Gelehrige Blicke, disziplinierte Körper
Film als Instrument einer Geschichte der Wissensvermittlung
Auf den ersten Blick scheint die Geschichte der (Natur-)Wissenschaften mit jener des Kinos nicht allzu viele Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Vergleicht man beide Bereiche, ist indes unverkennbar, dass filmische Technologien implizite Bestandteile der Produktion und Distribution (populär-)wissenschaftlichen Wissens sind und waren. Ramón Reicherts "Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens" setzen bei der Entstehungsgeschichte der Macht-Wissen-Allianz von Wissenschaft und Kino an - einem Dispositiv, das nicht jünger als die gesamte Geschichte des Kinos ist.
Dispositive - und dies gilt auch für den Bereich des visuellen Feldes - sind Verschränkungen gesellschaftlicher Technologien von Macht und Wissen, die hegemoniale Einstellungen, Werte und Wahrnehmungsweisen hervorbringen und vermitteln. Ein besonders potenter Fall einer derartigen Verschwisterung liegt im Fall von Kino mit wissenschaftlichem Wissen vor. Der Film hat nicht einfach nur eine neue Kultur der Wahrnehmung geschaffen, indem er das Empfinden von Raum und Zeit verändert und dadurch eine veritable "Wahrnehmungskrise" ausgelöst hat. Mit dem Film wurde auch der Grundstein für die Entdeckung von Gegenständen gelegt, die außerhalb davon unsichtbar geblieben wären. Film ist somit keine Kultur des mimetischen Abbildens, sondern vielmehr - um mit Bruno Latour zu sprechen - eine Technologie zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren.
Bestandteil jenes vagen Terrains des Unsichtbaren waren bis vor wenigen Jahrzehnten nicht nur die durch mikroskopischen Beistand im Labor sichtbar gemachten Gene und Mikropartikel, sondern ebenfalls das grobe Ganze, dem diese entnommen wurden: die lebendigen Körper. Vormals durch fotografische Momentaufnahmen mortifiziert, gelang es dem Film, erstmals Körper in Bewegung darzustellen. Körper konnten - und dies war davor noch ein Traum, den Wissenschaft und Kino gemeinsam geträumt hatten - mit Hilfe der neuen Technologie möglichst lebensnah, d.h. bewegt gezeigt werden.
Wahrnehmungskrise: Körper in Bewegung
Der Film und die Wissenschaft vom Lebendigen sind einander nicht erst auf der Leinwand begegnet. NaturwissenschafterInnen waren an der Erfindung des Films von Anfang an beteiligt. Mit der Erfindung des Films gingen mehrere Umwälzungen innerhalb der Ordnung der wissenschaftlichen Disziplinen einher. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist die Ablösung der mit statischen Tableaus operierenden Anatomie durch die auf das Studium des lebendigen Körpers ausgerichteten Physiologie. Als die Körper das Laufen lernten, konstituierte sich die Biologie als eigenständiger Gegenstandsbereich der Naturwissenschaft. Das innerhalb der Anatomie gebräuchliche Tableau wird mit dem Auftauchen des Bewegtbildes obsolet, Physiognomie und Biologie lösen die alte Wissenschaftsdisziplin ab.
Film auch ein Mittel der Disziplinierung
Derartige Entwicklungen stehen nur am Anfang einer parallel verlaufenden Geschichte von Film und Wissenschaft, deren Wechselwirkungen der Kulturwissenschafter Ramón Reichert nachzeichnet. Er behandelt Film und Wissenschaft nicht ausschliesslich als Verfahren der Wissensgenerierung, sondern vielmehr als soziale Technologien. Sie haben Anteil an der Schaffung hegemonialer Denk- und Deutungsmuster sowie der Etablierung der dazugehörigen Wahrnehmungsweisen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der filmischen Popularisierung medizinischen "Wissens" während der NS-Zeit. Reicherts exemplarische Analyse des auf "Sozialhygiene" abzielenden NS-Films zeigt, wie sehr der Film in diesem Fall als Propagandamittel im Dienste "der Volksgesundheit" operierte.
"Im Kino der Humanwissenschaften" finden sich fünf Fallstudien zu unterschiedlichen, historisch kontingenten Praktiken der "Wissens"-Popularisierung. So beschäftigt sich der Autor im Kapitel "Medientechniken des Unbewussten" mit der Entstehung der Hysterie, die parallel zum Einsatz der Fotografie in psychiatrischen Kliniken entsteht. Die Kapitel "Zeichentrick im Effizienzfieber" und jenes zum "Produktivitätsfilm" der 1950er Jahre thematisieren die Rolle des Films im Kontext der gesellschaftlichen Implementierung der Idee der Produktivitätssteigerung. Produktivitätsfilme vermitteln Vorstellungen von hierarchischer Arbeitsorganisation und ,guter' betrieblicher Führung. Ein abschließendes Kapitel ist dem Einsatz von Medien im Kontext des "Stanford Prison Experiments" von 1971 gewidmet.
Reicherts Analysen zeigen vor allem eines: Film ist insbesondere dort, wo dieser in didaktisch zugerichteter Form auftritt, nicht einfach eine Freizeittechnologie oder "harmlose" Unterhaltungsform. Entgegen zeitgenössischer Bildtheorien, die sich in Spiegelstadien-Theorien oder einfachen Liebesbekundungen zu den Bildern erschöpfen, sind Bilder auch Instrumente, die das Versprechen des fordistisch ausgerichteten Systems der Disziplinierungen unter veränderten politischen Vorzeichen vollenden. Als "ultraschnelle Kontrollform mit freiheitlichem Aussehen" (Gilles Deleuze) haben Filme ebenso in postfordistischen Disziplinargesellschaften die Aufgabe zu subjektivieren und damit auch zu unterwerfen.
Die politische Dimension filmischer Wissensvermittlung sowie die latenten und manifesten Bedeutungsgehalte des Lehrfilms analysiert Reichert mit Präzision und Scharfblick. Soziale und philosophische Theorie wird - dem Trend zur "reinen" Empirie entgegengesetzt - nicht so gebraucht, dass diese als überflüssiges Beiwerk oder ein den Blick aufs Wirkliche verstellendes Supplement erscheint. Vielmehr setzt Reichert bestehende Theorien so ein, dass sie - ganz im etymologischen Sinn - sehend machen. Ein derartiges Vorhaben schließt auch die Sensibilität gegenüber Geschlechterrepräsentationen mit ein. Wenn Reichert einen Lehrfilm aus dem Jahr 1952 mit dem Titel "Jede Frau kann zaubern" analysiert, tut er dies im Wissen darum, dass es ebensolcher Filme bedarf, um weibliche und männliche Identitäten überhaupt erst herzustellen.
Barbara Eder
Ramón Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens. Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 298 S., 29,80 EUR