheit gibt es weder einen sinnvollen Streit, noch eine irgendwie begründbare Toleranz.

Auf die eigene Wahrheit zu bestehen, ist nicht fanatisch

Auf seinen "eigenen Wahrheiten" zu bestehen - jedenfalls bis eine wirkliche Widerlegung erfolgte - bedeutet weder "Dogmatismus" noch "Fanatismus". Im Gegenteil: Nicht der oder die, dem "alles egal" ist, kann eine kritische Haltung entwickeln, die daran arbeitet, mit möglichst guten Gründen zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden, sondern nur, wer auf dem besteht, was er für Wahrheit hält. Das bedeutet zugleich als Rationalitätsforderung, dass er oder sie jedenfalls für Argumente und Fragen offen bleibt und auch in der Lage ist zu akzeptieren, dass für andere Menschen vielleicht andere Wahrheiten als gut begründet erscheinen und mit ihnen daher mit Argumenten zu streiten ist, anstatt etwa ihnen gegenüber zur Gewalt zu greifen, um sie zum Schweigen zu bringen.

Gerade auf dem Feld der Philosophie, auf dem es nie ein "Ende der Debatte" gibt, würde ohne den Bezug auf eine solche Kategorie wichtiger Wahrheiten die argumentative Auseinandersetzung einfach zusammenbrechen. Das tut sie übrigens auch immer wieder - von Nietzsches rhetorischem Lob von Umwahrheit und Lüge über Wittgensteins Aufforderung, über das zu schweigen, was man nicht klar sagen kann, bis zu des späten Heideggers "Warten auf das Sein" (nachdem das Nazi-Reich, indem es scheiterte, seine "metaphysischen Versprechungen" nicht eingehalten hatte). Aber dann haben andere PhilosophInnen, darin sehe ich eine große Stärke von Badious Argumentation, die verdammte Pflicht, die Frage nach der Wahrheit in neuer Gestalt wieder aufzuwerfen, was ich mit großer Hochachtung vorschlage, das "unbeendbare Palaver der Menschheit" zu nennen.

Zweitens gilt offenbar, dass zumindest überall dort, wo derartige Wahrheiten für das Leben und die Verhältnisse von Menschen wichtig sind, die Ermittlung und praktische Umsetzung derartiger Wahrheiten nicht nach dem Modell erfolgen kann, dass zunächst eine Minderheit von professionellen ExpertInnen derartige Wahrheiten herausfinden oder auch produzieren und anschließend die große Mehrheit von Laien, die "Menge der Vielen", dahingehend instruiert wird, was sie zu tun und zu lassen hat. Der Streit um Wahrheiten setzt voraus, fordert und setzt durch, was Kant als "öffentlichen Gebrauch der Vernunft" bezeichnet hat.

Da wir inzwischen begriffen haben, dass dabei mehr im Spiel ist, als Gespräche im kleinen Kreis oder das einfache Austauschen schriftlicher Botschaften, sondern vielmehr gigantische mediale Apparate und intellektuelle Produktionswerkstätten immer schon im Einsatz sind, müssen wir auch begreifen, dass es sich dabei um "Wahrheitspolitik" handelt. Im Unterschied zu der älteren Kritik an der "Kulturindustrie" (Adorno/Horkheimer) oder der funktionalistischen Lesart der These von den "Ideologischen Staatsapparaten" (Althusser), aber auch in Unterschied zu Foucaults Analysen von herrschenden Wissens- oder Disziplinierungsmodellen hat Badiou als einer der Pioniere der Kategorie der "Wahrheitspolitik" von vorneherein auch darauf reflektiert, dass sich in "Wahrheitsereignissen" auch widerständige oder alternative Positionen auftun können - welche dann sogar historisch die Wahrheitspolitiken der etablierten Herrschaftsverhältnisse besiegen können.

Weder hinter die Einsicht in die konstitutive Bedeutung der Kategorie der Wahrheit für das "Palaver der Menschheit" und damit für eine radikal gedachte Politik der Befreiung, noch hinter die Einsicht, dass wir Wahrheit niemals "als fertige Münze" zur Verfügung haben, sondern uns politisch erkämpfen müssen, gibt es m.E. einen Weg zurück. Das hat beispielsweise ganz wichtige Konsequenzen für unsere Erwartungen an eine künftige Gesellschaft, in der alle Herrschaftsverhältnisse überwunden sein werden: Hier kann dann gar nicht mehr die "bloße Verwaltung von Sachen und die Leitung der Produktion" zur einzig gemeinschaftlich zu regelnden Sache werden, wie der späte Engels gemeint hat - sondern die Wahrheitspolitik wird zum Kern einer weiterhin virulenten Politik.

Allerdings werfen diese Argumente in der Fassung, die Badiou ihnen gegeben hat, zumindest zwei dringliche Fragen auf: das Problem des Dogmatismus und das Problem des Umgangs mit "Feinden".

Das hat seinen Ursprung darin, dass er den "Skandal der Philosophie" verharmlost, der m.E. darin besteht, dass die Philosophie seit Thales und Pythagoras zwar das "Selberdenken" als einzige Quelle von Wahrheit akzeptiert und propagiert, zugleich aber, spätestens seit Platon, die Unterwerfung unter die Autorität anderer als einzigen "Weg zur Wahrheit" behauptet, welcher der "Menge der Vielen" offen steht, und von da aus auch zu einer geradezu offensiven Affirmation der Herrschaft von Menschen über Menschen als eine "ewige Notwendigkeit" kommt. Deswegen ist es faktisch nicht dasselbe, ob ich von der Demokratie zur Philosophie komme, wie dies die demokratischen Sophisten innerhalb der attischen Demokratie getan haben und was Platon nur im Sinne eines "philosophischen Gegenfeuers" im Dienst eines herrschaftsaffirmativen Projektes zur Überwindung der Krise der griechischen Polis getan hat, oder ob ich von der von Platon und Aristoteles geprägten Philosophie zu einem radikal (Platon) oder moderat (auf unterschiedliche Weise Aristoteles oder die Stoa) anti-demokratischen Politikprogramm gelange.

Wahrheitspolitik ist der Kern weiterhin virulenter Politik

Von hier aus würde es erforderlich, die zwanglose Gleichheit des Arguments, die in der Tat in der Philosophie herrscht, deutlicher von der beliebigen Gleichheit aller Meinungen als bloße Meinungen zu unterscheiden. Dann würde auch deutlich, dass Wahrheitsbezug in keiner Weise im Gegensatz zur Demokratie steht. Etwa Mao Zedongs Maxime, "wer keine Untersuchung angestellt hat, hat kein Recht mitzureden!", sollte nicht dahingehend missverstanden werden, dass in demokratischen Debatten nicht mehr gelten würde, dass jede und jeder, so wie sie faktisch in die Debatte eintreten, über alles mitreden können, zu dem sie Argumente beizutragen haben. Aber es ist doch auch gar keine demokratische Forderung, dass über den Schutz des Wattenmeers auch diejenigen ernsthaft mitreden, die gar keine Ahnung davon haben, ja kein "local knowledge" mitbringen. Hier sitzt Badiou m.E. der platonischen Karikatur auf, dass in demokratischen Versammlungen "bloß Meinungen ausgetauscht" werden und keine wahrheitsbezogenen Argumentationen stattfinden.

Selbstverständlich sind Nazis von demokratischen Debatten auszuschließen - sie einfach unter das antike "gleiche Recht auf freie Rede" zu subsumieren, beruht auf einem Missverständnis dessen, was sie mit Worten tun: Sie argumentieren ja gar nicht, weil sie sowieso alle Positionen für "rassisch determiniert" halten - d.h. die Möglichkeit von Argumentationen über Wahrheit prinzipiell leugnen -, sondern agieren mit Worten, um andere dazu zu veranlassen, ihren eigenen Rassismus zu "entdecken". Grundsätzlich jedenfalls sind derartige Beiträge in einer demokratischen Debatte zu unterbinden - was mit der Offenheit dafür vereinbar sein sollte, dass gelegentlich auch ein als Nazi bekannter Mensch ein prüfenswertes, vielleicht auch nur in seiner Falschheit aufschlussreiches Argument zu bieten hat.

In der Tat ist es wichtig, gegen Richard Rorty indirekte Tabuisierung jeder radikalen Infragestellung der bestehenden Verhältnisse gegenzuhalten, die er hinter der Formel versteckt, "Demokratie ist wichtiger als Philosophie". Auch wenn nur eine Minderheit "meint", dass es keine "Gerechtigkeit" und auch keine "Freiheit" geben kann, solange die kapitalistische Produktionsweise herrscht, ist dies doch eine Wahrheit, für die wahrheitspolitisch zu kämpfen zu den vornehmsten Aufgaben radikaler Philosophie gehört.

Den Herrschenden zu glauben, dass es einen "grundlegenden Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit" gebe und die Gleichheit gegen die Freiheit auszuspielen - anstatt wie Étienne Balibar von der unauflöslichen Einheit von "gleicher Freiheit" auszugehen - und dass deswegen auch radikale Demokratie bloß ein Instrument, "ein Mittel für die aktive Präsenz des Volkes im politischen Feld" ist oder "ein Mittel um die politische Wahrheit zu finden und zu realisieren", verurteilt die in der Tat notwendige Neuaufnahme der Debatte um die "Diktatur des Proletariats" schon in den ersten Schritten zu Unfruchtbarkeit.

Ich denke dagegen, dass eine solche Debatte heute als eine Auseinandersetzung über die in einer jeden ernsthaften Politik der Befreiung aller in der Tat notwendigen Formen der organisierten und institutionalisierten Gewalt gegen die Feinde der Befreiung anzulegen ist - und immer die Frage mit einschließen muss, wie und wie weit die TrägerInnen einer solchen Politik der Befreiung in ihrer Praxis - vor allem untereinander, aber auch gegen die "zu gewinnenden Köpfe und Herzen" ihrer Feinde - antizipierend greifbar machen können, dass es in ihren Kämpfen ernsthaft um Befreiung geht.

Wahrer Zweck: Eine gleiche und freie Politik für alle

Das schließt m.E. die These mit ein, dass eine gleiche und freie Politik für alle, in der eine wirkliche Wahrheitspolitik möglich wird, selbst ein politisches Ziel, einen "wahren Zweck" und damit auch eine "wichtige Wahrheit" darstellt und keineswegs von bloß instrumenteller Bedeutung ist. Und wenn wir das nicht von Anfang an in der Debatte klar bekommen, können wir nicht einmal gegenüber uns selber glaubhaft machen, dass die Rede von "Disziplin und harter Arbeit, um die strategischen Mittel für den Sieg zu finden" (Badiou) nicht erneut zu einer bloßen Rhetorik verkommen kann, unter der eine Clique die Herrschaft in einem weiterhin gegenüber der wirklichen Bewegung verselbstständigten, letztlich ganz gewöhnlich anti-demokratischen Staat an sich reißen.

Es wäre ein strategischer Fehler, erneut die Parolen von "Freedom and Democracy" denjenigen zu überlassen, die immer wieder nur die Verlängerung ihrer eigenen Herrschaft im Auge haben.

Frieder Otto Wolf

Anmerkung:

1) Alain Badiou hielt Ende Januar in Berlin im Rahmen der Mosse-Lectures eine Rede zu "Demokratie - Politik - Philosophie". Die taz dokumentierte die Rede (www.taz.de/1/debatte/theorie) und mehrere Zeitungen gaben Badiou im Rahmen einer Besprechung breiten Raum ein. Die Debatte soll um Badiou und seine Thesen soll in der kommenden ak fortgesetzt werden.