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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 526 /

Vergesst Platon!

Von Badious Zauberwald zur Organisationsfrage

Nach dem Hype um Giorgio Agamben findet die akademische Linke ausgerechnet im maoistischen Haudegen Alain Badiou ihren neuen Großphilosophen, dessen philosophischer Entwurf seit Kurzem zur theoretischen Wundertüte hochgejazzt wird. Lest Badiou!, heißt es allenthalben - und werdet Zeuge der wundersamen Wiedergeburt der Kapitalismuskritik. Sehet den Bezwinger des "kulturellen Relativismus", wie er das Schwert der neuen Eindeutigkeit schwingt und mit Wortgranaten wie "Wahrheit" Löcher in die morsch gewordene Bastion der Postmoderne sprengt!

Die Postmoderne bietet seit jeher ein leichtes Ziel - besonders jedoch, seitdem sie es sich im akademischen Diskursestablishment gemütlich gemacht hat. Ihrer häretischen Reize weitgehend verlustig, sieht sie sich dort von der vermeintlichen Vereinfachung der politischen Weltlage im Gefolge des 11. September in Frage gestellt. Wo aber die dünne "Maske der Vernunft" (Ellis) über der Fratze des Kapitalismus immer rissiger wird, bekommt das erneute Nachdenken über "certain, inalienable truths" wieder Konjunktur - Auftritt Old Badiou.

Aber ist das Phänomen Badiou damit schon verstanden? Vor ein paar Jahren unterhielt ich mich mit einem für meine Begriffe klugen Menschen über "Empire": "Ein tolles Buch: Ich lese es seit drei Monaten - und habe es bis heute nicht verstanden." Ähnliches wird mir mit leuchtenden Augen von Badiou berichtet. Wie kommt es dennoch zu seinem Erfolg? An einer besonders "eindeutigen", irgendwie anti-postmodernen Terminologie kann es nicht liegen. Im Gegenteil: Bei Badiou heideggert es kräftig, während dichte Sprachnebel nur spärlich den Blick auf einen Zauberwald aus Begriffen wie "Ereignis", "Subjekt" und "Situation" preisgeben.

Doch liegt vielleicht genau hierin des Rätsels Lösung? Der Nebel als "Event": je mehr davon auf der Bühne, desto besser die Show? Nein, solche Polemik reicht nicht aus, um das Phänomen Badiou verstehen zu können; wir müssen uns tiefer in den Zauberwald seiner Gedanken begeben. Dort drinnen, auf einer kleinen Lichtung, findet man nämlich Platon und Mao neben den Mathematikern Cantor und Gödel auf einem Baumstumpf sitzend - und ununterbrochen "Wahrheit" raunend.

In Badious Zauberwald: viel Nebel um wenig

Jetzt heißt's aufpassen: "richtige" Philosophie meets "echte" Revolution meets "strenge" Logik. Wer die Popularität Badious aus seinen Inhalten erklären möchte, muss sich vorsehen, keinen Mist zu erzählen. Holzschilder säumen die Lichtung: "Wer nicht weiß, meint bloß!", "Meinung ist nicht Wahrheit!" usw. Ich zweifele; habe ich auch genug gelesen? Zaghaft Kant zitierend ("Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen"), taste ich mich trotzdem vorwärts.

Je näher ich dem Baumstumpf komme, desto besser kann ich erkennen, dass Badious "Philosophenkönige" hier sinnbildlich für die intellektuelle Gewissheit, die revolutionäre Haltung und die formale Strenge seines Projekts sitzen. Und mehr noch - sie stricken! Man stelle sich das vor: Platon, Mao, Cantor und Gödel sitzen da auf diesem Baumstumpf, raunen "Wahrheit" und stricken in aller Seelenruhe einen dicken roten Strang, der durch den badiouschen Begriffsdschungel führt; ich folge ihm.

Nach Badiou ist die Welt dort, wo sich in seinem Sinne "Wahrheit" manifestiert, eine ganz andere. Etwas Neues tritt in die Welt: Galilei "erfindet" die Physik, die Jakobiner die Revolution usw. "Wahrheit" ist demnach nur als "wirklicher Prozess" zu begreifen. Dieser Prozess bricht sich immer in einem Ereignis Bahn. Dieses wiederum besteht nur insofern, als dass sich ein Subjekt darin bewegt und es vorantreibt. Das Subjekt gestaltet das Aufblitzen einer "Wahrheit" durch seine Handlungen und gibt ihr so eine mögliche Zukunft. Die Betonung liegt hier auf mögliche, denn inwiefern sich z.B. die kommunistische Revolution - als die "volle Wahrheit" über die Schlechtigkeit des Kapitalismus - mit all ihren Aspekten jemals "voll verwirklicht", ist im Ereignis selbst - z.B. einem Streik - noch unklar.

Badiou nennt dies die "Unverfügbarkeit" eines Ereignisses. Alles hängt also letztlich an der Entscheidung des Subjekts - bzw. vieler Subjekte und ihrer kollektiven politischen Praxis -, sich einer "Wahrheit" zu "verpflichten". Diese Verpflichtung darf jedoch nicht zu Lasten der "Unverfügbarkeit" des Ereignisses gehen.

Aus diesem Grund spendiert Badiou seiner Wahrheits-Philosophie eine eigene Ethik: "gut" handelt danach jemand, der die "Treue" zu dem unverfügbaren Ereignis hält. "Böse" hingegen ist alles, was der offenen Verwirklichung einer Wahrheit im Wege steht ("Verrat", "Erzwingung" und "Trugschluss"). Die Erzwingung ist besonders interessant: einer bereits zu Ende gedachten "Wahrheit" bei ihrer Vollendung praktisch nachzuhelfen, hieße sie zu erzwingen. Dies, so Badiou, bedeute die "Untreue zur Situation" und die sei "böse".

Liest man all dies in Badious kapitalismus- und staatskritischer Perspektive, wird der subversive Gehalt seiner Intervention deutlich, denn: nicht jedes Ereignis birgt "Wahrheit". Die Faschisten z.B. reproduzieren nach Badiou die "Herrschaft des Menschen über den Menschen" (Marx) - keine "Wahrheit" in Sicht. Der Linken hingegen stellt er einige Anknüpfungspunkte zur Verfügung: Ereignisse, die Wahrheit produzieren; Subjekte, die den geschichtlichen Verlauf unterbrechen; Neues, das hervorgebracht wird. Dazu eine klare Absage ans Umfallen, an analytische Kurzschlüsse und an selbsternannte Avantgarden - wer schnalzt da nicht mit der Zunge, angesichts dieses neuen, demokratisch und bewegungsnah angehauchten Katechismus? Doch wie passt das mit Badious Ruf als Heilsbringer einer "neuen Eindeutigkeit" zusammen? Und was machen diese komischen Leute da im Wald?

Antworten auf diese Frage finden sich in Badious Mosse-Lecture zu "Demokratie, Politik, Philosophie". Demokratie, so Badiou, steht in einem merkwürdigen Widerspruch zur Philosophie. Einerseits sei die Philosophie etwas demokratisches, denn jedeR dürfe mitreden. Andererseits sei die Philosophie "der Wahrheit verpflichtet". Um zur deren Erkenntnis zu kommen, gelte es daher, strenge Regeln einzuhalten.

Nach Platon müsse "zuerst zwischen falschen und richtigen Meinungen und sodann zwischen Meinungen und der Wahrheit" unterschieden werden. Ist die "Wahrheit" aber erst einmal gefunden, kann es darüber nur noch wenig (bis keine) Diskussion geben. "Freier Meinungsaustausch" wird dann, nun ja, "schwierig". Diese "Schwierigkeit", so Badiou, "liegt in der Beziehung zwischen dem demokratischen Begriff der Freiheit und dem philosophischen Begriff der Wahrheit. Wenn es so etwas wie eine politische Wahrheit gibt, dann ist diese Wahrheit eine Pflicht für jeden rational denkenden Geist." (vgl. ak 525)

Gretchen fragt sich: Wahrheit oder Demokratie?

Wo Platon grollt, sind Cantor und Gödel nicht fern: "In der Mathematik finden wir eine ursprüngliche Freiheit, welche die Freiheit des Auswahlaxioms ist. Danach herrscht allerdings eine vollkommene Bestimmtheit, die einigen logischen Regeln folgt. Wir müssen die Konsequenzen unserer ersten Wahl akzeptieren. Und dieses Akzeptieren ist keine Freiheit, sondern ein Zwang, die Notwendigkeit und die harte intellektuelle Arbeit, den korrekten Beweis zu finden." Nanu? Wo ist denn plötzlich die ganze Offenheit hin? Nebel überall; nichts mehr zu sehen.

Wohin aber mit der schönen Ereignisphilosophie? Und dem sich befreienden Subjekt? Tja, das muss aufpassen, nicht aus Versehen in "falsche" Meinungen abzudriften - und auch sonst immer schön der "Pflicht" zur "Wahrheit", der "vollkommenen Bestimmtheit", den "logischen Regeln", dem "Zwang" und der "Notwendigkeit" folgen.

Aber das sei auch alles ganz in Ordnung so, lehrt uns der Philosoph, denn: "Für die Gerechtigkeit ist Gleichheit wichtiger als Freiheit. Und Universalität ist wichtiger als Partikularität, Identität oder Individualität." Und dann muss das Subjekt sich eben zwischen "dem revolutionären Weg oder dem konservativen Weg, Arbeiterklasse oder Bourgeoisie, kollektiver Handlung oder privatem Leben" entscheiden. Da gibt's keine postmodernen "Zwischenräume" für so Hippie-Kram wie "Partikularität, Identität, Individualität". Das Wahrheits-Ereignis fordert die "Treue zur Situation" ein, verlangt nach "Entscheidung". Und wer die einmal getroffen hat, muss "die Konsequenzen dieser Wahl annehmen: Opfer und erbitterter Kampf, keine Freiheit der Meinungen oder Lebensstile, sondern Disziplin und harte Arbeit, um die strategischen Mittel für den Sieg zu finden." Wer also Gerechtigkeit will, muss Freiheit geben. Sprach der Herr Professor.

Mit den Sophisten für einen Verein freier Menschen

Dass sich diese "Entscheidung" in den heutigen westlichen Staaten zum Glück mitunter etwas ambivalenter ausnimmt als im revolutionären China des letzten Jahrhunderts, hat indes auch Badiou verstanden. Deswegen fängt er sich selbst wieder etwas ein, wenn er betont, die Demokratie sei ein Instrument "für die aktive Präsenz des Volkes im politischen Feld ..., ein Mittel, um die politische Wahrheit zu finden und zu realisieren". Es gelte, Freiräume zu schaffen, die sich der Staat nicht aneignen kann, um dort nach der "politischen Wahrheit" zu suchen.

Angesichts der düsteren Revolutionsprosa Badious bleibt fast zu hoffen, dass er sie nicht findet - wie im übrigen, dass die geneigten Badiou-RezipientInnen mit Hang zum politischen Aktivismus die "Lehren" der Postmoderne nicht vor lauter Schreck über den neuen Hype schon wieder über Bord geworfen haben. Dann nämlich könnte man Badious intellektuelle Sittenwächter aus dem Zauberwald werfen und sich seine schöne Ereignisphilosophie für den eigenen theoretischen "Werkzeugkasten" aneignen wie auch eine Steigerung des Selbstwertgefühls in der politischen Arbeit nutzbar machen. Denn, hey, wie gut klingt bitte: "Wir machen Wahrheit, was macht ihr?!"

Wer überdies an Badiou besonders seine linke Standhaftigkeit schätzt und obendrein nach einer fitten marxistischen Theorie des Politischen sucht, mag sich bei Gramsci bedienen. Der nennt Wahrheitspolitiken übrigens "Kämpfe um Hegemonie" - und schreibt dazu aber keine Philosophie, die von der Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse absieht, sondern bietet einen Analyserahmen, ebendiese zu verstehen -, um sie zu verändern.

Wer indes besonders den Verweis aufs antike Denken schätzt, der sei an die Sophisten verwiesen. Auch nicht gerade "lupenreine Demokraten" (Schröder), waren sie doch "Demokratische Philosophen" (Gramsci) in dem Sinne, dass sie Gesellschaft als Konfliktfeld dachten - und den Kampf um Wahrheiten als Inhalt des Politischen. Von ihnen kann man heute noch lernen, dass die philosophische Wahrheit im politischen Tagesgeschäft wenig von ihrer Reinheit behält; wer an eine Wahrheit glaubt, muss eben für sie kämpfen. Im Gegensatz zu Platon kann man von den Sophisten zudem lernen, wie man es macht.

Alles andere ergibt sich - auch gemäß Badiou - im politischen Prozess. Doch brauchen wir PhilosophInnen, um uns sagen zu lassen, dass es sinnvoll ist, im Hier und Heute für ein besseres Leben aller zu streiten? Das, was Badiou einfordert, passiert doch heute schon allerorten: Menschen organisieren sich politisch und versuchen, etwas zu verändern. Das ist oft kleinteilig, meist anstrengend, selten so richtig revolutionär. Aber es entspricht den Kapazitäten der Akteure in den bestehenden Kräfteverhältnissen. Für die Organisation der eigenen politischen Arbeit jenseits von Salär, Sozialleben und Selbstsorge braucht es keine autoritäre "Entscheidungs"-Lyrik, keinen "Zwang" und keine "Strenge". Das soll nicht heißen, dass man nicht versuchen soll, vernünftig kooperativ zu arbeiten - ganz im Gegenteil.

Was eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" für uns heute bedeuten könnte, können wir nur gemeinsam herausfinden. Dafür brauchen wir den demokratischen Prozess und den konfliktiven Austausch. Dieser ist - wie menschliche Verhältnisse allgemein - jedoch fern jeder Logik. Freiheit und Gleichheit mögen sich logisch ausschließen - die Frage ist doch aber, ob daraus auch eine politisch-praktische Unmöglichkeit folgert.

Wo die Philosophie ins Stocken gerät, kann möglicherweise ein Blick in die Geschichte weiterhelfen: Welche Erfahrungen politischer Kämpfe um und für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, d.h. eine herrschaftsfreie und gerechte Gesellschaft finden sich hier? Was lässt sich aus diesen Erfahrungen jener Menschen lernen, die für diese Ziele gekämpft - und verloren haben? Denn es sind m.E. nicht zuvorderst die "erfolgreichen", d.h. staatlich geronnenen revolutionären Projekte, die Beachtung verdienen. In dieser Perspektive kehrt die Frage nach "Wahrheit" in Form der Organisationsfrage wieder. Diese gilt es m.E. zu diskutieren - streng logisch, versteht sich.

Daniel von Fromberg

Vom Autor erschien gerade beim Verlag Westfälisches Dampfboot: "Demokratische Philosophen. Der Sophismus als Traditionslinie kritischer Wissensproduktion im Kontext seiner Entstehung"