Veränderung beginnt mit Opposition
Soziale Bewegungen in Deutschland seit 1945
Bis auf die lesenden Damen und Herren in den Verfassungsschutzämtern dürften alle ak-AbonnentInnen irgendwann mal Teil einer sozialen Bewegung gewesen sein. Denn: Wer in Deutschland gesellschaftskritisch unterwegs ist, kommt spätestens seit den 1970er Jahren an der Initiativen-Welt und den von ihr ins Leben gerufenen Aktionen nicht vorbei. Egal ob Frauen-, Friedens-, Anti-AKW- oder Schwulenbewegung - sie alle hatten und haben einen Einfluss auf Politisierungsprozesse und gesellschaftliche Diskurse. Über Erfolg oder Misserfolg kann je nach Perspektive gestritten werden.
Roland Roth und Dieter Rucht haben jetzt ein Handbuch mit dem Titel "Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945" herausgebracht, das mit 21 Aufsätzen unterschiedlicher AutorInnen einen umfassenden Überblick bietet. Die Herausgeber haben als "Urgesteine" der deutschen Bewegungsforschung für das 770 Seiten starke Werk die Einleitung geschrieben; im Schlusskapitel ziehen sie eine kritische theoretische und empirische Bilanz. Hilfreich sind auch sechs Artikel, in denen für die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der BRD bzw. der DDR der historisch-politische Entstehungskontext des Protests aufgerissen wird.
Auf jeweils 20 bis 30 Seiten werden neben den "klassischen" neuen sozialen Bewegungen Frauen-, Friedens, Umwelt-, Anti-AKW- und Bürgerrechtsbewegung auch die Arbeiter- und Studentenbewegung behandelt. Weitere Aufsätze zu "Städtische soziale Bewegungen", Dritte-Welt-Bewegung, Schwulenbewegung, "Jugendproteste und Jugendkonflikte", "Mobilisierung von und für Migranten" zeigen, wie vielfältig sich die Bewegungslandschaft gestaltet. Dass dabei aus den Milieus heraus die Bildung eigener Identitäten auch auf Selbstveränderung zielen kann, belegen die selbstverwalteten Betriebe und die Kommunebewegung. Die beiden Beiträge zu "Dissidenten Gruppen" und der "Bürgerbewegung" in der DDR machen deutlich, wie das Thema "Bürgerrechte" unabhängig von den Entwicklungsbedingungen ein gemeinsames Motiv von Bewegungen in Ost und West war. Selbstverständlich werden auch aktuelle Themenfelder und ihre Netzwerke gewürdigt, so die globalisierungskritischen Kampagnen, die Proteste der Erwerbslosen und die Kampagnen gegen Gen- und Biotechnik.
Die Aufsätze folgen weitgehend einer einheitlichen Struktur: Einer Beschreibung der historischen Vorläufer und der Ausgangssituation schließen sich die "Entwicklungslinien der Bewegung" an. Ihre "Ideologie und Zielsetzung" werden ebenso untersucht wie die zugehörigen "Organisationen und Netzwerke" sowie die "Wirkungen und Perspektiven". Leider wurde nicht so viel Mühe auf die Illustrationen verwandt, und auch die weiterführenden Literaturhinweise sind etwas knapp gehalten, wofür allerdings ein umfangreiches Gesamt-Literaturverzeichnis teilweise entschädigt.
Die AutorInnen lassen sich glücklicherweise nicht von der vorgegebenen Form erdrücken, sondern bieten zum großen Teil neben Analyse auch breite Passagen dichter Beschreibung. Nun handelt es sich bei den "BeiträgerInnen" häufig um solche, die nicht nur über ihr Thema schreiben, sondern ihren Forschungsgegenstand auch gewissermaßen von innen kennen - wie etwa Andreas Buro die Friedensbewegung, Wolf-Dieter Narr die westdeutsche Bürgerrechtsbewegung oder Harald Rein die Sozialproteste im Zusammenhang mit der Agenda 2010.
Eine Chance zur Reflexion linker Bewegungsgeschichte
Konstitutive Merkmale sozialer Bewegungen sind - nach Roth/Rucht - "der Anspruch gesamtgesellschaftlicher Veränderung, der Netzwerkcharakter, die kollektive Identität und Protesthandlungen". Dies trifft nach ihrer Auffassung auch auf den Rechtsextremismus zu. Der Autor des Beitrags zum Thema, Thorsten Grumke, sieht dies als gerechtfertigt an u.a. durch die Entwicklung des Rechtsextremismus in den letzten Jahren: weg von der Dominanz der Parteien, hin zu netzwerkartigen Organisationsformen. Trotzdem wird dies manch eineN irritieren, weil z.B. der - gerade auch von den Herausgebern hervorgehobene - allen anderen Bewegungen gemeinsame Impuls zu Demokratisierungsprozessen nun gerade nicht das Anliegen der NeofaschistInnen ist.
Mag die Aufnahme des "Rechtsextremismus" irritieren, so ist auf der anderen Seite nicht nachvollziehbar, dass "die Antifa" nur im Beitrag über "Antiimperialismus und Autonomie" von Sebastian Haunss einen Platz findet. Zumindest im Westen der Republik stellt "Antifa" bis in die Kleinstädte hinein seit Jahren das aktivste Bewegungspotenzial dar und wirkt für jüngere Generationen "politisierend". Und die Proteste gegen Rechtsextremismus, Rassismus oder Geschichtsrevisionismus werden zudem ja zumeist auch in Bündnissen mit z.B. Gewerkschaften oder Verbänden wie der VVN/BdA organisiert. "Antifaschismus" ist unübersehbar ein eigenes Bewegungsfeld. Deshalb ist es schade, dass man darüber in jedem beliebigen Verfassungsschutzbericht mehr Seiten findet als in dem Handbuch.
Aus linksradikaler Perspektive ist das eine oder andere Detail ärgerlich - etwa wenn in einem Nebensatz behauptet wird, kommunistisch orientierte Gruppen hätten sich nach anfänglicher Distanz der Anti-Atomkraftbewegung angeschlossen, "um dort den erhofften Anschluss an die ,Massen` zu finden". Insgesamt aber besticht das Handbuch durch seine Genauigkeit sowie die nachvollziehbaren Einordnungen und Bewertungen. Für Studierende und JournalistInnen hat es einen Gebrauchswert, den keine schnelle "Googelei" bieten kann. Und für all jene, die einen nicht unwichtigen Teil ihres Lebens auf Plena und Demonstrationen verbracht haben und verbringen, bietet das Werk die Chance zur Reflexion der eigenen (Bewegungs-)Geschichte.
rr., Celle
Roland Roth, Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008, 770 Seiten, 49,90 EUR