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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 525 / 15.2.2008

Die Liste des Giancarlo Capaldo

146 Haftbefehle bedrängen die Spitzen der südamerikanischen Militärdiktaturen

Er galt als enthusiastischer Student der Anthropologie, humorvoll, sympathisch und ausstrahlungsstark. Er war belesen und man konnte stundenlang mit ihm über Literatur plaudern. Mühelos gelang es dem Endvierziger, die Akzeptanz seiner KommilitonInnen zu erlangen, obgleich er als vergleichsweise "alt" galt. Doch die allgemeine Sympathie für den Intellektuellen Néstor Jorge Fernandéz Tróccoli brach am Sonntag, den 5. Mai 1996, wie ein Kartenhaus zusammen.

An jenem Tag veröffentlichte die Zeitung El País einen langen Brief, in dem der ehemalige Hauptmann über seine Rolle als Offizier des Marinegeheimdienstes FUSNA während der uruguayischen Militärdiktatur Auskunft gab, die Verbrechen der Diktatur offen rechtfertigte und die öffentliche Debatte über die Verbrechen der Diktatur mit einer Hexenjagd nach dem Vorbild der spanischen Inquisition verglich:

"Ich bekenne, gegen die Guerilla gekämpft zu haben, mit aller Kraft und mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen ... ich gestehe ein ... meine Feinde unmenschlich behandelt zu haben, aber ohne Hass, so wie ein professioneller Gewalttäter handeln muss ... wie schon im großen Bürgerkrieg ... haben wir Uruguayer uns gegenseitig umgebracht und gefoltert. ... Ich war beruflich gut ... sagen wir, es war ein schmutziger Krieg, aber nicht weniger heldenhaft als andere ... man kann die Vergangenheit nicht mit den Werten und Normen der Gegenwart verurteilen. Ich klage diejenigen an, die nicht fähig sind, den Kampf zu würdigen ..."

Tróccoli sah sich zu dieser öffentlichen Reaktion gezwungen, nachdem sein Name wenige Wochen zuvor in einem anonymen Bekenntnis zweier anderer Offiziere gefallen war. In seinen Büchern "Der Zorn des Leviathan" und "Die Stunde des Plünderers" sowie uruguayischen Talk Shows führte er seine Gedanken genauer aus und berichtete von den Folterungen, an denen er beteiligt war.

Italien und die "Operation Cóndor"

Zwischen Juni 1977 und April 1978 war Tróccoli als Geheimdienstoffizier des FUSNA nach Argentinien abkommandiert. Dort war er damit betraut, die Kooperation zwischen den argentinischen und uruguayischen Marinegeheimdiensten zu "koordinieren", was in der Praxis bedeutete: die Zusammenarbeit bei Entführung, Folter, Mord und beim Verschwindenlassen uruguayischer Oppositioneller im argentinischen Exil sicher zu stellen. Mit "Automotores Orletti" betrieb der uruguayische FUSNA mindestens ein geheimes Folterzentrum mitten in Buenos Aires. Dort verliert sich die Spur von mehr als 75 Prozent der uruguayischen Verschwundenen. Andere wurden mit Geheimflügen in uruguayische Haftlager verschleppt (siehe ak 500).

Jorge Tróccoli war einer jener Offiziere, die den "Plan Cóndor" in die Praxis umsetzten, eine Geheimoperation der Militärdiktaturen des lateinamerikanischen Südens zur grenzüberschreitenden Verfolgung von RegimegegnerInnen. Faktisch begann die "Operation Cóndor" bereits 1973, wurde aber erst Ende 1975 auf einer Konferenz der Geheimdienste in Santiago de Chile formalisiert. Anfänglich waren die Geheimpolizeien Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Chiles, Paraguays und Uruguays an der Operation beteiligt. Spätestens 1978 schloss sich auch Peru an. In diesen Jahren verschwanden in den Ländern Südamerikas mehr als 50.000 Menschen spurlos. Allein 30.000 von ihnen wurden in Argentinien in geheime Folterzentren verschleppt und ermordet.

Peru und Brasilien sperren sich gegen Auslieferungen

Einer, der 1978 in einem der argentinischen Folterzentren geboren wurde, ist Carlos D'Elia Casco. Sein Vater und seine schwangere Mutter waren kurz zuvor verschleppt worden. Beide Eltern wurden kurz nach Carlos Geburt mit einem der von Marineoffizier Tróccoli organisierten Geheimflüge nach Uruguay verbracht und dort ermordet. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Auch ihr Sohn Carlos galt 15 Jahre lang als verschwunden. Wie 500 weitere entführte Kinder wuchs er in einer argentinischen Militärfamilie auf, bis er 1995 von den Großmüttern der Plaza de Mayo gefunden wurde und seine echte Identität zurück erhielt. "Es ist wichtig, dass die Täter verhaftet werden und bezahlen müssen", erklärte der heute Dreißigjährige öffentlich. "Aber am wichtigsten ist es, die Wahrheit herauszufinden. Ich fordere Gerechtigkeit und Wahrheit."

Doch bis vor wenigen Jahren verhinderten Amnestiegesetze in Argentinien wie in Uruguay jegliche Form der strafrechtlichen Verfolgung von Diktaturverbrechen. Carlos D'Elia, dessen Vater italienischer Abstammung war, schloss sich einer Gruppe von Familienangehörigen von Verschwundenen an, die Ende der 1990er Jahre begonnen hatten, die Justiz in Rom anzurufen.

Nachdem Italien die Staatsbürgerschaft von Carlos Vater anerkannt hatte, nahm Staatsanwalt Giancarlo Capaldo den Fall D'Elia in die bereits seit 1983 in Italien geführten Ermittlungen zum "Plan Cóndor" auf. Capaldo sammelte über Jahre hinweg Beweise und Zeugenaussagen. 2002 beantragte er, in 25 Fällen von Verschwindenlassen das Verfahren gegen jene Verantwortlichen der "Operation Cóndor" zu eröffnen, die an der Entführung von italienischen StaatsbürgerInnen beteiligt waren.

Unterdessen wurde auch in Uruguay die gesetzlich verordnete Straflosigkeit brüchig. Im März 2006 gelang es, den ehemaligen Diktator Juán María Bordaberry vor Gericht zu bringen. Am 17. Dezember 2007 wurde die Hauptverhandlung gegen seinen Nachfolger General Gregorio lvarez sowie gegen weitere Verantwortliche der uruguayischen Diktaturverbrechen eröffnet.

Eigentlich sollte auch Jorge Tróccoli mit vor Gericht stehen, der Sechzigjährige befand sich aber bereits auf der Flucht vor der Justiz. Schon im September hatte sich Tróccoli zunächst nach Brasilien abgesetzt. Danach flüchtete Tróccoli, der fünf Jahre zuvor die italienische Staatsbürgerschaft erworben hatte, weiter nach Italien.

Der uruguayische Richter Luis Charles ließ Tróccoli mit einem internationalen Haftbefehl suchen. Am 24. Dezember 2007 stellte sich Tróccoli im süditalienischen Salerno den Behörden, vermutlich in der Hoffnung, als italienischer Staatsbürger nicht nach Montevideo ausgeliefert zu werden. Tróccoli schien nicht zu wissen, dass der römische Staatsanwalt Capaldo mittlerweile auch gegen ihn wegen des Verschwindenlassens der Eltern von Carlos D'Elia und zweier weiterer Entführungsfälle ermittelte.

Noch am selben Tag stellte die römische Untersuchungsrichterin Luisiana Figliolia einen internationalen Haftbefehl gegen Tróccoli und gegen weitere 145 Verantwortliche der "Operation Cóndor" aus, Anfang Februar beantragte das italienische Justizministerium die Auslieferung der Gesuchten. Tróccoli wurde umgehend verhaftet und in ein Gefängnis nach Rom überstellt.

"Es ist das erste Mal, dass jemand einen derart massiven Haftbefehl gegen Unterdrücker aus so vielen Ländern richtet", kommentierte der in Spanien lebende Menschenrechtsanwalt Carlos Slepoy den italienischen Vorstoß.

Die Haftbefehle erstrecken sich auf alle unmittelbar an der Operation beteiligten Länder und lesen sich wie ein "Who is Who" des südamerikanischen Staatsterrors. Sechs der auf der Liste stehenden Personen sind bereits verstorben: Der chilenische Putschistengeneral Augusto Pinochet, sein bolivianischer Amtskollege Hugo Banzer, der brasilianische "de-facto"-Präsident João Baptista de Figueiredo, der paraguayische Ex-Diktator Alfredo Stroessner sowie zwei seiner Generäle, Alejandro Fretes Dávalos und Galo Longino Escobar.

Unter den übrigen 140 finden sich nicht minder prominente Namen, so z.B. der der argentinischen Juntamitglieder Jorge Rafael Videla und Emilio Eduardo Massera. Auch der uruguayische zivil-militärische Diktator Juan María Bordaberry, sein ehemaliger Außenministers Juan Carlos Blanco und Bordaberrys Amtsnachfolger General lvarez gehören dazu. Auf der Fahndungsliste sind zudem vertreten: Der chilenische Ex-Geheimdienstchef Manuel Contreras und sein ehemaliger Stellvertreter Pedro Espinoza, die bolivianischen Ex-Präsidenten Jorge García Meza und Juan Perada Abun, die brasilianischen Ex-Generäle und Geheimdienstchefs Carlos Alberto Ponzi und Agnaldo del Nero Augusto, der ehemalige paraguayische Innenminister Stroessners, Sabino Augusto Montanaro, der peruanische Ex-Diktator Francisco Bermudes Morales und sein Premierminister Pedro Richter Prada.

Es ist nicht das erste Mal, dass Italien gegen Verantwortliche der lateinamerikanischen Militärdiktaturen prozessiert. Im März 2007 verurteilte ein italienisches Gericht fünf ehemalige argentinische Militärs in Abwesenheit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft: Alfredo Astiz, Jorge "Tigre" Acosta, Jorge Vildoza, der sich seit 1987 auf der Flucht vor der Justiz befindet, Antonio Vañek und Héctor Febres, der am 10. Dezember 2007 in einem Gefängnis in Buenos Aires unter noch ungeklärten Umständen ums Leben kam.

Im Jahr 2000 wurden die Generäle Guillermo Suárez Mason und Santiago Riveros zu lebenslanger Haft verurteilt. Ein 2005 aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzter Prozess gegen das ehemalige Juntamitglied Marinegeneral Emilio Massera wurde Mitte Januar 2008 wieder aufgenommen. Noch in diesem Jahr möchte Staatsanwalt Capaldo die Hauptverhandlung gegen Tróccoli und die übrigen 139 Repräsentanten der "Operation Cóndor" eröffnen lassen.

Tróccoli ist nicht der erste lateinamerikanische Militär, der in Italien festgenommen wurde. Im August 2002 verhafteten die Behörden auf dem Flughafen Fiumicino aufgrund eines französischen Haftbefehls den ehemaligen Leiter eines argentinischen Folterzentrums, Jorge Olivera. Nur wenige Tage später wurde Olivera unerwartet auf freien Fuß gesetzt und konnte heimlich nach Argentinien ausreisen.

Damals mutmaßten die Medien, dass Oliveras Flucht durch seine guten Kontakte zu Mitgliedern der italienischen Geheimloge Propaganda Due organisiert worden sei. P 2 war Teil des Gladio-Netzwerks und unterhielt gute Kontakte in die Militärdiktaturen Südamerikas.

Auf den Mitgliedslisten, die die italienische Polizei 1981 sicher stellte, fanden sich die Namen zahlreicher italienischer Politiker, einschließlich der Ministerpräsidenten Andreotti und Berlusconi, sowie argentinischer, paraguayischer und uruguayischer Militärs und Geheimdienstler. Ein Untersuchungsausschuss des italienischen Parlamentes deckte die Struktur der P 2 und ihre Verbindungen zur "Operation Condór" sowie zur faschistischen Rechten Italiens auf, die 1975 u.a. an der Durchführung des Attentats auf den im römischen Exil lebenden chilenischen Christdemokraten Bernardo Leighton und seine Ehefrau beteiligt war. Für dieses Attentat wurde der chilenische Geheimdienstchef Manuel Contreras 1995 in Abwesenheit durch ein italienisches Gericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Auch anlässlich der Verhaftung Tróccolis diskutieren italienische Medien heute erneut die Verbindungen zwischen P 2 und der "Operation Cóndor". Es wird befürchtet, dass die noch existierenden Verbindungen der 1981 formell aufgelösten Loge auch Tróccoli zur Flucht verhelfen könnten.

Tróccoli indes baut seine Verteidigung darauf auf, lediglich Befehle ausgeführt und niemanden selbst ermordet zu haben. Am 14. Januar setzte das Haftprüfungsgericht den italienischen Haftbefehl aus - ein erster Erfolg für Tróccoli, der jedoch wegen des uruguayischen Auslieferungsersuchens noch weiter in Haft bleibt. Der Überstellung an die argentinische Justiz hofft er als italienischer Staatsbürger zu entgehen.

Die neuerlichen italienischen Haftbefehle schlugen große Wellen in den betroffenen Ländern. Während vor allem aus Argentinien und Uruguay, wo ebenfalls gegen zahlreiche ehemalige Machthaber prozessiert wird, sowie aus Paraguay Zustimmung und Kooperationsbereitschaft signalisiert wurden, sperren sich insbesondere Peru und Brasilien vehement gegen eine Auslieferung der gesuchten ehemaligen Machthaber. Doch auch in Peru und Brasilien hat die Liste Capaldos eine öffentliche Debatte über die Straflosigkeit losgetreten. Die könnte ähnlich weitreichende Folgen haben, wie im Fall Pinochets. Der wurde nicht zuletzt auch auf Grund des öffentlichen Drucks vor zehn Jahren in London verhaftet.

Knut Rauchfuss, www.gerechtigkeit-heilt.de