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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 529 / 20.6.2008

Zur Geschichte einer anderen Oppositionspolitik

Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken

"Neue Linke" und außerparlamentarische Opposition der BRD werden weitgehend mit der antiautoritären Bewegung der 1960er Jahre gleich gesetzt. Nicht nur im kollektiven Gedächtnis und der medialen Öffentlichkeit werden "Die 68er" auf die radikalen Forderungen und spektakulären Aktionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) fokussiert. Auch die historische Forschung legte bisher den Schwerpunkt auf die protestierenden StudentInnen und die Folgen ihrer Revolte sowie auf die "Frankfurter Schule" als deren Theorie stiftende kritische Wissenschaft. Angesichts dieser unübersehbaren "Eruption" waren die früher einsetzende und langfristig aber unauffälliger agierende linkssozialistische Strömung und ihre "Marburger Schule" aus dem Blick geraten.

Richard Heigl bereichert die 68er-Forschung um eine umfassende Darstellung dieser an der Arbeiterbewegung orientierten reformmarxistischen Strömung im Kontext der Jahre 1950 bis 1968. Die Linkssozialisten, die theoretisch den Reformmarxismus der Weimarer Zeit weiterentwickelten und praktisch auf langfristige Strategie und realpolitische Schritte setzten, hatten seit Mitte der 1950er maßgeblich zur Formierung der Neuen Linken in der BRD beigetragen und damit Voraussetzungen für die 68er Bewegung geschaffen.

"Neue Linke" setzt Heigl als Sammelbegriff für sozialistische und marxistische Gruppen in den industrialisierten Demokratien in Europa und Nordamerika.

Für eine nonkonformistische Erneuerung

Diese hatten sich seit Mitte der 1950er Jahre von der "Alten Linken" stalinistischer oder kautskyanistischer Prägung abgegrenzt und formierten sich zu einer nonkonformistischen Erneuerungsbewegung innerhalb und außerhalb von Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Neu daran war insbesondere, dass sie auch die außerparlamentarische Opposition als Option sahen und Marxismus nicht mehr auf Parteiorganisation fixierten.

Im Mittelpunkt von Heigls Studie steht Wolfgang Abendroth - Jurist und Professor für Politologie - dessen exponierte Stellung in dem für diese Strömung ebenfalls gebräuchlichen Begriff "Abendroth-Schule" zum Ausdruck kommt. Abendroth hatte seit 1951 den politikwissenschaftlichen Lehrstuhl der Universität Marburg inne. Er gründete und leitete das Marburger Institut für wissenschaftliche Politik (IwP), das wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) zu einem Zentrum kritischer Sozialwissenschaft in Westdeutschland wurde.

Wie andere Stalinismusgegner aus den marxistischen Splittergruppen der Weimarer Zeit gehörte Abendroth bis zu seinem Parteiausschluss1962 (1) zum linken Flügel der Sozialdemokratie; die Entwicklung der SPD von der Arbeiterpartei zur Volkspartei versuchte er in der Debatte um das neue Parteiprogramm von 1959 zu verhindern.

Zu seinen erklärten Zielen gehörten die Einheitsfront zur Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung, der Abbau autoritär hierarchischer Parteistrukturen, der Aufbau einer marxistischen Gegenhegemonie und der Schutz der Demokratie gegen totalitäre Herrschaft.

Als "radikaldemokratischer" Sozialist sah er den Sozialismus als ungekürzte Demokratie und maß dem demokratischen und sozialen Rechtsstaat einen zentralen Stellenwert für die westdeutsche Arbeiterorganisation bei. Im Grundgesetz sah er einen Kompromiss, der die Klassengegensätze im Gleichgewicht hält und einen friedlichen Wandel zum Sozialismus ermöglicht. Die Aufgaben der wissenschaftlichen Politik sah er in der Verbindung von Theorie und Praxis und in einer pluralistischen Basis für dialektisch-kritische Wissenschaft, die vernetzt und gegen Angriffe gesichert werden musste und in allen gesellschaftlichen Institutionen wirksam werden sollte.

Bereichernd, aber geschlechtsblind

Heigl stellt die Positionen Abendroths in den Wirkungszusammenhang mit den Auseinandersetzungen der 1950er und 1960er Jahre: Dazu zählen zum Beispiel die Flügelkämpfe innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung und die Hegemoniebildung der LinkssozialistInnen in der außerparlamentarischen Opposition der Ostermarschbewegung und der Bewegung gegen die Notstandsgesetze sowie im SDS. Auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Reformmarxismus der Marburger Schule und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sowie auf die Herausforderung durch die antiautoritären Linken werden Abendroths Positionen ausführlich beleuchtet. Mit seinem Beitrag schließt Heigl eine Lücke in der Nachkriegsgeschichte und ermöglicht eine differenziertere Betrachtung der gesellschaftlichen Konflikte dieser Zeit.

Ein Schwachpunkt dieses gut lesbaren und sehr informativen Beitrags zur Geschichte der Linken in der BRD ist die Geschlechtsblindheit, die sich durch das ganze Buch zieht. Es fehlt der Hinweis, dass es sich um einen Beitrag zur Männergeschichte handelt. Im Zusammenhang mit Fragen nach Erfolg und Misserfolg der Neuen Linken müsste zumindest in der Einleitung problematisiert werden, dass es sich um eine männerdominierte Bewegung handelte, die dem Verhältnis der Geschlechter keine Bedeutung beimaß. Ihre Suche nach dem neuen revolutionären Subjekt und ihre Fragen nach der Bedeutung von Randgruppen oder der Funktion von Bewegungen bezogen sich auf den männlichen Teil der Bevölkerung. Dieser Androzentrismus zeigt sich auch in der Diskussion der Wissenschaftler über ihre Funktion als Intellektuelle: Diese Frage war in den 1950er Jahren nur für Männer relevant. Frauen gelangten aufgrund ihres Geschlechts so gut wie nie in wissenschaftliche Positionen.

Hilde Hoherz

Richard Heigl: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Bildung der Neuen Linken (1950-1968), Hamburg 2008, 378 Seiten, 24,80 EUR

Anmerkung:

1) Unvereinbarkeitsbeschluss 1961: SDS-Mitglieder werden aus der SPD ausgeschlossen.