Recht haben ist einfacher als Recht bekommen
Zur Auseinandersetzung mit Alain Badiou
Nach Alain Badiou stellt die Philosophie "die Einheit und die Universalität der Wahrheit der Pluralität und der Relativität der Meinungen entgegen." Wenn das richtig ist, muss die Gültigkeit von zwei Axiomen anerkannt werden. Erstens die Verbindlichkeit des wahren Arguments: "Wenn es so etwas wie eine politische Wahrheit gibt, dann ist diese Wahrheit eine Pflicht für jeden rational denkenden Geist." Zweitens eine für alle verbindliche Logik: "Und schließlich müssen wir die Existenz einer universellen Logik als formale Bedingung für das Axiom der Gleichheit der Gedanken anerkennen." (Badiou in der taz vom 24.1.08; siehe auch Frieder Otto Wolfs Diskussionsbeitrag in ak 525)
Badiou arbeitet heraus, dass Argumentieren in einem philosophischen Diskurs wegen der zwanglosen Gleichheit aller Beiträge nur Sinn behält, wenn angenommen wird, dass dieser auf ein Ergebnis zuläuft, eine gefundene und verbindlich geltende Wahrheit. Die daraus sich ergebende Frage geht aber nicht auf im Problem des Dogmatismus und des Umgangs mit Feinden. Vielmehr muss zunächst allgemeiner formuliert werden. Denn eine unter dem gewaltlosen Zwang des Arguments gefundene, ethisch-philosophische Wahrheit (z.B. Menschenwürde >> Gerechtigkeit für alle >> klassenlose Gesellschaft) harrt nun als Ideal ihrer Durchsetzung im Raum der Politik, der Sphäre der Macht, wo es im besseren Fall um die Durchsetzung von Interessen in einem Regelsystem institutionalisierter Gewalt geht, im schlimmeren Fall um milderen oder brutaleren Terror bestimmter herrschender Interessen.
Die Sphäre der Politik ist das Grab der Wahrheit
Die Sphäre der Politik ist kein Raum der Wahrheit, auch dann nicht, wenn die Gewalt demokratischer Mehrheit entscheidet. Sie ist der Wahrheit nicht ferner oder näher als die aristokratische Minderheit. Oft aber nimmt jene von dieser ihren Ausgang und verdünnt sich, wenn es um Mehrheiten geht. Heute erinnert nur eine kaum noch hörbare Minderheit an das einzige und absolut gültige Argument gegen die zivile Nutzung der Atomkraft: die unverantwortliche Lagerung des Atommülls, dessen notwendig sicheren Verschluss auf mehr als tausend Generationen niemand garantieren kann. Den moralischen Adel dieses Arguments haben die Grünen mittlerweile eingetauscht gegen das Mitwirken an verwässerten Mehrheitsentscheidungen, auch wenn der Ausstiegsbeschluss der Schröder-Regierung ein respektabler Schritt war. Nur ist er durch Kompromisse, Fristen und Kautelen von einer Konsistenz, die seine Haltbarkeit über wechselnde Macht- und Mehrheitsverhältnisse nicht garantiert. Das aber wäre notwendig.
Die Frage verändert sich also: Wie kann in der Sphäre der Politik, deren Wesen, Kompromiss und Mehrheit, der Tod der Wahrheit ist, die Wahrheit kampffähig erhalten werden? Z.B. die Wahrheit, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem per se Ungerechtigkeit produziert? Durch die Diktatur der Partei der Armen (das Proletariat), lautete die Antwort der radikalen Linken. Das politische Scheitern dieser Konzeption spricht - philosophisch - nicht gegen sie. Aber eben philosophisch betrachtet ist die Gewalt der Minderheit, auch wenn sie auf die gefundene Wahrheit schwört, ihr nicht entscheidend näher als der bürgerliche Liberalismus mit seinem unbegründeten, wahrheitsabstinenten Optimismus, die Mehrheitsentscheidungen würden in ihrer Summe zum Guten führen. Denn sie ist nun auch der Gewalt enger verschwistert, auf die sie zurückgreifen muss, um sich gegen mächtige gesellschaftliche Feinde und Dogmatismus in den eigenen Reihen zu halten. In diesem Kampf wird sie um des Überlebens willen Kompromisse schließen müssen, die zwangsläufig ihr Begräbnis einläuten.
Alles spricht dagegen, dass die Wahrheit kampffähig erhalten werden kann. Die Sphäre ihrer Durchsetzung, die Politik als Sphäre der Gewalt, ist ihr Grab. Denn ihre Wiege und ihr Wesen ist philosophisch, die gewaltlose Verbindlichkeit des Arguments, wesensverschieden vom Raum der Politik, in dem der Idealismus der Wahrheit immer mit dem beliebigen Maß einer angeblich vernünftigen Realität vermessen und gestutzt wird. Das gilt für die Diktatur der Armenpartei ebenso wie für die Diktatur der Mehrheitsentscheidung.
Das Fazit dieser philosophischen Analyse ist desillusionierend. Die Wahrheit hat keine Heimat im Raum ihrer Verwirklichung, weil er total von Gewalt okkupiert ist. Dennoch bleibt nichts übrig als auf ihre Durchsetzung in diesem Raum zu setzen. Aufgeben wäre Resignation und hieße, das Leben den Egoisten, Illusionisten, Terroristen und Opportunisten zu überlassen. Wer Realist ist, setzt auf das Wunder des anscheinend Unmöglichen, dass gegen alle Erfahrung dennoch der Augenblick kommt, in welchem die harte Schale der herrschenden Gewalt, auf welchem Weg auch immer, sich dem gewaltlosen Zwang des Arguments der Wahrheit wird beugen müssen. Lebt denn nicht jede menschliche Rede von dieser Hoffnung?
Bis dahin sollten die Märtyrer des Wortes der Wahrheit geachtet werden. Unter diese rechne ich Rosa Luxemburg, Dietrich Bonhoeffer und Oscar Romero. Dieser sagte, als die Todesschwadronen seine Ermordung androhten: "Mich können sie töten, aber nicht die Stimme der Gerechtigkeit." Es gibt keine gewollte Nachfolge von Märtyrern, das wäre pervers. Aber ihr Lebenszeugnis steht dafür, dass der Mensch eine Kraft hat, die der Todesdrohung sogar im Leiden siegreich trotzen kann. Weil der Mensch im Leiden für die Wahrheit Tod, Egoismus und Herrschsucht besiegen kann, muss er es auch im normalen politischen Alltag können. Allein die Märtyrer für die Wahrheit machen uns Mut, trotz allem im Raum der Politik für die Wahrheit zu kämpfen und dabei stets auf den gewaltlosen Zwang des Arguments zu rekurrieren. Was nicht darauf gebaut ist, ist auf Sand gebaut. Das ist keine Lösung des Problems, sondern nur ein Appell an unsere Haltung angesichts seiner Unlösbarkeit im antizipierenden Denken.
Die Märtyrer der Wahrheit machen uns Mut
Es gibt noch eine andere Gedankenreihe, die sich dem Problem des revolutionär Neuen gegenüber dem Kontinuum der politischen Gewalt widmet. Sie findet in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen ihren komprimierten Ausdruck. Auch auf dieser Ebene kommt es nicht zu einer Lösung, sondern wie in der wahren Märtyrertradition zur Feststellung eines unüberspringbaren Grabens, der übersprungen werden muss. "Das Bewusstsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revolutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich." Der "Tigersprung" ins Erhoffte ist der "dialektische Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte, als den Marx die Revolution begriffen hat."
Klaus-Peter Lehmann, Augsburg