Den Deckel heben
Gewerkschaften und Arbeiterautonomie im Pariser Mai/Juni 1968
Während die Überproduktion von Schriften und Pamphleten über die 1968er Jahre anhält, erscheinen ab und an einige lesenswerte und möglicherweise auch für die Zukunft wichtige Beiträge. So hat die Zeitschrift Wildcat als Beilage zu ihrer auch sonst lesenswerten Nr. 81 vom Mai/Juni 2008 eine ausführliche Analyse der Gruppe Mouvement Communiste über die ArbeiterInnenkämpfe des Mai/Juni 1968 in Frankreich übersetzt.
Die Broschüre enthält zunächst eine Darstellung der studentischen Proteste. Ausgehend von Protesten gegen die Schließung der ca. 15 Kilometer von der Pariser Innenstadt gelegenen Trabanten-Universität von Nanterre hatten diese sich zwischen dem 3. und dem 10. Mai 1968 zu einer Besetzung der traditionellen Innenstadt-Universität Sorbonne und zu den berühmten "Barrikadennächten" nach dem 10. Mai entwickelt. Die Regierungskrise, die diese Proteste auslösten, wurde durch den von den Gewerkschaften für den 13. Mai ausgerufenen symbolischen eintägigen Generalstreik zugespitzt. Im Anschluss entwickelten sich relativ unabhängig sowohl von der studentischen Bewegung und den Protesten an den Schulen als auch vom Wollen der französischen Gewerkschaften wilde Streiks.
In den von Mouvement Communiste als "erste Phase" der Arbeitskämpfe bezeichneten Zeit kam es in einigen Großbetrieben zu spektakulären Aktionen. Die Betriebe wurden besetzt, Direktoren und Manager der oft staatlichen Großbetriebe für etliche Tage in ihren Büros eingesperrt. Die Dynamik ging dabei oft von den jungen MassenarbeiterInnen aus. Am 17. Mai entschied sich die kommunistische Richtungsgewerkschaft CGT - damals noch größter französischer gewerkschaftlicher Dachverband mit ca. 2,5 Millionen Mitgliedern -, "den Deckel zu heben" und die Bewegung sowohl auszuweiten als auch unter ihre Kontrolle zu bringen.
"Barrikadennächte" an den Pariser Universitäten
Damit begann die "zweite Phase" der Kämpfe. In den Tagen nach dem 18. Mai entwickelte sich die größte Streikbewegung in der französischen und wohl auch in der europäischen Nachkriegsgeschichte, mit bis zu neun Millionen TeilnehmerInnen. Besonders in der ersten Woche war ganz Frankreich paralysiert, während die Besetzungen der Hochschulen, des staatlichen Fernsehsenders, einiger Rathäuser in der Provinz, der Telegrafenämter usw. anhielten.
Die Gewerkschaften traten zwar in Verhandlungen mit Unternehmern und Staat ein, aber das "Abkommen von Grenelle" (27. Mai), das eine Lohnerhöhung von ca. zehn Prozent, eine geringfügige Verbesserung des Mindestlohns und andere Verbesserungen brachte, wurde in den bestreikten Betrieben überwiegend abgelehnt. In den ersten beiden Juniwochen bemühte sich insbesondere die CGT, in einzelnen Betrieben und Branchen weitere Verbesserungen zu erreichen. Bis Mitte/Ende Juni wurde der Massenstreik auf diese Weise beendet.
In der Broschüre wird eindrucksvoll geschildert, wie sich diese Entwicklung im Detail darstellte, zunächst aus einer übergeordneten Perspektive, dann aus der Perspektive zweier damals unmittelbar Beteiligter. Eine Mystifizierung des "proletarischen Mai" wird überall vermieden: Die Streiks waren in der "ersten Phase" minoritär (deshalb aber keinesfalls bedeutungslos), in der "zweiten Phase" fast überall von der CGT dominiert. Eigenständige Organisationsformen entwickelten sich in der Hitze des Gefechts so gut wie nicht.
Eine Schlüsselbedeutung hatte die Wiederaufnahme der Arbeit bei der Bahn und der Post, die Mitte Juni durch weitere Zugeständnisse der staatlichen Arbeitgeber durchgesetzt wurde. In den "Erfahrungsberichten" wird der Blick auf die Ereignisse geschärft: Berichtet wird über die ebenso chaotische wie interessante Zeit des "Aktionskomitee Montreuil", das in einer Pariser Vorstadt zu einer selbstorganisierten und parteiunabhängigen Bewegung beitragen wollte, sowie über die Erfahrungen eines 25-jährigen Arbeiters in einem besetzten Elektrobetrieb in St. Denis, die vor allem deshalb eindrucksvoll sind, weil die "großen Ereignisse", die üblicherweise über den "Pariser Mai" kolportiert werden, hier nur im Hintergrund erscheinen, und, wenn überhaupt, von den Arbeitenden nur im Radio wahrgenommen wurden.
Es gab bis zu neun Millionen Streikende
Im Anhang des Heftes findet sich, neben einem instruktiven Glossar, eine zusammenfassende Bewertung der sehr begrenzten Versuche mit der Selbstverwaltung sowie eine hochinteressante Bewertung der Wirkung, die von den Arbeiter-Studierenden-Komitees ausging, die sich in der besetzten literaturwissenschaftlichen Fakultät von Paris-Censier trafen. Wie so viele andere Basisinitiativen in dieser Zeit war das dortige "Aktionskomitee der Arbeiter und StudentInnen" (CATE) zwar begrenzt und kurzlebig. Dennoch entfaltete es als organisierter Zusammenhang von ArbeiterInnen und linksradikalen Studierenden eine Modellwirkung für spätere ähnliche Interventionsversuche in anderen Ländern.
Am Ende der Broschüre fragt man sich zwar, worin etwa die "verpasste Gelegenheit der Autonomie", die der Titel zu beschreiben verspricht, eigentlich bestand. Zudem stimmt die Chronologie des Vorwortes nicht ganz mit der des übersetzten Textes überein. Aber ungeachtet dessen ist die Broschüre unbedingt lesenswert. Sie ist ein wichtiger Beitrag, der die vorhandenen wissenschaftlichen Texte (1) mehr als nur ergänzt.
Peter Birke
Mouvement Communiste: Der Mai/Juni 1968. Eine verpasste Gelegenheit der Arbeiterautonomie. Beilage zu Wildcat, Nr. 81, Mai/Juni 2008, 4 EUR
Anmerkung:
1) bspw. Michael Seidman: Imaginary Revolution. Parisien Students and Workers in 1968, Berghahn Books Oxford/New York 2004 oder auch Ingrid Gilcher-Holtey: Die Phantasie an die Macht. Mai `68 in Frankreich,Suhrkamp Frankfurt/Main 1995