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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 527 / 18.4.2008

Von der Finanzkrise zum Ende des Dollar-Wall-Street-Regimes?

Auch Neoliberale rufen jetzt nach dem Staat

Unterschiedlicher könnte die Darstellung in den Medien nicht sein. Börsenberichte, die bis dahin im Wirtschaftsteil der Zeitung versteckt waren, machten in den 1990er Jahren fast täglich Schlagzeilen. Angefeuert von den Schlagworten Globalisierung und New Economy trieben die Zauberlehrlinge des Finanzkapitals die Wertpapierkurse in den USA und - mit leichtem Rückstand - Europa von einer Rekordmarke zur nächsten. Mittlerweile nun wird wieder im sachlichen Ton eine (Finanz-)Krise beschrieben und diskutiert, die auch die Zentren des kapitalistischen Weltsystems erfasst hat. Selbst neoliberale Ideologen sprechen offen von notwendigen staatlichen Interventionen, mit denen die Rezessionstendenzen überwunden werden könnten.

Dass zeitgleich mit dem herbeigeredeten Boom der 1990er Jahre die Wertschöpfung und Wertpapierkurse in Japan stagnierten und so genannte Schwellenländer in Asien, Osteuropa und Lateinamerika von Währungs-, Finanz- und Wirtschaftskrisen geplagt wurden, galt damals noch als Beweis, dass diese Weltregionen den neuen Geist des Kapitalismus noch nicht vollständig angenommen hätten. Noch einmal präsentierte sich der Westen als Vorbild für den Rest der Welt: Von Staatsintervention befreit und über das Internet mit den notwendigen Informationen über Umsatz und Kosten versehen, floss das Kapital, von der Schwerkraft maximaler Rendite angezogen, in einer globalisierten Welt automatisch den produktivsten Standorten zu. Deregulierung und Internet setzten nicht nur Wachstumsreserven frei, die bislang durch die Behäbigkeit staatlicher Bürokratien sowie die Bindung fixen Kapitals in Fabriken und Maschinen gehemmt waren. Sie führten darüber hinaus in eine virtuelle Welt, in der Ressourcenknappheit, Verteilungskämpfe um den Zugang zu materiellen Gütern samt der Inflation, die durch solche Kämpfe ausgelöst werden kann, als historischer Ballast abgeworfen werden konnten.

Nachdem die US-Ökonomie 2001 in eine schnöde Überproduktionskrise geschliddert war, wurde die Pop-Poesie, welche das Börsengeschehen in den 1990er Jahren als sexy Event beschrieben hatte, wieder durch den Buchhalterstil vergangener Zeiten ersetzt und vom Titelblatt in den Wirtschaftsteil zurückverwiesen. Nicht mehr Wirtschaftsfragen, sondern der lang anhaltende Krieg gegen den Terror beherrschten danach die Schlagzeilen. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet und im Gegensatz zu der euphorischen Stimmung der 1990er Jahre, diskutierten Wirtschaftskreise nunmehr die Gefahren billigen Geldes, übermäßiger Verschuldung und spekulativer Blasen. Von einer sich abzeichnenden Krise wurde schon während des von Immobilienspekulation und Kriegswirtschaft getragenen Aufschwungs gesprochen.

Börsengeschehen ist kein sexy Event mehr

Teilweise wurde die Skepsis gegenüber dem nach der kurzen Rezession 2001 einsetzenden Aufschwung durch das Schwinden der unter Clinton mühsam angesammelten Budgetüberschüsse ausgelöst. An die Stelle des 236,2 Mrd. US-Dollar Überschusses im Jahr 2000 war 2004 ein Rekorddefizit von 412,7 Mrd. US-Dollar getreten. Nach monetaristischer Auffassung schränken staatliche Defizite die Finanzierungsmöglichkeiten privater Unternehmen und Haushalte ein und sind daher abzulehnen. Andererseits verdienten private Unternehmen, insbesondere der Rüstungsindustrie, nicht schlecht an den unter Bush stark ansteigenden Staatsausgaben. Zudem spülten Steuergeschenke an Unternehmen und private Haushalte, insbesondere reiche, zusätzliche Kaufkraft in private Taschen.

Niemand musste die Rückführung des gerade erst entfesselten Weltmarktes in eine Staatswirtschaft fürchten; jedenfalls nicht bis zum Ausbruch der Immobilien- und Finanzkrise im Sommer vergangenen Jahres. Eher ist zu vermuten, dass auch unter den Anhängern des Neoliberalismus Zweifel verbreitet waren, ob die seit den frühen 1980er Jahren betriebene Politik der Umverteilung vom Lohn zum Mehrwert, und dabei insbesondere zu den Gewinnen von Finanzanlegern, anstelle der Akkumulation produktiven Kapitals nicht doch zur Überakkumulation fiktiven Kapitals führt.

Solche Zweifel haben neue Nahrung erhalten, seit die Immobilienpreise in den USA und einer Reihe anderer Länder purzeln, Finanzunternehmen weltweit die Buchwerte ihrer Vermögen nach unten korrigieren und uneinbringliche Forderungen abschreiben müssen, die Vergabe neuer Kredite zögerlich erfolgt und die Prognosen des realwirtschaftlichen Wachstums ein ums andere Mal gesenkt werden. Mit Zinssenkungen in den USA und Liquiditätsspritzen versuchen Zentralbanken nationale und weltweite Zirkulationsprozesse am Laufen zu halten. Um Bankenzusammenbrüche zu vermeiden, übernehmen Finanzminister die Schulden angeschlagener Geldhäuser, so bei Bear Stearns in den USA, Northern Rock in Britannien und der IKB-Bank in Deutschland. Um den Ausfällen privater Nachfrage wenigstens teilweise entgegenzuwirken, hat die US-Regierung Ausgabensteigerungen beschlossen, während der französische Präsident Sarkozy die Aussetzung der Neuverschuldungsgrenzen des Europäischen Währungssystems angekündigt hat, um sich ausgabenpolitischen Spielraum zu verschaffen.

Haushalte der Mittelklasse konsumierten eifrig

Zwar stehen sowohl die Sozialisierung von Unternehmensverlusten als auch antizyklische Staatsausgaben im Widerspruch zur reinen Marktlehre, in der private Unternehmen vom Staat unbehelligt ihre Gewinnchancen wahrnehmen können, aber auch zur Übernahme von Verlusten bereit sein müssen. Allerdings war das Krisenmanagement imperialistischer Mächte stets klug genug, die reine Lehre auf dem eigenen Territorium zwecks Herrschaftssicherung und Stabilisierung privater Gewinnströme bei Bedarf pragmatisch zu umgehen. Umso linientreuer konnte man sich ja gegenüber peripheren Staaten geben, denen der Neoliberalismus ggf. mit Hilfe von internationalen Wirtschaftsinstitutionen und außenpolitischem Druck beigebracht wurde.

Pragmatische Interventionen, die neoliberale Fünfe auch mal gerade sein zu lassen, sind nicht neu. Der mit der gegenwärtigen Krise zu Ende gehende Konjunkturzyklus unterscheidet sich von vorangegangenen Zyklen allerdings dadurch, dass die Finanzkrise die Zentren des kapitalistischen Weltsystems und nicht mehr die Peripherien erfasst hat. Mehr noch, neue Regionalmächte in Lateinamerika, vor allem aber in Asien, scheinen sich zu eigenständigen Zentren der Kapitalakkumulation zu entwickeln. Die Mischung aus Finanzkrise in den etablierten Zentren des Kapitalismus und befürchtetem Hegemonieverlust bildet die Kulisse, vor der das Führungspersonal des westlichen Finanzkapitalismus seine Strategiedebatten führt. Dabei sind durchaus ungewohnte Töne zu vernehmen. Unabhängig voneinander, aber in ähnlichem Sinne, haben jüngst US-Finanzminister Paulsen, der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF) Strauss-Kahn, Financial-Times-Chefideologe Wolf und Deutsche Bank-Chef Ackerman weitgehende Staatseingriffe zur Stabilisierung des Finanzsektors und zur Überwindung von Rezessionstendenzen gefordert.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass nun endlich, von den krisenhaften Entgleisungen deregulierter Märkte belehrt, eine Wiederkehr des Staates ins Haus stünde. Selbst in Zeiten marktradikaler Rhetorik war der Staat ja nicht abwesend, sondern - unter der Hegemonie organisierten Vermögensbesitzes - eine treibende Kraft des Neoliberalismus. Genauer wäre von einer Wiederkehr staatsinterventionistischer Rhetorik zu sprechen, die einen Kurswechsel der wirtschaftspolitischen Praxis andeuten könnte. Den Hintergrund dieser politisch-ideologischen Entwicklung bildet die ökonomische Erschöpfung des neoliberalen Akkumulationsmodells.

Von der US-Notenbank in die Höhe getriebene Zinsen, Steuersenkungen für die Vermögen besitzenden Klassen und steigende, kreditfinanzierte Staatsausgaben markierten in den frühen 1980er Jahren den von den USA ausgehenden Siegeszug neoliberaler Akkumulationsstrategien. Hohe Zinsen führten zu einer Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, die die eingespielten Lohnverhandlungen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften effektiv aushebelten. Als Folge hiervon wurde einerseits der von den Löhnen ausgehende Druck auf den Mehrwert vermindert, andererseits verschob sich die Verteilung des Mehrwerts vom industriellen Profit zu Zinsen und anderen Einkommen aus Finanzvermögen. Auf diese Weise gewannen die Besitzer solcher Vermögen Einfluss über Investitionen und Management des produktiven Kapitals. Mit dem Ziel einer Erhöhung der Mehrwertrate setzten sie die Einführung neuer Technologien, Unternehmenszusammenschlüsse sowie die Aus- und Verlagerung einzelner Abschnitte der Wertschöpfungskette durch. Gleichzeitig verschaffte ihnen der Besitz großer Mengen hochverzinslicher Staatsschuldpapiere entscheidenden Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dieser wurde genutzt, um soziale Standards im Inneren drastisch abzusenken und - in Zusammenarbeit mit den Finanzvermögenden anderer Länder und vermittelt durch Institutionen wie IWF, OECD und die Welthandelsorganisation WTO - ihnen die Märkte aller Herren Länder zu öffnen.

China, Russland und Indien sitzen auf Ersparnissen

In den 1990er Jahren schien die neoliberale Kärnerarbeit des vorangegangenen Jahrzehnts Früchte zu tragen. Der staatlichen Finanzpolitik konnten Budgetüberschüsse abgerungen werden, die den ohnehin gut geschmierten Börsen weitere Liquidität zuführten. Steigende Börsenkurse und die damit verbundenen Vermögensillusionen förderten die Investitionsneigung von Unternehmen und mehr noch die Konsumneigung von Mittelklassehaushalten, die im Glauben an ihren von der Börse geschaffenen Reichtum leichtfertig ihre Ersparnisse verhökerten. Nur in den Peripherien erreichte das neoliberale Akkumulationsmodell seine Grenzen - zum Vorteil der kapitalistischen Zentren unter Führung des US-Dollar-Wall-Street-Regimes. Eine Reihe von Finanzkrisen brachte Unternehmen, die vormals in staatlichem oder privatem Besitz nationaler Kapitalgruppen waren, in die Hände international operierender Anleger und spülte weitere Liquidität in die Börsen Nordamerikas und Westeuropas.

Der von Hochzinspolitik und Staatsverschuldung in Gang gestoßene Zyklus 1982 bis 1991 wurde von 1991 bis 2001 von einem Spekulationsboom abgelöst, der durch billiges Zentralbankgeld, staatliche Budgetüberschüsse und Freihandelsimperialismus gefördert wurde. Seit der Krise 2001 verfolgt die Wirtschaftspolitik eine Mischung aus den beiden vorangegangenen Zyklen. Aus der Reagan-Ära wurden die staatliche Nachfrageschaffung und von Clinton bzw. seinem Zentralbanker Greenspan das billige Geld übernommen. Die Spekulation verschob sich von den innovativen Unternehmen der Informationstechnik zu den Häuslebauern, die in ihrem Bemühen, lieb gewonnene Konsumgewohnheiten beizubehalten, ihr Dach über dem Kopf zum Pfandleiher trugen. Die Mischung aus Staatsnachfrage und Immobilienboom brachte in den Jahren 2001 bis 2006 nur noch ein durchschnittliches Wachstum von 2,4% zustande; die Vorgänger-Zyklen hat es noch auf 3,1% bzw. 3,0% jahresdurchschnittliches Wachstum gebracht. Zudem liefen die seit 1991 fast durchgängig zunehmenden Leistungsbilanzdefizite völlig aus dem Ruder, bis sie 2006 bei 811,5 Mio. US-Dollar gestoppt werden konnten. Seither leicht rückläufige Defizite sind jedoch mit massiv sinkenden Dollarkursen verbunden, die den zur Bedienung der mittlerweile in den USA ausstehenden privaten und öffentlichen Schulden notwendigen Zustrom frischen Geldes aus anderen Ländern bedroht.

Mit Blick auf den gesamten Zeitraum von Beginn der 1980er Jahre bis in die Gegenwart lässt sich ein durchgängiger Trend feststellen. Verschuldung und Börsennotierungen sind über die Zunahme der realen Wertschöpfung weit hinausgewachsen. Dabei standen je nach Zyklus mal die Staatsverschuldung, die Verschuldung privater Haushalte oder die Auslandsverschuldung im Vordergrund; dabei verschob sich ferner die Spekulation vom industriellen Sektor insgesamt über Unternehmen des Informationssektors zum Immobiliensektor und jüngst zu Rohstoffen. Als Folge dieses Entwicklungstrends ist der Anteil der Unternehmen des Finanzsektors an den Gesamtgewinnen von 5,7% im Jahr 1982 auf 26,6% im Jahr 2006 angestiegen, während der Anteil der verarbeitenden Industrie von 35,5% auf 16,6% zurückgegangen ist.

Der Unternehmenssektor insgesamt war von der Schuldenakkumulation noch am wenigstens betroffen und konnte sich als Folge verschärfter Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft und der Ökonomisierung des konstanten Kapitals einer steigenden Profitrate erfreuen. Angesichts einer hoch verschuldeten Kundschaft, die über drei Jahrzehnte Vermögensbestände aller Art - vom Eigenheim bis zu privatisieren Versorgungsnetzen - in eine von astronomischen Börsenumsätzen geschaffene Vermögensillusion aufgelöst hat, müssen sich die Unternehmen des nicht-finanziellen Sektors mittlerweile jedoch gehörige Absatzsorgen machen. Ausstehende Schulden, Rezession und Dollarverfall stellen die Führungsrolle der USA zur Disposition; umso mehr, als mit China, Indien und Russland mittlerweile drei bevölkerungsreiche Länder auf enormen Ersparnissen und Devisenreserven sitzen, die den neoliberalen Tugenden von Sparsamkeit und harter Arbeit weit mehr entsprechen als der ökonomische Schlendrian der sich liberal verstehenden Bourgeoisien des Westens.

Ingo Schmidt

Alle Daten im Text aus: Economic Report to the President, Washington DC 2007