Atomlobby in der Offensive
Längere AKW-Laufzeiten sollen die Energiekonzerne noch reicher machen
Die Atomlobby fährt derzeit eine gewaltige Kampagne, um die Verlängerung von AKW-Laufzeiten nach der nächsten Bundestagswahl durchzusetzen. Selbst wenn alle drei derzeit atomkritischen Parteien - SPD, Linke und Grüne - Stimmen dazugewinnen würden, wäre das Drängen auf Laufzeitverlängerungen nicht chancenlos. Eine rot-rot-grüne Regierungskoalition ist sehr unwahrscheinlich. Eher ist mit der Fortsetzung der großen Koalition zu rechnen. Auch die Dreierbündnisse Jamaika (Union, FDP und Grüne) oder Ampel (SPD, FDP und Grüne) sind möglich. Ob dann die Wahlkampfaussagen vom Festhalten am Status quo in der Atompolitik Bestand haben, ist letztlich abhängig von willkürlichen Deals am Verhandlungstisch.
Glaubt man den Lobbyisten, dann hilft Atomkraft gegen fast alle Übel dieser Welt: Sie rettet uns vor der Klimakatastrophe, sorgt für billige Strompreise und verhindert eine so genannte Stromlücke. Letzteres Argument gab es in den 1970er Jahren schon einmal: Ohne AKWs gehen die Lichter aus, hieß es damals. Alle drei Argumente lassen sich leicht widerlegen.
Wer alte Reaktoren länger laufen lassen will, verhindert den zügigen Umbau hin zu einem klimaschonenden Energiesystem. So sind die Leitungen, durch die derzeit noch Atomstrom aus Brunsbüttel fließt, schon fest für die Energie aus Windparks in der Nordsee eingeplant. Läuft der Schrottmeiler an der Unterelbe länger, dann fehlen Leitungskapazitäten für den Windstrom.
Die Strompreise und die Milliardengewinne der Konzerne steigen seit Jahren, obwohl der versprochene Atomausstieg nicht vorankommt. Klar ist Strom aus abgeschriebenen Altreaktoren billig in der Herstellung, aber verkauft wird er nach Preisen, die an der Strombörse ermittelt werden und für saftige Margen bei E.on, Vattenfall und Co. sorgen.
Auch die Stromlücke ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil: Jahr für Jahr wird mehr Strom ins Ausland exportiert. Obwohl im letzten Jahr bis zu sieben der 17 hiesigen Reaktoren wegen Baumängeln und Störfällen vom Netz genommen waren, wurde weiterhin Strom ins Ausland verkauft.
Trotzdem verfängt die Propaganda bei einem Teil der Bevölkerung; die Umfragen in Sachen Atomkraft ergeben nicht mehr so eindeutig Mehrheiten für einen Ausstieg wie in den Jahren nach Tschernobyl. Für die AKW-Betreiber geht es um viel. Jedes Alt-AKW bringt einen jährlichen Gewinn von 300 Millionen Euro. Da lohnt sich der Kampf. Und er wird den Atomstromern leicht gemacht, da der so genannte Atomkonsens zwischen rot-grüner Bundesregierung und den Konzernen viele Schlupflöcher lässt.
Die ganze Absurdität dieses Vertrags wird derzeit sichtbar: Eigentlich wären in dieser Legislaturperiode vier Atomkraftwerke abgeschaltet worden: Biblis A und B, Neckarwestheim 1 und Brunsbüttel. Die im Jahr 2000 vereinbarten Reststrommengen gingen zur Neige, und die Anträge der Betreiber auf Laufzeitverlängerung wurden vom Bundesumweltminister abgelehnt. Und trotzdem geht wohl vor der Bundestagwahl kein Reaktor vom Netz. Dies liegt kurioserweise daran, dass die betroffenen AKWs so störanfällig sind.
Denn im Atomkonsens wurden keine zeitlichen Fristen bis zum Abschalten der Meiler festgelegt, sondern Strommengen, die pro Kraftwerk noch produziert werden dürfen. Und wenn ein Reaktor stillsteht, dann produziert er keinen Strom und sein Rest-Kontingent bleibt erhalten. In Biblis mussten über ein Jahr lang falsch montierte Dübel erneuert werden. In Brunsbüttel hat es gebrannt, und seit Monaten wird eine ellenlange Mängelliste zumindest teilweise abgearbeitet. Da geht viel Zeit ins Land. Wenn die AKWs dann wieder ans Netz gehen, wie in Biblis inzwischen geschehen, dann reicht die Reststrommenge plötzlich für einen Betrieb über den Wahltermin 2009 hinaus. Und das AKW Neckarwestheim 1 wird seit Monaten nur noch mit halber Leistung gefahren, um den Betriebszeitraum zu strecken.
Elf Jahre werden bei der nächsten Bundestagswahl vergangen sein, seit die rot-grüne Regierung 1998 angetreten ist, um den Atomausstieg zu organisieren. Elf Jahre, in denen mit Obrigheim und Stade nur die beiden kleinsten Reaktoren abgeschaltet wurden. Die 17 Großanlagen strahlen weiter um die Wette. Damit erscheinen die Schlagzeilen nach den Koalitionsverhandlungen der Großen Koalition 2005 in einem ganz neuen Licht, als überall zu lesen war "SPD setzt sich durch: Es bleibt beim Atomausstieg". Pustekuchen! Seit einem Jahrzehnt gibt es in diesem Land offiziell eine Ausstiegspolitik, nur ausgestiegen wurde bisher nicht. Für die AKW-Betreiber ist das eine relativ komfortable Situation, haben sie sich doch ihre Zustimmung zum angeblichen Ausstieg mit einer Menge Zugeständnissen seitens der damaligen Bundesregierung abkaufen lassen.
Jetzt hoffen die Stromkonzerne darauf, dass sie mit ihrer derzeitigen Kampagne nach der Wahl 2009 eine Verlängerung der Laufzeiten für die immer älter werdenden Reaktoren durchsetzen können. Denn nach dem Reststrommengen-Modell würden in der nächsten Legislaturperiode sieben Reaktoren vom Netz gehen. Zu den bereits genannten in Biblis A und B, Neckarwestheim und Brunsbüttel kommen dann noch Philippsburg 1, Ohu 1 und Esenshamm hinzu.
Es ist also davon auszugehen, dass der große politische Kampf um die Laufzeiten im Bundestagswahlkampf 2009 erst richtig losgeht und dann nach der Wahl noch heftiger wird. Bei einer schwarz-gelben Mehrheit ist relativ sicher mit dem Versuch zu rechnen, die Laufzeitenregelung aufzuweichen. Die Atomlobby wird aber auch nichts unversucht lassen, um die SozialdemokratInnen von ihrer derzeit relativ klaren Anti-Atom-Haltung abzubringen.
Für eine Renaissance der Anti-AKW-Bewegung!
Doch auch die Gegenwehr organisiert sich. Für den 8. November ist im direkten Vorfeld des nächsten Castor-Transports eine bundesweite Anti-Atom-Demonstration in Gorleben geplant. Viele Menschen, die einen wesentlichen Teil ihrer politischen Sozialisation in der Anti-AKW-Bewegung genossen haben - sei es auf den Bauplätzen in den 1970er Jahren, nach Tschernobyl in den 1980ern oder bei den Castor-Transporten ab Mitte der 1990er Jahre - sehen durch das drohende Revival der Atomkraft vieles von dem bedroht, was sie sich als Ergebnis ihres Engagements erhofft haben: Der von ihnen eigentlich abgelehnte Atomkonsens könnte vielleicht doch noch dazu führen, dass nach und nach die AKWs abgeschaltet werden. Entsprechend steigt bei vielen die Bereitschaft, wieder auf die Straße zu gehen. Den Spiegel-Titel von Anfang Juli, auf dem die Anti-Atom-Sonne untergeht, haben viele als persönliche Provokation aufgefasst.
Eine Renaissance der Anti-AKW-Bewegung ist nötig und erscheint möglich. Derzeit wird die anschwellende Atomdebatte in den Medien nur zwischen ParteipolitikerInnen geführt. So kämpferisch sich Sigmar Gabriel, Jürgen Trittin und Renate Künast auch gegen Laufzeitverlängerungen aussprechen - dass sie nach der Wahl umfallen, lässt sich nur verhindern, wenn es gelingt, die Bewegung wieder als eigenständigen Akteur zu positionieren. Als einen Akteur, der jetzt schon Stimmung macht, die gesellschaftliche Debatte mitbestimmt und schließlich in der entscheidenden Phase der Koalitionsgespräche Ende nächsten Jahres kraftvoll Druck machen kann.
Jochen Stay