Aufgeblättert
Rettungsanker Gemeinwirtschaft
In der Diskussion um das 68er Jubiläum wird Hans-Jürgen Krahl kaum erwähnt. Dabei war der 1970 bei einem Autounfall getötete Philosoph einer der theoretischen Köpfe der Bewegung. Mit dem Hans-Jürgen-Krahl-Institut wollen alte und junge Linke Krahls theoretisches Gedankengut nutzbar machen. Die AdressatInnen ihrer ersten Schrift "Praktischer Sozialismus - Antwort auf die Krise der Gewerkschaften" sind Linke, "für die gewerkschaftliche Arbeit und Politik im Zentrum nicht ideologischer Auseinandersetzungen, sondern Lösungsversuche realer politischer Probleme steht". Die Autoren vermissen in der Debatte über die Krise der Gewerkschaften eine theoretische Auseinandersetzung. Aus ihrer Sicht ist die "Einheit von Arbeitslosen und Lohnabhängigen und damit die vollständige Aufhebung der Konkurrenz unter den Proletarisierten" die Grundlage für eine erfolgreiche Interessenvertretung. Doch gerade in diesem Punkt seien die Gewerkschaften gescheitert. "Da die Gewerkschaften aber Zusammenschlüsse von Proletarisierten über die gemeinsame Eigenschaft, Arbeitskräfteverkäufer zu sein, sind, ... ist eine andere Zielvorstellung als die Vollbeschäftigung ausgeschlossen." Den Autoren könnte man vorwerfen, die Versuche einer Annäherung zwischen Erwerblosen und Gewerkschaftsmitgliedern zu wenig zu berücksichtigen. Doch im Grundsatz haben sie Recht. Immer wieder beklagen ErwerbslosenaktivistInnen die mangelnde Unterstützung durch die Gewerkschaften. Die Autoren sehen in dem Ausstieg der Gewerkschaften aus der Gemeinwirtschaft einen der größten Fehler in der Gewerkschaftsgeschichte. Ihrer Meinung nach könnte gerade der Ausbau des gemeinwirtschaftlichen und genossenschaftlichen Sektors ein Rettungsanker für die Gewerkschaften werden. Gemeinwirtschaftliche Betriebe würden anders als kapitalistische Unternehmen keinen Zwang zur Rentabilität unterliegen und könnten daher Arbeitskräfte anstellen, die aus der Sicht der Wirtschaft ungeeignet sind. Das hätte Auswirkungen auf künftige Arbeitskämpfe. Beschäftigte müssten nicht mehr jede Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen akzeptieren, wenn es für sie im gemeinwirtschaftlichen Sektor eine Alternative gäbe. Eine sicher umstrittene These. Es ist zu hoffen, dass das Angebot zur Debatte in und außerhalb der Gewerkschaften aufgegriffen wird.
Peter Nowak
Hans-Jürgen-Krahl-Institut (Hg.): Praktischer Sozialismus - Antwort auf die Krise der Gewerkschaften. Pahl-Rugenstein-Verlag, Bonn 2008, 44 Seiten, 4,90 EUR
Entwicklungszusammenarbeit
Es gibt Wörter, die eine ganze Ideologie preisgeben: "Entwicklungshelfer" ist so eins. Das ist jemand, der seine Hilfe anbietet, um etwas oder jemanden zu "entwickeln". Das zu entwickelnde Gegenüber hat dabei eine meist passive Nehmerrolle einzunehmen. Ob diese Hilfe jedoch wirklich immer hilfreich ist, welche stereotypen Bilder zwischen "Gebern" und "Nehmern" vorherrschen und welche rassistischen Bilder auch in der entwicklungspolitischen Projektarbeit reproduziert werden - damit beschäftigt sich die Broschüre "Von Trommlern und Helfern". Ausgangspunkt vieler Artikel ist die eigene Verstricktheit in rassistische Strukturen und Denkweisen in einer vom Rassismus geprägten Gesellschaft. Am Beispiel von Guatemala beschreibt Sandra Körninger anschaulich, in welche Dynamik die meist weißen Freiwilligen geraten in einer Gesellschaft, in der die Hautfarbe das zentrale Merkmal für die soziale Positionierung ist. So gehören sie qua Hautfarbe automatisch zur privilegierten Elite des Landes. Jeder Kontakt gegenüber der Mehrheitsgesellschaft ist aufgrund der neokolonialen Realität vorstrukturiert. Diese Ungleichheit aufgrund des sozialen Status lässt sich auch nicht mit noch so viel gut gemeinter interkultureller Solidarität aufheben. Die eigenen Privilegien und Ausschlüsse zu erkennen und zu benennen - das fordert auch Jonah Gokova in seinem Beitrag über den institutionellen Rassismus in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Bei der Vergabe von Projektgeldern zeigt sich dieser institutionelle Rassismus besonders deutlich. So initiieren Organisationen aus dem Norden häufig ferngesteuerte Projekte im Süden, ohne dass Organisationen vor Ort überhaupt konsultiert werden. Bilanzierend fordert Jonah Gokova daher: "Sich mit dem Problem des Rassismus zu beschäftigen, ist vor allem eine Verpflichtung der Organisationen aus dem Norden. Dabei gibt es noch viel zu tun und die Debatte muss neu eröffnet werden, um Rassismus in der EZ ein für alle Mal abzuschaffen".
NV
Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag e.V. (BER): Von Trommlern und Helfern. Bezugsadresse: BER e.V., Greifswalderstr. 4, 10405 Berlin, buero@ber-ev.de, Schutzgebühr: 5 EUR zzgl. Porto
Erzählungen von Jiri Weil
Bekannt wurde der tschechische Autor Jiri Weil (1900-1959) durch den Klassiker "Leben mit dem Stern", einen Roman über die Judenverfolgung im besetzen Prag. Unter dem eigenwilligen Titel "Sechs Tiger in Basel" sind nun auch Erzählungen von Jiri Weil in deutscher Übersetzung zu lesen. In der titelgebenden Geschichte trifft der Autor kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Kneipe in Basel auf einen Landsmann, der seine Wut und Ohnmacht mit Alkohol zu betäuben versucht. Er ist Tierpfleger in einem Zirkus, seine Schützlinge sind tschechische Tiger, von ihrem deutschsprachigen Dompteur entführt. Nur mit der Peitsche dressiert dieser sie, da sie auf seine Sprache nicht hören. Ohne tschechische Laute gehen sie ein, verweigern das Fressen. Was bleibt dem Tierfreund anderes übrig, als bei den armen Tieren in der verhassten Fremde zu bleiben, auch wenn ihn das Heimweh quält? Seine einzige Bedingung: Zumindest der deutsche Zirkusbesitzer darf nicht zu den Tigern. Weils Erzählungen sind ebenso bewegend wie seine Romane. Er bezieht sich in seinen Texten auf selbst Erlebtes, in einzigartiger Weise verleiht er dem Durchlebten komplexe Bedeutung. Der Zyklus "Farben" ist den "lebenden und toten Freunden aus den Jahren der Erniedrigung und des Kampfes gewidmet", u.a. der Journalistin Milena Jesenská, die 1944 im KZ Ravensbrück umkam. In den Geschichten blitzt trotz der Schwere des Alltags, der Bedrohung durch Folter und Tod ein Funken Hoffnung auf. Der Klagegesang für 77 297 Opfer setzt den ermordeten tschechischen Jüdinnen und Juden ein literarisches Denkmal. Jiri Weil schreibt aber nicht nur über den Holocaust sondern auch über den ersehnten und den real erlebten Sozialismus, z.B. in seiner "Reise nach Alma Ata", die moderne Industriestadt an deren Rand wunderbare alte Apfelgärten liegen. Und er schreibt auch über den Frieden, die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg; Thema dieser Erzählungen ist die "einfache Wahrheit", die es so natürlich nicht gibt. Jiri Weil verarbeitete die Geschichte des 20. Jahrhunderts auch als Journalist. 1935 wurde er von der Komintern nach Mittelasien deportiert, überlebte den Holocaust in diversen Verstecken, nachdem er sich durch einen fingierten Selbstmord der Deportation entziehen konnte. In der sozialistischen Tschechoslowakei durfte er nicht veröffentlichen. 1959 starb Jiri Weil in Prag.
Raphaela Kula
Jiri Weil: Sechs Tiger in Basel. Erzählungen. Libelle Verlag, Lengwil am Bodensee 2008, 224 Seiten, 17,90 EUR