Nationale Selbstbestimmung oder staatliche Souveränität?
Der Kosovo-Konflikt und die Schwierigkeit der Linken, eine Position zu finden
Die von den USA und wichtigen Staaten der EU unterstütze unilaterale Unabhängigkeitserklärung des Kosovo-Parlaments am 17. Februar hat den andauernden Konflikt auf dem Balkan wieder zu einem Nachrichtenthema gemacht. In Serbien radikalisieren sich die politischen Verhältnisse. Nicht auszuschließen sind mittelfristig eine Spaltung des Kosovos entlang ethnischer Linien und weitere Konflikte in Mazedonien und Bosnien-Herzegowina.
Die Linke weiß dabei nicht so recht, wie sie mit dem Konflikt umgehen soll. Publikationen wie die Tageszeitung junge Welt und ihr "Jugoslawienexperte" Jürgen Elsässer stellen sich uneingeschränkt auf die Seite serbischer NationalistInnen. (1) Andere Strömungen, vor allem aus dem Grünen nahen Spektrum, aber auch trotzkistische Gruppen wie die Sozialistische Alternative (SAV), begrüßen dagegen unkritisch die Unabhängigkeitserklärung. (2) Ein Großteil der Linken bleibt indes indifferent. Zu undurchsichtig scheinen die Auseinandersetzungen auf dem Balkan und ihre Hintergründe. Aber eine Beschäftigung mit dem Konflikt ist notwendig. Denn die Entwicklungen haben weit reichende Relevanz über den Balkan hinaus und sollten in ihrer Tragweite nicht unterschätzt werden.
Der zentrale Konflikt besteht in der Kollision zwischen Serbiens Kampf um die Wahrung der "territorialen Integrität" des Staatsgebietes und der Forderung nach Unabhängigkeit der Kosovo-AlbanerInnen, welche die Bevölkerungsmehrheit in der Provinz stellen. Die serbischen Regierungsinstitutionen unter Premierminister Vojislav Kostunica und Präsident Boris Tadic argumentieren mit dem Völkerrecht und einem historischen Anspruch. Die Kosovo-AlbanerInnen nehmen dagegen das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" in Anspruch.
Zumindest was das internationale Recht betrifft, kann es keine Zweifel geben, dass sich die serbische Regierung in der besseren Position befindet. Denn die "Souveränität" und "territoriale Integrität" von Nationalstaaten waren bisher zentrale Ordnungsprinzipien der Staatenbeziehungen und werden in grundlegenden Vertragswerken wie der UN-Charta von 1945 und der Helsinki-Schlussakte von 1975 garantiert. Die "Selbstbestimmung der Völker" wird zwar auch in der UN-Charta erwähnt, aber nicht näher spezifiziert. In jedem Fall wurden einseitige Grenzveränderungen bisher kategorisch ausgeschlossen. Neue Staaten können nach dem Völkerrecht nur im Einverständnis aller beteiligten Parteien entstehen.
Serbiens Kampf um "territoriale Integrität"
Im Fall Kosovo wurde die Zugehörigkeit zu Serbien auch nach der NATO-Intervention im Frühjahr 1999 noch einmal ausdrücklich vom UN-Sicherheitsrat bestätigt. Die im Juni 1999 beschlossene Resolution 1244 garantiert die "Souveränität und territoriale Integrität" der Bundesrepublik Jugoslawien, deren Rechtsnachfolger Serbien ist. Unter der Kontrolle einer UN-Übergangsverwaltung sollten in der Provinz zwar "Selbstverwaltungsorgane" aufgebaut werden, aber an keiner Stelle ist von einer Unabhängigkeit die Rede. Kosovo sollte vielmehr eine "substanzielle Autonomie" genießen. (3)
Mit der unilateralen Unabhängigkeitserklärung wurde von den kosovo-albanischen Regierungsinstitutionen die Resolution 1244 offen missachtet. Unterstützt werden die Kosovo-AlbanerInnen dabei von den USA und wichtigen Staaten der EU. Für das Völkerrecht wird damit eine neue Epoche eingeläutet. Um einem "nationalen Selbstbestimmungsrecht" zum Durchbruch zu verhelfen, wurde im Februar 2008 von den führenden westlichen Mächten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg das Prinzip der territorialen Unversehrtheit eines Staates verletzt. (4)
Dieses Vorgehen stößt auf scharfen Widerstand. Der national-konservative serbische Premierminister Vojislav Kostunica warnt in drastischen Appellen vor mittelfristigen Folgen: "Eine Fortführung dieser Politik der Gewalt wird die Krise vertiefen. Sie untergräbt die Grundlage der Weltordnung und bedroht Frieden und Stabilität auf dem Balkan." Volle Unterstützung bekommt er dabei aus Moskau. Das russische Außenministerium warnt vor der "Zerstörung der Weltordnung" und nennt das Vorgehen der USA und wichtiger EU-Staaten "zynisch". Es sind aber nicht nur Belgrad und Moskau, die protestieren. Auch China, Indien und viele Ländern mit Minderheitenkonflikten stellen sich quer, darunter auch mehrere EU-Länder wie Spanien und Rumänien.
Die Argumente aus Belgrad und Moskau sind nicht einfach von der Hand zu weisen, ganz unabhängig von der Einschätzung der Ursachen und des Verlaufs des Kosovo-Konflikts. Denn tatsächlich bietet das Völkerrecht bisher eine Haltelinie für die Eskalation von Grenzkonflikten weltweit. Es dämmt auch die auf militärische und ökonomische Überlegenheit gestützte Hegemonialpolitik der Großmächte ein und erkennt kleine und schwache Staaten als gleichwertige Rechtssubjekte an. Das bestehende Völkerrecht ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg. Sollte die Linke im Kosovo-Konflikt daher die serbische Position unterstützen? So einfach ist es leider nicht!
Denn ein wesentliches Problem stellt auch die Politik Serbiens dar. Die maßgeblichen politischen Kräfte in Belgrad wollen zwar Kosovo als Bestandteil des Staates behalten, betrachten aber die zwei Millionen Kosovo-AlbanerInnen, welche 90% der BewohnerInnen der Provinz ausmachen, als unerwünscht. Kosovo wird nicht auf der Grundlage des multinationalen Jugoslawien-Gedankens und noch nicht einmal auf der Grundlage eines staatsbürgerlichen republikanischen Nationenverständnisses verteidigt, sondern als ein "heiliges Land" und als "Herz und Seele des serbischen Volkes", wie der nationalistische Premierminister Kostunica ständig betont. In der serbischen Öffentlichkeit und Politik dominiert eine religiös untermalte "mythomanische Abstraktion", die keinen Bezug zu "konkreten Menschen" hat, wie Goran Despotovic vom serbischen Bund des Antifaschisten treffend schreibt. (5)
Das Problem des Ethno-Nationalismus
Die Argumentation mit dem Völkerrecht ist von serbischer Seite in diesem Kontext ausgesprochen instrumentell. Denn tatsächlich wird im Mainstream der serbischen Öffentlichkeit ignoriert, dass es im März 1989 die illegale Aufhebung wichtiger Bestandteile der Autonomie des Kosovo durch den Belgrader Machthaber Slobodan Milosevic war, welche den Zustand verfassungsrechtlicher Unklarheit im ehemaligen Jugoslawien erst erzeugte.
Das Problem liegt sogar noch tiefer. Denn im Kern des politischen Projekts der serbisch-nationalistischen Bewegungen steht seit Ende der 1980er Jahre die Infragestellung der jugoslawischen Binnengrenzen und sogar die Idee der Erkämpfung eines "Großserbien", das die gesamte ethnisch-serbische Bevölkerung des früheren Jugoslawiens in einem Nationalstaat vereinigen soll. Dieses Projekt steht in offenem Gegensatz zur aktuellen völkerrechtlichen Argumentation im Kosovo-Konflikt.
Offen wird "Großserbien" heute in erster Linie von der rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei (SRS) vertreten. Sie stellt bisher die größte Parlamentsfraktion und hat nach den Neuwahlen am 11. Mai gute Chancen, auch die Regierung zu bilden. Das ideelle Konzept von "Großserbien" wird in verschiedenen Facetten aber auch von anderen politischen Kräften geteilt. Ein deutliches Indiz dafür ist die offizielle Rehabilitierung der großserbischen monarchistischen Tschetnik-Bewegung durch das serbische Parlament im Dezember 2004. Eingebracht und durchgesetzt wurde die Initiative dabei ausgerechnet von den so genannten pro-westlichen "demokratischen" Parteien. (6)
Die grundlegende Schwierigkeit im Kosovo besteht im kompletten Zusammenbruch jeder nach Ausgleich und Verständigung suchenden Kommunikation zwischen den Konfliktparteien. Dem serbischen Nationalismus steht ein albanisches Nationsbildungsprojekt gegenüber, das nicht weniger ausschließend und ethnozentristisch ist. Die Forderung nach der ultimativen Realisierung eines "Selbstbestimmungsrechts" wird im Kosovo von ausnahmslos allen kosovo-albanischen politischen Kräften gefordert. Die Unabhängigkeitserklärung ist also lediglich die Bestätigung für das reale Scheitern des bisherigen Staatsprojektes. Und niemand hat eine realistische Idee, wie es wieder hergestellt werden könnte.
Vor diesem Hintergrund ist nicht so sehr die Sezession des Kosovo das Problem, sondern die völkerrechtswidrige Art und Weise, wie die Abspaltung durchgesetzt wird. Das Hauptversäumnis liegt dabei in der offenkundigen Unfähigkeit der internationalen Diplomatie, eine für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden.
Notwendige Kritik der internationalen Intervention
Seit dem offenen Ausbruch des Konfliktes in den 1980er Jahren hatte es dafür trotz der polarisierten Lage immer wieder Ansätze gegeben. Wie der Friedensforscher Jan Oberg vom schwedischen Institut for Transnational Peace and Future Research (TFF) allerdings feststellt, hat die internationale Diplomatie den Konflikt immer wieder verschärft. (7) Zu Beginn der 1990er Jahre wurde das Kosovo-Problem zunächst ignoriert. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre unterstützte der Westen mit der UCK zunehmend den militaristischen Teil der kosovo-albanischen Bewegung. Mit dem NATO-Bombardement 1999 wurde die Bürgerkriegssituation weiter eskaliert. In den vergangenen Jahren versagte die UN-Verwaltung beim Schutz der nicht-albanischen Minderheiten, der Aufklärung und Bestrafung von Kriegsverbrechen und der Rückkehr von über 200.000 serbischen Flüchtlingen. Die soziale und wirtschaftliche Lage im Kosovo ist die schlechteste in ganz Europa. Im Verhandlungsprozess der vergangenen Jahre wurden, wie Oberg sagt, mit der "Obsession" von der Staatlichkeit alle Fragen der sozialen Entwicklung und gemeinsamer Interessen der Bevölkerung jenseits von Ethnizität verdeckt. (8)
Mit dem offenen Bruch des Völkerrechts in der entscheidenden Frage der Unverletzlichkeit von Grenzen wurde jetzt eine neue Ausgangslage geschaffen, welche nicht nur auf dem Balkan, sondern auf internationaler Ebene zur Eskalation weiterer Konflikte zu führen droht. Es scheint in der Praxis zur Herausbildung eines flexiblen Umgangs mit dem "Prinzip der territorialen Souveränität" und dem "Recht auf Selbstbestimmung" zu kommen. Entscheidend werden in letzter Konsequenz die Interessen der Hegemonialmächte und militärische Machtverhältnisse sein. Ob "Selbstbestimmung" oder "Souveränität", das eine wie das andere wird jeweils dann maßgeblich sein, wenn es den dominanten westlichen Interessen dient. Manchmal wird die territoriale Souveränität eines Staates erhalten werden, auch wenn er ethnische Minderheiten auf seinem Gebiet brutal unterdrückt wie seit Jahrzehnten das türkische Militär die Kurden. Manchmal wird dagegen der Kosovo-Präzedenzfall gelten.
Boris Kanzleiter, Belgrad
Anmerkungen:
1) So feiert Elsässer beispielsweise Demonstrationen serbischer Rechtsextremisten gegen die Unabhängigkeit Kosovos als "Lichtblick". Junge Welt, 20.2.08.
2) www.sozialismus.info/?sid=2481
3) www.nato.int/Kosovo/docu/u990610a.htm
4) Der Fall Kosovo ist nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion oder Jugoslawiens am Beginn der 1990er Jahre vergleichbar. Damals wurden immer nur bestehende Republiken der Föderation getrennt, ohne die Grenzen zwischen den Republiken zu verändern. Kosovo besaß hingegen niemals den Status einer föderalen Republik.
5) www.antifasizam-nob.org.yu/
6) Die Tschetniks kämpften im Zweiten Weltkrieg zunächst gegen die deutsche Wehrmacht. Ab Herbst 1941 gingen sie aber zunehmend Bündnisse mit den Deutschen ein, bekämpften die kommunistischen PartisanInnen und massakrierten die muslimische Zivilbevölkerung in Bosnien. Ihre Zielsetzung bestand in der Herstellung eines "ethnisch reinen Großserbiens", wie es in offiziellen Dokumenten der Bewegung heißt. Vgl. Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.-21. Jahrhundert, Wien 2007, S. 321.
7) www.transnational.org/
8) Vgl. Kosovo: "Zeit für einen Neubeginn" (18.8.2997) auf www.telepolis.de