Wissenschaftliche Wahrheit und politische Richtigkeit
Anmerkungen angesichts der Wahrheitskonzeption Badious
Frieder Otto Wolf hat in ak 525 darauf hingewiesen, dass Badiou seinen Ausgangspunkt von den philosophischen Initiativen Louis Althussers genommen hat. In Anbetracht der Bauchschmerzen, die Badious "geradezu ,platonisierende`" Wahrheitskonzeption auch Frieder Otto Wolf zu bereiten scheint und vor allem in Anbetracht der beiden folgenden Beiträge in ak 526 (von denen der von Daniel von Fromberg das "maoistische" Kind mit dem platonischen Bade, in das es Badiou gesteckt hat, auszuschütten scheint) dürfte es nützlich sein, an die von Althusser vorgeschlagene Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und philosophischer Richtigkeit (da die Philosophie, nach Althusser, die Politik in der Theorie repräsentiert, könnten wir wohl auch sagen: politische Richtigkeit) zu erinnern.
Frieder Otto Wolf sagt, in der Politik gehe es nie nur um bloße Konflikte, sondern immer auch darum, Lösungen für Probleme zu finden. Zu Recht lässt sich wohl sagen, dass sich die Frage, ob etwas eine "Lösung" für ein "Problem", d.h. ob etwas ein Mittel ist, um einem als Problem klassifizierten Zustand abzuhelfen, mit Wahrheitsanspruch beantworten lässt. Durchaus anders gelagert scheint aber die Frage zu sein, ob ein bestimmter Zustand überhaupt als Problem eingeschätzt wird.
Frieder Otto Wolf hat Recht, dass derartige Problemdefinitionen nicht bloße subjektive Präferenzen, keine bloßen Geschmacksfragen sind. Vielmehr lässt sich über politisch-moralische Maßstäbe, an denen wir Realität messen und dann bestimmte Zustände als "Probleme" klassifizieren, begründet streiten. Aber: Derartige Maßstäbe sind nicht beweisbar. Althusser sagt: "Da philosophische Thesen nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Nachprüfung sein können, können sie auch nicht als ,wahr` (als bewiesen oder nachgeprüft, wie in der Mathematik oder Physik) bezeichnet werden."
Nehmen wir das Beispiel von Klaus-Peter Lehmann, "die unverantwortliche Lagerung des Atommülls, dessen notwendig sicheren Verschluss auf mehr als tausend Generationen niemand garantieren kann". (ak 526) Was sich mit naturwissenschaftlichen Methoden ermitteln lässt, sind die Folgen, die radioaktive Strahlen auslösen können, welche minimalen Lagerbedingungen einzuhalten sind, um die Risiken zumindest zu minimieren; und vielleicht können uns die Wissenschaften sogar darüber aufklären, wie wahrscheinlich es ist, dass die im Moment bekannten bzw. eingesetzten Lagermethoden versagen, bevor die Strahlung hinreichend abgeklungen ist.
Erkennen, bewerten und entscheiden
Der Historische Materialismus (oder wem/welcher das lieber ist: Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft) wird uns über die Entstehungsbedingungen der neuen sozialen Bewegungen (vorliegend: der Ökobewegung), über die Interessen und Akkumulationsstrategien unterschiedlicher Kapitalfraktionen (Konkurrenz der unterschiedlichen Energieträger und Zulieferindustrien) aufklären können, aber ob die Nutzung der Atomenergie deshalb verantwortbar oder vielmehr "unverantwortlich" ist, lässt sich nicht beweisen.
Für die eine wie für die andere Auffassung lassen sich bessere oder schlechtere Argumente, aber keine Beweise anführen (1), und deshalb müssen politische Entscheidungen getroffen werden. Diese Entscheidungen kann die Politik - wie wir in Anlehnung an Frieder Otto Wolf formulieren können - nicht "als fertige Münze" aus den Wissenschaften übernehmen. Der Unterschied zwischen erkennen, bewerten und entscheiden lässt sich auch durch die Zusammenfügung der Termini "Wahrheit" und "Politik" zum Terminus der "Wahrheitspolitik" nicht aufheben. (2)
Deshalb wäre es nicht nur methodisch (demokratietheoretisch) fragwürdig, sondern auch von vornherein illusorisch anzunehmen, es wäre möglich, einen Atomausstieg "über wechselnde Macht- und Mehrheitsverhältnisse" hinweg zu garantieren. Das Ende der Geschichte lässt sich niemals garantieren.
Nehmen wir noch ein etwas anders gelagertes Beispiel aus dem Artikel von Frieder Otto Wolf. Er schreibt: "Auch wenn nur eine Minderheit ,meint`, dass es keine ,Gerechtigkeit` und auch keine ,Freiheit` geben kann, solange die kapitalistische Produktionsweise herrscht, ist dies doch eine Wahrheit, für die wahrheitspolitisch zu kämpfen zu den vornehmsten Aufgaben radikaler Philosophie gehört."
Je nach Definition von "Freiheit" und "Gerechtigkeit" mag sich dieser Satz beweisen lassen - für den Kampf gegen die kapitalistische Produktionsweise ist damit aber fast nichts gewonnen, denn was in der Diskussion über die kapitalistische Produktionsweise umstritten ist, ist weniger jene Beweisfrage als vielmehr das Verständnis der Begriffe "Freiheit" und "Gerechtigkeit" und vielleicht auch noch, ob bestimmte Erscheinungen in der Realität notwendige Folge der kapitalistischen Produktionsweise oder das vermeidbare Produkt spezifischer Konstellationen sind.
Althusser sprach "von einem wissenschaftlichen, unwiderruflichen Kern im Marxismus" und sagte, dass die "Proletarier" - wir können allgemeiner sagen: die Ausgebeuteten und Unterdrückten - diesen "Kern" verteidigen sollten, denn sie brauchen "objektive, verifizierte und verifizierbare, kurz: wissenschaftliche Erkenntnisse (...), um nicht nur in der Phrase, sondern tatsächlich über ihre Klassengegner zu siegen".
Wissenschaftlicher Kern und politisches Programm
Und er grenzte diese Haltung ab "nicht nur (von) den Bürgerlichen, die natürlich dem Marxismus jeden wissenschaftlichen Charakter absprechen, sondern auch denjenigen, die sich mit einer persönlichen oder angenommenen, durch ihre Phantasie oder ihren kleinbürgerlichen ,Wunsch` fabrizierte ,Theorie` zufriedengeben oder die jeden Gedanken an eine wissenschaftliche Theorie bis hin zu den Worten ,Wissenschaft` und sogar ,Theorie` ablehnen unter dem Vorwand, dass jede Wissenschaft und sogar jede Theorie ihrem Wesen nach ,verdinglichend`, entfremdend und folglich bürgerlich seien".
Aber - soviel sei Althusser hinzugefügt: Wir haben nur dann Grund, von einem wissenschaftlichen Kern im Marxismus zu sprechen, wenn wir diesen wissenschaftlichen Kern nicht mit dem politischen Programm des Marxismus verwechseln. Ansonsten erweisen sich auch die marxistischen "Wahrheiten" wieder einmal als nicht aus der Realität, sondern aus Wünschen fabriziert - und deshalb als ungeeignet, um in der Realität zu siegen.
D.h.: Wenn überhaupt eine Verteidigung der Kategorie der Wahrheit möglich und nötig ist (und mir scheint, sie ist sowohl möglich als auch nötig), dann nur auf der Grundlage einer sehr engen Definition des Bereichs der potenziell wahrheitsfähigen Aussagen: Es gibt nur konkrete wissenschaftliche Wahrheiten, aber - anders als Badiou meint - keine "politische Wahrheit", die noch dazu die Philosophie produzieren könnte.
Es gibt keine "politische Wahrheit"
Mit dem Insistieren auf diesem Unterschied wird nicht verkannt, dass es - genauso wie es in Politik und Philosophie Diskussionen darüber gibt, was richtig ist - auch in den Wissenschaften Diskussionen darüber gibt, was wahr ist. Der Typ der jeweils akzeptablen Argumente aber ist unterschiedlich; deshalb macht es auch einen Unterschied, ob sich eine wissenschaftliche Behauptung als Irrtum (oder gar als Fälschung) herausstellt oder ob eine philosophische These als falsch klassifiziert wird.
In Politik und Philosophie haben wir von vornherein mit "Parteien" und "Parteilichkeit" zu rechnen; in den Wissenschaften ist dagegen die diskursive Grundlage, erkennen zu wollen, was ist (warum es ist und welche Entwicklungsmöglichkeiten es enthält) - bei allen wissenssoziologisch identifizierbaren Schwierigkeiten, die der Realisierung dieses Anspruches immer wieder entgegenstehen, und unabhängig davon, welche Nutzanwendungen aus gewonnenen Erkenntnissen anschließend gezogen werden und wie politische Interessen vielleicht schon die Formulierung der Fragen beeinflussen. (3) Wer/welche diesen Anspruch nicht teilt, sondern meint, "wissenschaftliche Erkenntnisse" nach Maßgabe politischer Parteilichkeit produzieren zu können, schließt sich selbst aus dem wissenschaftlichen Diskurs aus.
"Die Tätigkeit radikaler Philosophinnen und Philosophen (...) kann der wissenschaftlichen Forschung (...) nicht vorweggreifen. (...) Das Philosophieren radikaler Philosophinnen und Philosophen kann (auch) eine strategisch erfolgreiche Politik der Befreiung weder ersetzen noch herbeiführen. Sie kann nur (...) den ,Boden bereiten` für deren wirkliche Debatten." (4)
Detlef Georgia Schulze
Anmerkungen:
1) "Verantwortlich" ist kein analytischer Begriff, sondern eine normative Kategorie. Seine Definitionen können nicht wahr oder irrtümlich sein (den allein linguistisch interessanten Fall hier beiseitegelassen, dass jemandE behauptet ",verantwortlich` bedeutet doch dies" und dann auf eine Mandarine zeigt), sondern richtig oder falsch.
2) Als Einspruch gegen die technokratische Utopie, sozialistische oder kommunistische Planung sei bloße "Verwaltung von Sachen", bloße Anwendung ingenieur, natur- und wirtschaftswissenschaftlicher Wahrheiten und nicht auch Prioritätensetzung, gegen die Illusion, der Kommunismus bedeutete nicht nur das Ende des Staates, sondern auch das der Politik, sei die Intention, die Frieder Otto Wolf mit der "Wahrheitspolitik" verbindet, hier ausdrücklich geteilt. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt sei gefragt, ob es wirklich nützlich ist (und wenn ja wofür), beide Aspekte - den Aspekt der Anwendung von Erkenntnissen und den des Treffens politischer Entscheidung - in dem einen Ausdruck "Wahrheitspolitik" zusammenzufassen.
3) Wer/welche etwas hinzuerfindet oder mutwillig etwas weglässt (obwohl er/sie es erkannt hat), weil es ihm oder ihr politisch oder persönlich in den Kram passt, betreibt keine Wissenschaft, sondern Manipulation. Deshalb verträgt der Wissenschaftsbegriff keine Zusätze wie "bürgerlich" oder "proletarisch". Entweder ist es Wissenschaft oder es ist keine. Zwar mag es Sinn haben, von wissenschaftlichem Sozialismus, Feminismus etc. zu sprechen - wenn eine theoretische Formation neben ideologischen auch wissenschaftliche Elemente enthält. Aber die Umkehrung von Adjektiv und Substantiv (sozialistische Wissenschaft etc.) ist zurückzuweisen. Die Wissenschaften sind objektiv oder sie sind nicht.
4) Frieder Otto Wolf: Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in neuer Zeit. Münster 2002, S. 116f.