Der Zirkel des Subjekts
Eine Drehung weiter in Sachen Badiou, Philosophie, Revolution
Ums gleich vorab zu sagen: alle Beiträge der ak-Debatte zu Badiou treffen zu recht eine in dessen Denken angelegte autoritäre Tendenz. Deren Gefährlichkeit will ich weiter verdeutlichen. Wenn ich zuvor auf Daniel Fromberg eingehe (ak 526), so weil er als einziger polemisch wird. Das ist nicht an sich verwerflich, in seiner Manier aber ärgerlich. Denn er folgt einer Doppelstrategie der Verleumdung, die seit 30 Jahren gegen jede Neuerung des Denkens ausgespielt wird, die aus Frankreich stammt.
Im ersten Zug reduziert Fromberg Badious Denken auf einen "Hype", der zur "theoretischen Wundertüte" nur "hochgejazzt" sei. Dabei folge der Hype um Badiou dem um Agamben, dem der Hype um Hardt/Negri vorausging. Geht man weiter zurück, fallen einem andere Namen ein, d.h. weitere Hypes: Deleuze, Derrida, Foucault, Guattari, Lyotard. Alles Modedenker der rive gauche: "Je mehr davon auf der Bühne, desto besser die Show?", fragt Fromberg scheinheilig und gibt gleich selbst die Antwort: "Nein, solche Polemik reicht nicht aus, um das Phänomen Badiou zu verstehen."
Im von "dichten Sprachnebeln" umlagerten "Zauberwald" Badious, so Frombergs zweiter, vorgeblich unpolemischer Zug, "heideggert es kräftig", da "raunt" es von "Ereignis", "Subjekt" und "Situation", gar von "Treue" und "Entscheidung". Heidegger war zeitweise Nazi und Schüler Nietzsches, des philosophischen Vordenkers überhaupt der Nazis. Folglich ...
Auch dieser Zug wird zum zigsten Mal ausgespielt, heute gegen Badiou, zuvor gegen alle eben genannten Philosophen. Derart unter Verdacht gestellt, bleibt nur eins - mit offenen Karten spielen.
Zur Sache. a) Obwohl sich alle genannten Denker als Marxisten verstehen, beziehen sie sich ebenso auf Nietzsche und Heidegger und machen sich so des "Linksnietzscheanismus" oder "Heideggermarxismus" schuldig.
b) Sie tun das, weil sie die Krise der marxistischen Revolutions- und Subjekttheorie als Krise ihres Humanismus denken. Eine Wendung, die Marx selbst vorbereitet hat.
c) Badiou will nach Heideggers Dekonstruktion einerseits des Humanismus und andererseits des traditionellen Wahrheitsbegriffs neue, anti- bzw. posthumanistische Begriffe der Wahrheit, des Subjekts - und der Revolution gewinnen. Genau gelesen, bei all seinem Irrwitz, war das schon Heideggers Einsatz, und das begründet Badious Wahl: "Heidegger ist der letzte Philosoph, der universell anerkannt werden kann." (1)
Sprache der Situation und Subjekt-Sprache
Für Badiou beruht die "eigentliche Kraft von Heideggers Denken" darauf, "unerschütterlich an der Hauptunterscheidung von Wahrheit und Wissen oder von Erkenntnis und Denken" festgehalten zu haben. (2) Heidegger selbst trifft diese "Hauptunterscheidung" in dem berüchtigten Satz: "Die Wissenschaft denkt nicht." Der richtet sich nicht gegen die Wissenschaft, sondern nennt ihr "Glück" und die "Sicherung ihres eigenen festgelegten Ganges". Wohin führt dieser Gang? Knapp gesagt: zur objektiven Erkenntnis dessen, was objektiv ist, also der Tatsachen.
Heidegger sagt: zur "Richtigkeit" ihrer Berechnung. (3) Badiou sagt: "Wissen bezeichnet hier die Fähigkeit, kontrollierbare Benennungen in zulässige Verbindungen einzuschreiben." Sofern diese Fähigkeit auf jede "objektive Situation" bezogen, jede objektive Situation also durchgezählt und folglich benannt werden kann, gilt: "Wir setzen von nun an für jede Situation die Existenz einer Sprache der Situation voraus." (4) Andersherum: Eine objektive Situation ist die Menge der Tatsachen, die in der "Sprache der Situation" benannt werden. Weil man darüber unterschiedlicher Meinung sein kann, ist die "Sprache der Situation" auch der Ort, an dem Meinungen ausgetauscht werden.
Die Richtigkeit der "Sprache der Situation", d.h. des Wissens, ist für Badiou wie für Heidegger aber keine Wahrheit des Denkens. Das Denken bezieht sich nicht auf Tatsachen, sondern je auf ein Ereignis. Ereignisse haben ihre "Stätte" zwar stets in einer objektiven Situation, doch ist das Ereignis kein Gezähltes dieser Situation, keine objektive Tatsache. Ein Ereignis ist vielmehr das Ereignis einer Wahrheit, die es in der Situation vorher gar nicht gab. Es ist deshalb immer und prinzipiell "überzählig". (5) Darum sind das Ereignis und seine Wahrheit in der "Sprache der Situation" auch unbenennbar. Darum ist es "nötig, dass neben der Sprache der objektiven Situation, die das Kommunizieren der Meinungen ermöglicht, eine Subjekt-Sprache (Sprache der subjektiven Situation) existiert, welch letztere die Einschreibung einer Wahrheit ermöglicht". (6) Dies muss so sein, weil es Ereignisse und Wahrheiten nur insoweit "gibt", als sie einem Subjekt widerfahren und von ihm "bezeugt", also gedacht werden. Andersherum: Subjekte gibt es nur dort, wo Wahrheiten gedacht werden, theoretisch wie praktisch.
Badiou nimmt die Französische Revolution von 1789 zum Beispiel für die "Hauptunterscheidung" von Tatsachenwissen und Ereignisdenken und zugleich für das, was er "Wahrheitsereignis" nennt. Wird die Revolution zum Objekt des Wissens, dann schließen HistorikerInnen als zuständige WissensspezialistInnen "in das Ereignis ,Französische Revolution` alles mit ein, was die Epoche an Spuren und Tatsachen liefert. Auf diesem Weg - der das Inventar aller Elemente der Stätte ist - kann es passieren, dass das Eins des Ereignisses so weit zerlegt wird, dass es gerade nichts anderes mehr als die stets unendliche Aufzählung der Gesten, Dinge und Worte ist, die mit ihm koexistieren."
Anders verhält es sich für die RevolutionärInnen als DenkerInnen des Ereignisses, also z.B. für Antoine de Saint-Just, Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, Gefährte Robespierres. Badiou schreibt: "Wenn z.B. Saint-Just 1794 ausruft: ,Die Revolution ist erstarrt`, so verweist er gewiss auf eine Unendlichkeit von Kennzeichen des allgemeinen Überdrusses und Eingeschränktseins, aber er fügt jenes Eins-Merkmal, welches die Revolution selbst ist, als Signifikanten des Ereignisses hinzu (...). Von der Französischen Revolution muss man sagen, dass sie die unendliche Vielheit der Folge der zwischen 1789 und 1794 zu situierenden Tatsachen präsentiert und dass sie darüber hinaus sich selbst als immanente Zusammenfassung und Eins-Merkmal ihrer eigenen Vielheit präsentiert." (7) Wem präsentiert? Zuerst dem Subjekt der Revolution, also Saint-Just und den anderen RevolutionärInnen. Dann denen, die dem Ereignis in späteren Situationen denkend die Treue halten, also z.B. dem Maoisten Badiou. Das Wissen muss sich im Licht der Tatsachen von solchem Zauber freihalten. Dem Denken aber bleibt aufgegeben, seine Wahrheit zu denken.
Das Eins des Ereignisses und das Eins des Namens
Aber ist das nicht ein unverantwortlicher, sogar ungeheuerlicher Subjektivismus, eine Missachtung der objektiven Tatsachen zugunsten eines bloß subjektiven "Wahrheitsereignisses"? Hat Fromberg nicht einfach recht: ein Hype? Ja, wenn das Denken als Eigenschaft eines ihm vorausliegenden Subjekts verstanden würde: des transzendentalen Subjekts des Idealismus, des revolutionären Subjekts des traditionellen Marxismus oder, heutigem Alltagsverstand näher, schlicht als Eigenschaft des Menschen, also unserer selbst, wie wir gehen und stehen.
Für Badiou aber ist das Subjekt nur das "Eins eines Namens", der die "Inkorporation des Ereignisses in der Situation" benennt, zu deutsch seine Verkörperung: "Der Heilige Paulus für die Kirche, Lenin für die Partei, Cantor für die Ontologie, Schönberg für die Musik, aber auch Simon, Bernard oder Klara, wenn sie sich die Liebe erklären." (8) Begrifflich gefasst: Das Subjekt ist Name und Verkörperung einer ihm vorausliegenden Wahrheit, nicht umgekehrt. Allerdings, und daran hängt hier alles, bewährt sich diese Wahrheit nur in ihrer Bezeugung durch das Subjekt, in seiner Treue zur Wahrheit und zu sich. Diesen Zirkelschluss teilt Badiou wieder mit Heidegger, der zwar den Subjektbegriff ablehnt, im selben Zirkelschluss aber die Wahrheit dessen ausmacht, was er "Dasein" nennt: "Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen." (9)
Fern des Ereignisses, also unter den Tatsachen, gibt es kein Subjekt und kein Dasein, nur Menschen, Dinge, Vorfälle und Meinungen über Menschen, Dinge und Vorfälle. Vom Subjekt aber gilt: Es ist nicht ein und nicht "der" Mensch, obwohl es auch "in" Menschen ist, nicht als Tatsache, sondern als deine eigenste Möglichkeit.
Philosophie: Grenzwächterin im Wahrheitsstreit
Der Ort der näheren Bestimmung des Zirkels von Wahrheitsereignis, Ereignisdenken und Subjekt ist die Ethik. Beginnen heutige Ethiken oft mit dem Bösen (z.B. der Gewalt) und schließen von ihm aufs Gute (z.B. die Gewaltfreiheit), beginnt Badiou mit dem Guten, das er in der Wahrheit entdeckt (z.B. mit der Revolution als der Wahrheit der Politik). Das Böse ist deshalb nicht das Schlechte oder das Grausame, sondern der Verfall einer Wahrheit, ihre Korruption, die zugleich die Korruption ihres Subjekts ist. Dabei unterscheidet er drei Fälle.
Der erste ist der "Fall Heidegger". Der will die Revolution als "Kehre" denken und identifiziert sie im Nationalsozialismus. Damit erliegt er einem "Trugbild", der strategischen Vortäuschung einer Revolution (des Russischen Oktober) durch die Konterrevolution (NS-"Machtergreifung"). Ein Böses ist also, dem Trugbild einer Wahrheit zu verfallen.
Der zweite ist der vieler RevolutionärInnen, z.B. Saint-Justs, allen voran Stalins, aber auch Maos. Sie wollen das Wissen und die Meinungen gänzlich durch das Denken und die Wahrheit ersetzen und übersehen, dass beide ihre Situation nur "ergänzen", nie vollständig bestimmen können. Ein Böses ist also, die Geltung der Wahrheit "erzwingen" zu wollen.
Der dritte Fall ist der vieler GenossInnen Badious aus der 1968er-Generation. Zunächst ZeugInnen und DenkerInnen der Wahrheit des "roten Jahrzehnts", fallen sie später von ihr ab und "verraten" sie. Oft bedienen sie sich dazu des Wissens und lösen das Ereignis 68 in eine Unendlichkeit von Begebenheiten auf, denen kein "Eins-Merkmal" mehr zukommt: Der Verrat "ist ein Böses, von dem man sich nicht erholt". (10)
Im Widerstand gegen Trugbild, Erzwingung und Verrat kommen der Ethik zwei Umstände zugute. Der erste gehört zur Subjekt-Sprache, die ihre SprecherInnen stets in einen Streit verwickelt, der kein Meinungsstreit, sondern "innerparteilicher" Streit um die Wahrheit ist (der unaufhörliche Streit unter den Bolschewiki, zwischen StalinistInnen und TrotzkistInnen, zwischen MaoistInnen unterschiedlicher Fraktion usw.) Politisch bewährt sich das darin, dass eine tatsächliche "Subjekt-Sprache" eben nicht "Gemeinschaften" bindet, sondern "Massen" ent-bindet - eine Einsicht, die Badiou mit Negri teilt. (11) Der zweite liegt darin, dass der Prozess der Politik selbst nur einer von vier Wahrheitsprozessen ist und an den anderen drei (Wissenschaft, Kunst und Liebe) seine Grenze findet. Grenzwächterin des Wahrheitsstreits wie des Streits der Wahrheiten ist die Philosophie, die der Treue einen eigenen Ort schafft. Dem entspricht, dass die Treue nicht im dogmatischen Fixieren der Wahrheit, sondern in deren experimenteller Erprobung in wechselnder Situation besteht. Reicht das? Das gilt es, herauszufinden: auf der gefährlichen Grenze, die den Wahrheits- vom Meinungsstreit trennt.
Thomas Seibert
Ein längerer Aufsatz Thomas Seiberts zu Badiou und Negri findet sich in Christina Kaindl (Hg.): Subjekte im Neoliberalismus, Berlin 2007.
Anmerkungen:
1) Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis. Berlin 2005, S. 15. Heidegger denkt die Revolution im Begriff der "Kehre" (re-volutio). Zum Einstieg vgl. Martin Heidegger: Die Technik und die Kehre. Pfullingen 1962
2) Alain Badiou: Manifest für die Philosophie. Wien 1998, S. 70
3) Martin Heidegger: Was heißt Denken? Stuttgart 1992, S. 8
4) Anm. 1, S. 331 bzw. S. 370
5) ebd., S. 205
6) Alain Badiou: Ethik, Wien 2003, S. 107
7) Anm. 1, S 207
8) ebd., S. 441. Unbedingt zu empfehlen: Alain Badiou: Paulus. Die Begründung des Universalismus. München 2002
9) Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1984, S. 153
10) Anm. 6, S. 104, im Zusammenhang S. 95-113
11) Alain Badiou: Über Metapolitik. Zürich 2003, S. 83ff.