Ist Europa mehr als Schengen?
Mit der Europäischen Union (EU) ist es wie bei der Geschichte mit dem Hasen und dem Igel. Der langbeinige und windige Hase kann noch so schnell rennen - der Igel ist immer schon im Ziel, ist immer schon da. Es gibt wohl keinen Politikbereich, der nicht von Entscheidungen aus Brüssel geprägt ist oder nicht europäischen "Spielregeln" gehorcht. Die EU ist immer schon da, auch in den Nischen des Alltagslebens.
Ungeklärt blieb bisher, wo über die europäische Dimension von Politik und ihre Auswirkungen auf unser alltägliches Leben diskutiert werden kann. Europa ist zwar alltäglich präsent, wenn auch nicht immer sichtbar, aber die Entscheidungsprozesse sind nicht transparent und selbst nach bürgerlich-liberalen Vorstellungen alles andere als demokratisch und partizipativ. Wenn man von den EU-Eliten nach einem Referendum gesagt bekommt, man habe falsch abgestimmt, dann wundert es nicht, dass diese Eliten und ihr Projekt EU ein Legitimationsproblem haben. Das zeigte sich zuletzt nach der Ablehnung des EU-Vertrages in Irland, als die politische Klasse mit diesem eigentlich vorhersehbaren Ergebnis völlig überfordert war. Ein Legitimationsproblem ist noch keine Krise. Und dennoch: Die politischen Kanäle der Legitimationsbeschaffung und der Kanalisierung des politischen Willens scheinen verstopft. Die Hegemonie des neoliberalen Projekts EU wird brüchig. Ein Gegenprojekt - gar ein emanzipatorisches - ist jedoch nicht in Sicht.
Linker Widerstand gestaltet sich schwierig. Will man nicht wie der Hase bei den Gebrüder Grimm vor Erschöpfung tot zusammenbrechen, gilt es nach linken Strategien gegen und in dieser EU zu fragen. Deren Politik umfasst mehr als das, was unter dem Stichwort "Schengen" seit Jahren Gegenstand von Kritik und Protest ist: die europäische Abschottungspolitik mit ihren tödlichen Folgen.
Was die EU und die europäische Integration ausmacht, ist hoch ambivalent. Die Ablehnung des europäischen Prozesses ist oft alles andere als emanzipatorisch. Die spontane Aversion gegen die "Herren aus Brüssel" erschöpft sich häufig in kleinbürgerlichem Ressentiment. Die Abneigung gegen die EU-Bürokratie ist getragen von einem inzwischen tief verankerten neoliberalen Alltagsverstand. Die spontane und grundsätzliche Ablehnung ist meist von einem reaktionären Nationalismus geprägt, während der positive Bezug auf die EU sich oft als Ressentiment gegen die USA gebärdet.
Und dennoch: Die Erzählung der EU als politisches Projekt ist erschöpft, die bisher hegemoniale Vorstellung von europäischer Integration zerbröselt, und der ideologische und politische Kitt ist noch lange nicht gefunden. Ein günstiger Zeitpunkt also, um einmal grundsätzlich über die europäische Integration zu streiten, darüber, was eine linke Perspektive jenseits des Nationalstaates sein könnte. Was will die Linke mit Europa, und was ist ihre Vorstellung von einem linken europäischen Projekt?
Das Thema Seite 13-16