Hüterin der deutschen Nation
"Weiße Weiblichkeiten" - deutscher Kolonialismus und Frauenbewegung
Erst seit einigen Jahren werden sowohl postkoloniale Kritik als auch kritische Weißseinsforschung im deutschsprachigen Raum breiter rezipiert. Umso erfreulicher ist die innovative Anwendung beider Theorieströmungen auf die Untersuchung des deutschen Kolonialismus, die Anette Dietrich mit ihrem Buch "Weiße Weiblichkeiten. Konstruktion von ,Rasse` und Geschlecht im deutschen Kolonialismus" vorgelegt hat.
Dietrich zeichnet zunächst die Grundzüge der postkolonialen Theorie/Critical Whiteness Studies und daran anschließend neue Theorien über die Nation nach, bevor sie nacheinander den deutschen Kolonialismus, das Verhältnis von Rassismus und Kolonialismus, Frauen und Kolonialismus sowie die Debatten der bürgerlichen Frauenbewegung behandelt. Bei ihrem Überblick über postkoloniale Studien und kritische Weißseinsforschung unterstreicht die Autorin die wichtigen Impulse, die von beiden Theorierichtungen ausgegangen sind. Es geht diesen nämlich nicht mehr nur darum, rassistische Sichtweisen in der Konstruktion des "Anderen", des "Fremden" zu analysieren. Vielmehr wird jetzt kritisch das weiße privilegierte Subjekt als unmarkierte Norm in den Blick genommen, das ebenso rassifiziert ist wie die rassifizierten Objekte.
Edward Said, dessen Buch "Orientalism" als Klassiker der postkolonialen Theorie gilt, hat den deutschen Kolonialismus im Vergleich zu den Kolonialmächten England und Frankreich als kurzlebig und marginal dargestellt. Dietrich zeigt unter Rückgriff auf die neuesten Forschungsergebnisse, dass diese Aussage nicht haltbar ist. Vielmehr erstreckt sich die Wirkmächtigkeit von Deutschland als Kolonialmacht nicht nur auf den tatsächlichen Besitz der Kolonien seit der Berliner Afrikakonferenz 1884 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges; postkoloniale und kulturwissenschaftliche Ansätze beziehen darüber hinaus auch diskursive, wirtschaftliche und kulturelle Praxen mit ein. Demnach war Deutschland schon vorher, etwa durch Handelsvertreter oder später durch Vereine, die die Wiedererlangung der deutschen Kolonien forderten, in ein koloniales Projekt verstrickt, das über die rund 30jährige Kolonialherrschaft weit hinausging.
Im zweiten Kapitel erläutert die Autorin, wie in den zeitgenössischen nationalistischen Ideologien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts über den Entwurf eines "Volkskörpers" eine Äquivalenzbeziehung zwischen der Nation und dem Körper der weißen Frau hergestellt wurde. Deren Sexualleben wurde mit dem Wohl der Nation verknüpft, und die Rassenhygiene sollte die "Reinhaltung" der Nation und "Rasse" gewährleisten. Dabei konstatiert Dietrich in den verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung seit den 1860er Jahren einen Umschwung von einem anfänglich dominierenden egalitären Geschlechterkonzept hin zu einem Feminismus, in dem die Doktrin der "geistigen Mütterlichkeit" hegemonial wurde. Geschlechterungleichheit konnte so von imperialen Frauenverbänden wie dem Deutsch-Kolonialen Frauenbund oder dem Flottenbund deutscher Frauen als positiv gedeutet werden.
Dietrich zeigt weiterhin, dass sich Frauen aktiv an der Werbung für Kolonialismus und Kolonialgesellschaft beteiligten. Vorbehalte gegen eine Einbeziehung von Frauen in die Kolonialpolitik konnten besonders durch den Kolonialenthusiasmus nationalistischer Frauen ausgeräumt werden. Bereits in den 1890er Jahren und um die Jahrhundertwende hatte sich eine rege Debatte um die Frage entsponnen, wie der so genannten "Verkafferung" männlicher weißer Siedler durch intime Kontakte zu afrikanischen Frauen entgegengewirkt werden könne. Der Koloniale Frauenbund propagierte deshalb die gezielte Einwanderung weißer Frauen.
Aufgrund der inhaltlichen Anknüpfungspunkte zwischen Kolonialbewegung und bürgerlicher Frauenbewegung kam es zu einer wechselseitigen Annäherung des Kolonialen Frauenbundes und der bürgerlichen Frauenbewegung. Zwar grenzte sich der Koloniale Frauenbund in den Jahren 1907 bis 1909 explizit gegen die Frauenbewegung im Deutschen Reich ab, berief sich auf die Werte der Mütterlichkeit und sah sich als Akteur in einem "Rassenkrieg". Doch auch die Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung wie der Bund für Mutterschutz und Sexualreform sahen die Lösung des "Problems" der "Rassenmischung" in einer stärkeren Position der weißen Frau.
Zu monieren bleibt an Dietrichs Studie einzig der unkritische Gebrauch des Begriffs von der "Krise der Männlichkeit". Dies ist deshalb problematisch, weil suggeriert wird es gäbe eine einzige, "wesentliche" Männlichkeit als Norm. Wie die kritische Männlichkeitsforschung betont, steht dieser Krisentopos deshalb immer in der Gefahr, Männlichkeit zu essentialisieren und nicht als sozial konstruiert, historisch variabel und von Kategorien wie "Rasse", Klasse oder Region überdeterminiert zu verstehen. Wenn es aber die Männlichkeit nicht gibt, macht auch die Rede von der "Krise der Männlichkeit" keinen Sinn. Die Verwendung des Krisenbegriffs irritiert umso mehr, als die Autorin in ihrem Buch an vielen Stellen den Konstruktcharakter von Geschlechteridentitäten betont.
Philipp Dorestal
Anette Dietrich: Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von "Rasse" und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007, 432 Seiten/Euro 32,80